Verkehrspolitik: Die Schneise zwischen Bahn und See

Nr. 11 –

Biels Autoverkehr ist hausgemacht – weniger als zwanzig Prozent gehen aufs Konto des Transits. Trotzdem plant der Bund «zur Entlastung» ein Stück Autobahn quer durch die Stadt. Doch immer mehr BielerInnen wehren sich.

Hier sollen 250 Bäume fallen: Sascha Weibel (links) und Thomas Zahnd vom Komitee «Westast so nicht!» beim geplanten Halbanschluss Seevorstadt im Westen Biels.

«Von welcher Partei sind Sie? Ich werde Sie nicht wählen!» Am Ende des Spaziergangs wird es laut. Ein Mann um die fünfzig kontert den Bieler Stadtparlamentarier Roland Gurtner, der gerade ein Plädoyer für den Westast, die geplante Autobahn durch Biel, gehalten hat. «Impeccable», einwandfrei, sei diese Autobahn. Gurtner gehört der Kleinpartei Passerelle an, die sich auch für ökologische Anliegen einsetzt. Doch für ihn ist klar: «Die Autobahn ist eine Chance. Wenn wir die Begleitmassnahmen richtig umsetzen, macht sie die Stadt attraktiver.»

Den aufgebrachten Anwohner kann er nicht überzeugen: «Mein Haus wird abgerissen! Wären Sie auch dafür, wenn es Ihnen so ginge?» – «Das ist Ihr individuelles Interesse», meint Gurtner. Ihm gehe es ums Gesamtinteresse. «Die Autobahn kommt auf jeden Fall. Ihr vom Komitee täuscht die Leute, wenn ihr behauptet, man könne jetzt noch etwas daran ändern.» Das Komitee, das etwas ändern will, heisst «Westast so nicht!». Im November 2015 gegründet, hat es inzwischen 1200 Mitglieder. «Für Biel ist das viel», sagt Mitgründer und Verkehrsraumplaner Thomas Zahnd. «Und fast täglich kommen neue dazu.»

«Lange wehrte sich fast niemand, weil das Projekt noch weit weg schien», sagt Sabine Brenner von «Westast so nicht!», die als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Bundesverwaltung arbeitet. «Jetzt gibts Widerstand, weil es greifbarer geworden ist.» Im April soll das Baugesuch veröffentlicht werden, das das kantonale Tiefbauamt ans Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) stellt. Dann können Umweltverbände und betroffene AnwohnerInnen Einsprache erheben.

Teuerste Autobahn der Schweiz

Die Bieler Autobahn ist eine unendliche Geschichte – so unendlich, dass das Berner Tiefbauamt die hundertseitige Projektgeschichte «N5 im Raum Biel» verfassen liess. 1960 legte das damals noch rein männliche Schweizer Parlament mit dem «Netzbeschluss» das Autobahnnetz samt Bieler Autobahn fest. 49 Jahre und mehrere Fehlplanungen später prüfte eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des damaligen Bieler Stadtpräsidenten Hans Stöckli (SP) verschiedene Varianten und propagierte einen grösstenteils unterirdischen Westast. 2014 segnete ihn der Bundesrat ab. Der Ostast, der die Stadt im Norden und Osten umfährt und in die Jura-Autobahn mündet, ist bereits im Bau und soll im Herbst dieses Jahres eröffnet werden. Der Westast hingegen wäre frühestens 2035 fertig. Er soll vom Brüggmoos im Osten am Bahnhof vorbei an den See führen und in Vingelz in die bestehende Nationalstrasse einmünden. Technisch sind die Herausforderungen gewaltig: Das ehemalige Delta am See ist ein grosses Grundwasserbecken; die alten Häuser stehen hier auf Pfählen. Beeindruckend sind auch die Kosten: «Ein Kilometer kostet 700 Millionen Franken, viermal mehr als ein Kilometer zweite Gotthardröhre», sagt Thomas Zahnd. «Das wird die teuerste Autobahn, die je in der Schweiz gebaut wurde.»

Schon mehr als zwanzig Stadtwanderungen hat «Westast so nicht!» seit März 2016 organisiert. Inspiriert vom Soziologen Lucius Burckhardt (1925–2003), dem Erfinder der «Spaziergangswissenschaft», spaziert das Komitee dort, wo die Autobahn einst durchführen soll: Wer im Raum unterwegs ist, nimmt ihn ganz anders wahr, als wer nur darüber liest. An einem hellen, windigen Märzsonntag treffen sich zwei Dutzend Leute bei der Talstation der Magglingenbahn. Thomas Zahnd leitet zusammen mit Filmemacher Sascha Weibel den Spaziergang. Er beginnt beim sogenannten Krautkuchen, einer Mischung aus Park und Parkplatz. Davor bohrt sich der Bahndamm in den Jurahang.

Der geplante Anschluss Bienne Centre: Zuunterst die Autobahn, auf der mittleren Ebene die Ein- und Ausfahrten, oben die alte Strasse. Bild: Tiefbauamt des Kantons Bern, Mathys Partner

«Hier kommt der Halbanschluss Seevorstadt hin, ein 260 Meter langes, 25 bis 55 Meter breites und 10 Meter tiefes Loch», erklärt Thomas Zahnd. «Ihm fallen etwa 250 Bäume zum Opfer. Rund ums Loch ist ein Park geplant, aber viel Platz ist da nicht.»

Der Halbanschluss bedroht gleich zwei geschützte «Objekte»: die Allee der Seevorstadt, einen historischen Verkehrsweg von nationaler Bedeutung, und das Naturschutzgebiet Felseck am Hang. «Eine seltene Trockensteppe, eine Perle der Biodiversität», sagt der grüne Stadtparlamentarier Urs Känzig. «Es gab eine zweite beim Taubenloch, die wegen der Jura-Autobahn zerstört wurde. Auch bei diesem Tunnel wird es Steinschlagschutznetze brauchen. Ob sich Vipern und Gottesanbeterinnen dann noch wohlfühlen?» Die Häuser zwischen Seevorstadt und Hang werden abgerissen, dafür ist neben der Magglingenbahn ein Parkhaus geplant.

Auf der anderen Seite des Bahndamms öffnet sich der Blick, 250 Meter weiter vorne glitzert der See. Weite Rasenflächen, links das Gymnasium, rechts der Pedaloverleih. Trotz gelegentlichem Bahnlärm ein schöner Ort, doch hier werden zehn bis fünfzehn Jahre lang Maschinen und Baracken stehen. «Das gibt eine enorme Anzahl Lastwagenfahrten», sagt Thomas Zahnd. «Allein für den Abtransport des Schutts werden es 80 000 bis 90 000 sein.» Laut dem Umweltverträglichkeitsbericht, der noch nicht veröffentlicht ist, aber der WOZ vorliegt, rechnet der Kanton für den gesamten Westast mit 660 000 Lastwagenfahrten.

Weiter geht es Richtung Bahnhof. Durch ein Quartier, das keine Zukunft hat: Die Autobahn kommt hier zwar in den Boden, aber wird im Tagebau erstellt. Das Maschinenmuseum Centre Muller muss genauso verschwinden wie das alternative Wohnprojekt LaBiu, die einst eleganten Wohnhäuser von 1902 an der Badhausstrasse und das ehemalige Schlachthaus mit den hohen Bogenfenstern und der Uhr, die um 15.32 Uhr stehen geblieben ist. Eigentlich ein erhaltenswertes Stück Industriekultur, doch es ist wohl kein Zufall, dass hier in der Schneise nichts unter Schutz steht. Die wilde Bieler Mischung aus Wohnbau, gewerblich genutzten Hinterhöfen, verschiedenen Epochen und Stilen wirkt hier noch ein bisschen weiter weg von der üblichen Deutschschweizer Sauberkeit und Ordnung, weil seit Jahren nicht mehr investiert wird. Im Ganzen sollen dem Westast 71 Gebäude aller Grössen zum Opfer fallen.

Bei der Salzhausstrasse, gleich hinter dem Bahnhof, der Höhepunkt der Wanderung: Hier soll der Vollanschluss Bienne Centre gebaut werden. Dreistöckig, zuunterst die Autobahn, flankiert von Auffahrten zu einem Kreisel mit fünfzig Metern Durchmesser – grösser als in Bern Wankdorf –, zuoberst die heutige Strasse. Seit den schweren Unfällen im Gotthard- und im Mont-Blanc-Tunnel um die Jahrtausendwende plant das Bundesamt für Strassen (Astra) alle Autobahnanschlüsse offen. Darum droht hinter dem Bahnhof Biel eine 18 Meter tiefe, 45 Meter breite und 270 Meter lange Schneise – «die ganze Altstadt von Nidau hätte darin Platz», sagt Zahnd. Sieben bis neun Jahre wird der Bau dauern. Während dieser Zeit ist die Salzhausstrasse gesperrt, der ganze Verkehr Richtung Nidau fliesst durch die Quartiere.

Der Spaziergang endet bei den Sportplätzen an der Bielstrasse in Nidau. Dahinter liegt das dichte Wohnblockquartier Weidteile, das heute vom Verkehr der Bernstrasse zugelärmt wird. Hier verspricht der Autobahnbau Verbesserungen: Der Westast würde die Bernstrasse ersetzen, eingepackt in einen Kasten, der stellenweise viereinhalb Meter aus dem Boden ragt. «Ja, die Weidteile würden entlastet – und damit würden vermutlich die Mieten steigen», sagt Thomas Zahnd. «Aber dafür wächst die Belastung anderswo, auf der Murtenstrasse zum Beispiel von 12 000 auf 16 000 Fahrzeuge pro Tag. Die neuen Anschlüsse pumpen Verkehr in die Stadt.»

Das Komitee gibt sich konstruktiv: «Wir akzeptieren, dass es wegen des Netzbeschlusses einen Westast braucht», sagt Sabine Brenner. «Aber wir fordern einen direkten Tunnel vom Brüggmoos nach Vingelz – ohne Anschlüsse.»

Nicht einmal zwanzig Prozent des Bieler Verkehrs sind Transitverkehr: Diese Tatsache ist das wohl überzeugendste Argument von «Westast so nicht!». Wie soll eine Autobahn da Entlastung bringen? «Es würde nur funktionieren, wenn die Leute auch für den Innerortsverkehr die Autobahn benützten», sagt Brenner. «Dafür müsste man Strassen in der Innenstadt sperren – davon ist aber nicht die Rede.» Das Bieler Verkehrsproblem sei hausgemacht, betont Thomas Zahnd: «Das Besondere an Biel ist, dass es hier eine Verkehrsspitze am Mittag gibt: Viele Leute fahren heim zum Essen – und sind auf dem Weg besonders gereizt, weil sie Hunger haben.» – «Das hängt direkt mit dem Überangebot an Parkplätzen zusammen», ergänzt Sabine Brenner. «Die Leute wissen, dass sie keinen Parkplatz suchen müssen, weil sie einen gemietet haben.»

Die Geografin und grüne Grossrätin Daphné Rüfenacht engagiert sich im Komitee. «Biel hat gerade den Gegenvorschlag zur Städteinitiative von Umverkehr angenommen, müsste also massiv in den Langsamverkehr investieren – stattdessen plant die Stadt Autobahnanschlüsse.» Biel habe wenig sichere Velowege, darum werde auch wenig Velo gefahren, obwohl Biel topografisch eine ideale Velostadt wäre. Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs ist klar höher als in Bern oder Basel. «Nur einige Prozent mehr Veloverkehr würden einen Teil der Bieler Verkehrsprobleme lösen», sagt die Grossrätin.

Noch etwas macht Rüfenacht skeptisch: «Der Bund verlangt beim Autobahnbau flankierende Massnahmen, um den Verkehr auf die Autobahnen zu lenken. Der Ostast wird im Herbst eröffnet, und der Gemeinderat hat noch nicht einmal erklärt, welche Massnahmen er dafür plant. Dabei wären sie das A und O für die Entlastung der Stadt.»

Querelen in der SP

Während sich die Bieler Grünen bereits kritisch zum Westast geäussert haben, ist die SP noch gespalten. Fraktionspräsidentin Dana Augsburger-Brom sagt: «Manche befürworten die Autobahn samt den geplanten Anschlüssen – teils aus Loyalität zu SP-Exponenten, die bei der Planung eine wichtige Rolle gespielt haben. Andere – darunter ich – halten die Anschlüsse für einen Fehler. Logischerweise würden sie in der Innenstadt zu Mehrverkehr statt zu einer Entlastung führen.» Die drei Bieler SP-Sektionen hätten kürzlich nach einer langen Diskussion konsultativ abgestimmt. Mit überraschend klarem Resultat: 26 zu 7 Stimmen für «Westast so nicht!». «Der linke Flügel und die Jungen gaben den Ausschlag», sagt Augsburger-Brom. Für die Bieler SP ist es nur eine Querele mehr: Der Stadtpräsident Erich Fehr gehört zum rechten Parteiflügel und brachte vor zwei Jahren mit seinen Sparplänen die eigene Basis gegen sich auf (siehe WOZ Nr. 26/2015 ). Beim umstrittenen Bauprojekt «Agglolac» ist man sich ebenfalls nicht einig, und kürzlich kündigten auch noch die welschen SP-StadtparlamentarierInnen an, eine eigene Fraktion gründen zu wollen.

Im Januar haben Biel und Nidau ein Mitwirkungsverfahren gestartet. Eine Ausstellung und ein Bericht lobten die «städtebauliche Begleitplanung» zum Westast. «Eine PR-Offensive, um möglichst viele Leute positiv auf die Autobahn einzustimmen», kritisiert Sabine Brenner. Bis 10. März konnten Organisationen und Einzelpersonen zum Westast Stellung nehmen – aber die Details werden erst im Frühling bekannt, wenn das Projekt aufliegt. Anfang März hat der Bundesrat eine Interpellation der Berner SP-Nationalrätin Evi Allemann beantwortet. Das Schreiben klingt genervt: Der Bund habe bereits fünfzig Millionen an Planung und Projektierung bezahlt und sei «nicht mehr bereit, die Ausarbeitung von alternativen Varianten finanziell zu unterstützen».

Als lokaler Verein darf «Westast so nicht!» keine Einsprache gegen das Baugesuch machen. Aber das Komitee wird Betroffene und Umweltverbände beim Verfassen ihrer Einsprachen unterstützen. Thomas Zahnd ist zuversichtlich: «Je mehr Einsprachen es gibt, desto länger dauert alles. Das Astra wird nicht auf ewig Geld reservieren.»

Nachtrag vom 21. September 2017: Strasse gegen Strasse

1960 plante das Schweizer Parlament – noch ohne Frauen – das Autobahnnetz. Dazu gehörte auch eine Autobahn quer durch Biel. Diese soll nun gebaut werden – ohne Rücksicht auf Verluste, neue Erkenntnisse und den Pariser Klimavertrag. Dem sogenannten Westast müssten Hunderte von Bäumen und fast hundert Häuser geopfert werden, der Bau würde fünfzehn Jahre lang Lärm und Gestank bringen, danach würde eine Autobahnschneise direkt hinter dem Bahnhof die Stadt vom See abschneiden. Entlastung würde der Westast kaum bringen: Nur zwanzig Prozent des Bieler Verkehrs ist Transit.

Immer mehr BielerInnen wehren sich gegen das absurde Projekt. Jetzt geht es auf die Strasse: Der neue Verein «Biel wird laut» ruft zu einer Demonstration am Samstag, dem 23. September, auf.

Am gleichen Wochenende beginnt in Basel das Klimacamp zur Vorbereitung der «Climate Games». Das Ziel ist, Aktionen zu organisieren, die «auf spielerische Weise auf den Klimawandel aufmerksam machen». Ausserdem bietet das Camp eine Menge spannender Debatten.

Bettina Dyttrich

Nachtrag vom 14. Februar 2019: Bieler Stadtautobahn

Eine offene Schneise mitten durch die Stadt: Das würde den BielerInnen blühen, käme es zum Bau des «Westasts», eines Teils der A5-Umfahrung Biel-Bienne. Geht es nach dem Bund und der Berner Kantonsregierung, soll damit eine der letzten Lücken im Schweizer Autobahnnetz geschlossen werden.

Der Widerstand gegen das Zweimilliardenprojekt, dem rund 100 Häuser und 745 Bäume geopfert würden, ist immer breiter und lauter geworden – mehrere Tausend Personen nahmen zuletzt an vom Verein «Biel wird laut!» organisierten Demos teil. Nun können sie einen ersten Teilerfolg verzeichnen: Die vom Kanton einberufene Dialoggruppe mit VertreterInnen der Städte Biel und Nidau sowie von 25 Organisationen für und gegen das Projekt soll bis Juni 2020 Zeit haben, eine «breit abgestützte» Lösung zu finden.

Letzte Woche hat sich die Gruppe erstmals getroffen. Solange dieser Dialog läuft, soll das Ausführungsprojekt nicht weiter vorangetrieben werden. Catherine Duttweiler vom Komitee «Westast so nicht!» beurteilt die Aufnahme eines solchen Prozesses grundsätzlich als «sehr positiv». Wichtig sei nun aber, dass «saubere Spielregeln als Grundlage für einen fairen und transparenten Entscheidungsprozess» geschaffen würden. Noch seien viele Punkte unklar. Die zwölf gegnerischen Gruppen haben bis zum 1.  März eine Frist für Rückmeldungen zum Vorgehen. Gelingt es, sich auf die Rahmenbedingungen zu einigen, sollte im März auch dem Antrag auf eine Sistierung des Plangenehmigungsverfahrens beim Umweltdepartement (Uvek), wie ihn der Kanton signalisiert hat, nichts im Weg stehen. Eine Sistierung hat neben den Westast-GegnerInnen auch schon der Bieler Gemeinderat gefordert, nachdem eine repräsentative Umfrage des «Bieler Tagblatts» ergeben hatte, dass nur ein Fünftel der Bevölkerung in Biel und Agglomeration hinter dem offiziellen Projekt steht.

Adrian Riklin