Verkehrspolitik: Eine Autobahn? Ein tolles Quartier?

Nr. 7 –

Eine grosse Landreserve mitten in St. Gallen soll zum Bauplatz für den fünften städtischen Autobahnanschluss werden. Dabei könnte man mit diesem Land viel Besseres anfangen.

Blick vom St. Galler Güterbahnhofareal Richtung Norden: Neben dem weissen Haus mit dem Türmli käme die Autobahnausfahrt aus dem Boden.

«Für Automenschen ist St. Gallen der Horror», sagt Martin Boesch. «Die Stadt ist rund zehn Kilometer lang, schmal wie eine Bratwurst, links und rechts hats Hügel, und auf den Rosenberg kann man nicht ausweichen, dort sind die Reichen. Der ganze Verkehr muss irgendwie durchs Tal.»

Boesch ist Raumplaner, Unidozent und SP-Gemeindeparlamentarier, und er versucht gerade, das neuste Projekt der Automenschen zu verhindern: eine Autobahnausfahrt am Rand des Güterbahnhofareals, wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt. Die SP hat eine städtische Initiative gegen diese Ausfahrt lanciert, die am 28. Februar zur Abstimmung kommt. Die Vorlage polarisiert, an diversen Podien wird gestritten. Es geht um Grundsätzliches: die Frage, welchen Stellenwert das Auto haben soll.

Hausgemachte Überlastung

In den achtziger Jahren, dem Jahrzehnt, als die Autopartei Erfolge feierte, glaubten sie die Lösung für das enge St. Galler Hochtal gefunden zu haben: 1987 wurde die Stadtautobahn eröffnet. Sie verläuft zu einem grossen Teil im Tunnel durch den Rosenberg, im Osten der Stadt kommt sie allerdings an die Oberfläche – eine brutale Schneise mitten durch das Quartier St. Fiden.

Die Autobahn entlastete zwar die Hauptstrassen – für eine Weile –, doch an den Anschlüssen entstanden neue Probleme: Nur 15 Prozent der StadtautobahnbenutzerInnen sind auf der Durchreise. Die anderen 85 Prozent fahren auf einem der vier städtischen Anschlüsse rein oder raus oder beides. Abends, wenn die AutopendlerInnen von Zürich her zurückkommen, stauen sich die Autos an der zentralen Ausfahrt Kreuzbleiche bis in den Tunnel hinein.

Abhilfe sollen nun zwei Projekte bringen. Einerseits eine dritte Röhre durch den Rosenberg, andererseits die «Teilspange»: ein Tunnel von der Autobahn zum Güterbahnhofareal mit einem unterirdischen Kreisel, einer Ausfahrt Güterbahnhof und einem weiteren Tunnel Richtung Appenzell Ausserrhoden.

Damit wollen die Automenschen gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn ein Teil der Autoschlange, die die Autobahn bei der Kreuzbleiche verlässt, wälzt sich die Teufenerstrasse hoch, die, wie der Name schon sagt, nach Teufen führt, also nach Ausserrhoden. Die «Teilspange» soll nicht nur die Autobahnausfahrt entlasten, sondern auch die Quartiere rund um die Teufenerstrasse. Ausserrhoden erhielte also einen Autobahnanschluss – und das vielleicht sogar gratis, denn er läge grösstenteils auf St. Galler Kantonsgebiet. Ob sich der Nachbarkanton an den Kosten beteiligen würde, ist unklar – «Ausserrhoden möchte lieber einen Anschluss weiter im Westen, von Herisau nach Gossau», betont Martin Boesch.

Ressentiments gegen AusserrhoderInnen wären eine verlockende Strategie, um die Abstimmung zu gewinnen. Schliesslich sind viele in der Stadt nicht gut auf die «Steuerflüchtlinge» in Teufen und Umgebung zu sprechen – darunter die Exbanker Konrad Hummler und Pierin Vincenz –, die dort oben sonnig wohnen und doch wie StadtbewohnerInnen von St. Gallens Angeboten profitieren. Doch die SP hält sich zurück, will nicht in die populistische Kerbe schlagen.

Wie viele Fahrzeuge fahren von Teufen her Richtung Rosenbergtunnel? Diese Frage stellte der EVP-Gemeinderat Markus Knaus vor gut einem Jahr der Stadtregierung. Die Antwort ist brisant: Nur elf bis vierzehn Prozent der AutofahrerInnen, die auf der Teufenerstrasse in die Stadt kommen, wollen auf die Autobahn Richtung Westen. «Die anderen kämen dann hier wieder raus», sagt Martin Boesch. Wir stehen bei der St. Leonhardsbrücke, die über die Bahngleise führt und morgens und abends mit Autos verstopft ist. Fünfspurig und 22 Meter breit ist sie – die Automenschen hätten sie gern siebenspurig und 33 Meter breit gebaut. Die «Teilspange» würde die Brücke also kaum entlasten. Und die Rampe, die die Autos vom unterirdischen Kreisel her hier ausspucken soll, würde die Zufahrt zum Güterbahnhofareal versperren. Zu jenem Areal also, um das es den InitiantInnen eigentlich geht: Es ist eine der letzten grossen zentralen Landreserven in öffentlicher Hand.

Was hier möglich wäre …

Das Güterbahnhofareal ist keine Brache. In den alten SBB-Gebäuden tanzen am Wochenende Jugendliche im Club Kugl, unter der Woche flicken Erwerbslose Velos, Rangierarbeiter essen Zmittag, es wird mit Autos und Papier gehandelt, die SBB-Feuerwehr wartet auf Einsätze. Trotzdem wirkt das Gelände provisorisch, in der Warteschlaufe, und das ist es auch. Im Schotter zwischen den Parkplätzen wachsen Büsche und wilde Blumen, am Hang darüber weiden Gänse neben verwilderten Gärten. Ein Veloweg führt nach Westen, der Blick schweift in die Weite, man kann die Sonne untergehen und Regenfronten kommen sehen.

«Hier soll ein ökologisches und soziales Quartier entstehen – jetzt, nicht erst in dreissig Jahren», sagt Martin Boesch. Da der unterirdische Kreisel und die Ausfahrt im Tagebau gebaut würden, also ein langes, tiefes Loch gebuddelt würde, wäre eine Überbauung über Jahrzehnte blockiert. Und noch eine Gefahr gibt es: «Eine unterirdische Lösung wird auf jeden Fall teurer als eine oberirdische», sagt Evelyne Angehrn, Vizepräsidentin der städtischen SP. «Da die Finanzierung noch nicht genau geklärt ist, besteht durchaus das Risiko, dass man am Schluss wieder auf eine oberirdische Variante zurückkommt.»

Noch gehört das Areal dem Kanton. Aber die Stadt besitzt Land östlich der Altstadt, auf dem der Kanton gerne die Erweiterung der Universität bauen würde. Ein Landabtausch bietet sich an.

Verstehen die St. GallerInnen, was hier möglich wäre? Ein städtisches Quartier, autofrei, fünf Minuten zu Fuss vom Bahnhof, Wohnen und Arbeiten vernetzt, Kinderhort und Altenpflege integriert, mit einem Quartierkühlraum für Lebensmittel direkt von Höfen aus der Region, mit Sauna und Schwimmbecken auf dem Dach, wilden Ecken und Gemüsebeeten, Quartiercafé und öffentlicher Reparaturwerkstatt? Eine Blockrandbebauung mit einem grossen grünen Innenhof? Oder drei elegante Hochhäuser mit Sonnenuntergangsblick, der Rest des Areals frei? Auf öffentlichem Boden müsste die Bebauung auch keine Rendite abwerfen.

«Das wäre schön», sagt Martin Boesch. «Aber ich war acht Jahre in der Liegenschaftskommission. Die erste Frage war immer: Wie ist die Rendite?» Klar, meint Boesch, die Stadt könnte einen Teil ihrer Liegenschaften als nicht rentabel definieren. «Aber das will fast niemand. Das ist eine bürgerliche Stadt, vergessen Sie das nicht.»

Er hat recht: St. Gallen ist keine gute Stadt, um über Sachzwänge hinauszudenken. Das wird auch an einem der Podien zur Abstimmung klar. Dieses ist vom «St. Galler Tagblatt» organisiert worden – das Publikum erscheint zahlreich, wohl auch angelockt von den offerierten Bratwürsten. Der Tenor der Bürgerlichen auf dem Podium ist klar: Dass der Verkehr immer weiter zunimmt, ist ein Naturgesetz. Die wirklichen Naturgesetze, die ihm dabei in die Quere kommen – der Klimawandel, die begrenzten Ölvorräte – gehen vergessen, auch die anwesenden SozialdemokratInnen und Grünen erwähnen sie kaum.

«Stellen Sie sich vor, alle Autos, die heute auf der Stadtautobahn sind, würden durch die Innenstadt fahren – unmöglich!», ruft Stadtpräsident Thomas Scheitlin (FDP). Natürlich ist das unmöglich – wer in der Innenstadt permanent im Stau stünde, käme vielleicht auf die Idee, intelligentere Verkehrsmittel zu benutzen.

Aber hier steht die Stadt schlecht da: Der Anteil des motorisierten Individualverkehrs liegt bei 38 Prozent, ein Spitzenplatz unter den sechs grössten Deutschschweizer Städten. Nur ein Drittel der Haushalte ist autofrei – in Bern, Basel und Zürich sind es die Hälfte oder mehr. St. Gallen hat auch am meisten Strassenkilometer pro Quadratkilometer und gemeinsam mit Luzern am meisten Autos pro tausend EinwohnerInnen.

Die Kosten kommen später

Gemeinden können nicht über Nationalstrassen abstimmen, das ist auch in St. Gallen so. Die Güterbahnhofinitiative kann den Autobahnanschluss nicht direkt verhindern, sie verlangt nur von der Stadt, sich für einen Verzicht einzusetzen. Das wäre dennoch, wie die Bürgerlichen befürchten und die InitiantInnen hoffen, «ein deutliches Zeichen nach Bern».

Durch den Untergrund (grosse Ansicht der Karte). Karte: WOZ

Aber auch falls die Initiative abgelehnt wird, kommt die «Teilspange» nicht unbedingt. Denn der Bund wird sie im Gegensatz zur dritten Rosenbergtunnelröhre kaum allein finanzieren. Kanton und Stadt werden sich beteiligen müssen. Es wird also weitere Abstimmungen geben. «Und je konkreter es wird», weiss Martin Boesch, «desto eher sind die Leute dagegen.»