Justiz: Und plötzlich kommt alles ans Licht
Die St. Galler Strafverfolgungsbehörden gingen eine Zeit lang mit besonders harter Hand gegen Fussballfans vor. Dabei sollen sie sich auch auf Falschaussagen gestützt haben. Die Geschichte eines zu Unrecht beschuldigten jungen Fans.
«Also ich glaub nöd, dass öppert usezoge wird, wo eifach nüt macht.»
Richter Andreas Schmid, anlässlich der Hauptverhandlung gegen Patrick Berger am 31. Januar 2013
18 509 ZuschauerInnen sahen am vergangenen Samstagabend im Stadion des FC St. Gallen, wie der FC Basel mit 3 : 0 gegen den Gastgeber gewann. Seit knapp vier Jahren waren nicht mehr so viele ZuschauerInnen gekommen, aber einer fehlte: Patrick Berger ist schon lange nicht mehr nach St. Gallen gefahren, und er sagt, so schnell werde er da auch nicht wieder hinreisen.
Das letzte Mal fuhr er am 25. August 2012 in die Ostschweiz, einem Samstagabend. Der damals gerade volljährig gewordene Basler wollte sich das Fussballspiel ansehen und wäre noch am gleichen Abend wieder zurückgefahren. Aber so weit kam es nicht: Als er vor dem Drehkreuz zum Stadioneingang stand, gab es um ihn herum einen Tumult, und ehe er sich versah, wurde er im Würgegriff abgeführt. «Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort», sagt Berger rückblickend. Und in seinem Fall ist das viel mehr als eine blosse Redensart.
Berger heisst in Wirklichkeit anders, seinen richtigen Namen will er nicht in der Zeitung lesen, denn er will wegen dieser Geschichte nicht noch mehr Ärger. «Ich wurde gepackt, weggezerrt, von der Polizei verhaftet und danach im Schnellverfahren abgeurteilt.» Stadionverbot, Rayonverbot, ein Eintrag in der Hooligandatenbank waren die Folge. Und das alles, weil ein Securitas-Mitarbeiter Berger beschuldigte, ihn bei der Eingangskontrolle gegen das Schienbein und zwischen die Beine getreten zu haben. Der Einsatzleiter bestätigte die Aussagen, er habe alles beobachtet.
Heute ist klar, dass das falsche Anschuldigungen waren, aber damals verstand Berger die Welt nicht mehr. Er stritt alles ab und bat sogar darum, mit dem Sicherheitsmann reden zu können, weil er eine Verwechslung vermutete. Aber die Aussagen zweier Sicherheitskräfte gegen die eines jungen Fussballfans? Die Staatsanwaltschaft fackelte nicht lange und stellte Berger im Schnellverfahren einen Strafbefehl aus: Tätlichkeit und Landfriedensbruch.
Berger wehrte sich. Denn er war unschuldig.
Das verschwundene Video
Vor allem aber war er sicher, dass es einen Beweis für seine Unschuld geben musste: die Videoaufnahmen vom Stadioneingang. Die Staatsanwaltschaft behauptete zwar steif und fest, es gebe keine entsprechenden Aufnahmen, doch Berger beharrte darauf. Als die Staatsanwältin ihn am Montag nach zwei Nächten in Untersuchungshaft befragte, sagte der gerade achtzehnjährige Berger laut Untersuchungsakten selbstsicher: «Es sollte auf Video sein, das sollte kein Problem für mich sein.»
Tatsächlich wurde Berger im Januar 2013 aufgrund der Videoaufnahmen freigesprochen, die auf wundersame Weise doch noch aufgetaucht waren. Aber damit war der Fall längst nicht abgeschlossen. Warum hatten die Sicherheitsleute Berger falsch beschuldigt? Und weshalb hatte die Staatsanwaltschaft während des ganzen Verfahrens mehrfach und fälschlicherweise behauptet, dass keine Videoaufnahmen existierten?
Patrick Berger konnte damals nicht wissen, was er auslösen würde, als er Einsicht in die Videoaufnahmen verlangte. Erst heute, fast fünf Jahre später, kommt Stück für Stück ans Licht, was im Verfahren gegen ihn falsch lief, wer wen deckte und welche Folgen die Nulltoleranzpolitik der St. Galler Strafverfolgungsbehörden hatte. Einiges deutet sogar darauf hin, dass es die Gesetzeshüter in diesem Klima der Repression mit den Gesetzen selber nicht immer so genau nahmen.
Falschaussagen erwünscht?
Donnerstag, 30. März 2017, St. Gallen: Der 37-jährige ehemalige Sicherheitsmann T. steht wegen zahlreicher Straftaten vor Gericht. Die Anklageschrift listet unter anderem Tätlichkeiten, Fahren im angetrunkenen Zustand, schwere Körperverletzungen und sexuelle Nötigung auf. Insgesamt werden ihm achtzehn Straftaten vorgeworfen. Angesichts dessen gehört die Falschaussage, mit der er vor beinahe fünf Jahren einen Basler Fussballfan belastete, noch zu den leichteren Vergehen.
T. wurde bereits mehrfach zu den Ereignissen am 25. August 2012 befragt: von der Polizei, von der Staatsanwaltschaft, später auch im Gericht anlässlich der Verhandlung gegen Patrick Berger. Immer blieb T. bei der Aussage, Berger habe ihn getreten, da sei er sich sicher. Selbst als die Videoaufnahmen zeigten, dass Berger T. gar nicht getreten haben konnte, weil er sich an einem anderen Ort befand, wich er nicht davon ab. Sein damaliger Vorgesetzter deckte ihn und bestätigte diese Version bei allen Gelegenheiten.
Nun aber fragt ihn die Richterin noch einmal, ob Berger diese Tätlichkeiten verübt habe, und T. sagt zum allerersten Mal: «Nein.» Warum er Berger denn falsch beschuldigt habe, will die Richterin wissen. Nach langem Schweigen sagt T., der heute nicht mehr für die Securitas arbeitet, er habe sich damals beeinflussen lassen, er sei dazu gedrängt worden. «Das kam vom Chef her, von der Einsatzleitung, von der Firma. Obwohl ich dort von Anfang an gesagt habe, dass es nicht so war.»
Das Urteil gegen T. steht noch aus. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung. Aber sein Geständnis ist erstaunlich, weil den Aussagen von Sicherheitsleuten in Strafverfahren stets viel Glaubwürdigkeit beigemessen wurde. Eine Quelle aus Sicherheitskreisen, die aus Angst vor Repressalien anonym bleiben möchte, bestätigt gegenüber der WOZ die Aussagen von T. und führt aus, dass die Falschaussagen im Fall von Patrick Berger kein Einzelfall seien.
Es sei damals gängige Praxis gewesen, Unruhestifter hart ranzunehmen. Dabei sei man teilweise sehr weit gegangen und habe Dinge bezeugt, die man gar nicht gesehen hatte. Ziel sei gewesen, bei jedem Spiel Leute zu packen. «Die Stadionbetreiber wollten das, die Sicherheitsfirmen wollten das, die Polizei wollte das, die Staatsanwaltschaft wollte das – das war damals die gewünschte Politik: Man wollte nicht nur mehr Verurteilungen, man wollte ein Exempel statuieren: In der Ostschweiz wollte man Chaoten verbannen und dingfest machen. Also hat die Polizei zum Beispiel einen Fussballfan gepackt und dem Sicherheitsmann gesagt: Du hast übrigens gesehen, dass der dies und das getan hat, also etwa tätlich geworden sei.» Der Insider sagt, ihm seien fünf bis sieben Fälle persönlich bekannt, in denen falsche Aussagen von Polizei und Sicherheitsangestellten getätigt worden seien. «Die Polizei tat damals, was die Staatsanwaltschaft wollte. Da wurde nie hinterfragt, ob etwas stimmt oder nicht. Wenn ein Polizist etwas sagte, dann war das auch so.»
Die St. Galler Staatsanwaltschaft weist die Vorwürfe von sich. Der Erste Staatsanwalt Thomas Hansjakob sagt, es sei nie von ihm gewünscht gewesen, Exempel zu statuieren. «Mir ging es darum, die steigende Gewalt bei Fussballspielen zu bekämpfen, indem Straftäter möglichst identifiziert und schnell mit Strafbefehl bestraft werden.» Er habe nie Anweisungen zu bestimmten Aussagen gegeben. Er habe auch «nicht das geringste Interesse», Vorfälle zu bestrafen, die nicht stattgefunden hätten.
Der Kanton als Repressionslabor
Die St. Galler Staatsanwaltschaft unter der Leitung von Thomas Hansjakob steht seit langem im Ruf, bei der Verbrechensbekämpfung innovative Wege zu gehen. Der Kanton gilt deshalb als regelrechtes Repressionslabor. Hansjakob machte schweizweit Schlagzeilen, als er in den nuller Jahren massiv gegen Hanfshops vorging. Danach knöpfte er sich mit Scheinkäufen sogenannte Chügelidealer vor. Und dann führte er in St. Gallen Schnellverfahren gegen randalierende Fussballfans ein. Der WOZ sagte er 2010 in einem Interview über die damals neue Strategie der Strafverfolger, Schnellverfahren seien «nicht weniger genau», sie seien «bloss viel effizienter». «Leute, die eingebracht werden, hat man vorher zwischen dreissig Sekunden und zwei Minuten lang beobachtet. Bei jedem Zugriff habe ich mindestens einen Beamten, der mir genau sagen kann, was die Person gemacht hat.»
So schien es auch im August 2012, als Berger das Stadion betreten wollte. Aber sein Schnellverfahren war nicht effizienter als andere, sondern bloss viel weniger genau. Und so kam es zu mehreren, zum Teil gravierenden Fehlern, die angesichts der Aussagen aus Sicherheitskreisen ein schräges Licht auf die Arbeit der StrafverfolgerInnen werfen.
Erstens: Patrick Berger wurde an einem Samstagabend verhaftet. Erst am Montag wurde er aus der Untersuchungshaft entlassen – ein damals in St. Gallen übliches Vorgehen, das dazu führte, dass auch Firmenchefs von allfälligen Straftaten ihrer Angestellten erfuhren. Die Staatsanwaltschaft drückte Berger bei der Entlassung auch gleich den Strafbefehl in die Hand. Allerdings waren zu diesem Zeitpunkt die Securitas-Mitarbeiter noch gar nicht einvernommen worden. Erst am Dienstag, also einen Tag nach der Verurteilung, nahm die Kantonspolizei die belastenden Aussagen der Sicherheitskräfte auf.
Zweitens: Während des ganzen Verfahrens behauptete die Staatsanwaltschaft mehrfach, es seien keine Videoaufnahmen vorhanden, «die das strafrechtlich relevante Verhalten von Berger dokumentieren könnten». Dies, obwohl Bergers Anwältin mehrfach Einsicht in das Videomaterial verlangte. Erst auf Anordnung des Gerichts tauchten die entlastenden Videoaufnahmen am Tag vor der Gerichtsverhandlung auf. Die St. Galler Staatsanwaltschaft erklärt, die Bilder seien ihr nicht vorgelegen, weil die Polizei trotz mehrfacher Sichtung nicht darauf gestossen sei. Sobald die Bilder aufgetaucht seien, habe man sie dem Gericht zur Verfügung gestellt.
Drittens: Als Berger Ende Januar 2013 freigesprochen wurde, meldete der Erste Staatsanwalt Thomas Hansjakob sogleich Berufung an. Erst wollte er aber die Videos sehen und die beiden Securitas-Angestellten anhören. Gegenüber dem «St. Galler Tagblatt» liess die Staatsanwaltschaft durchblicken, dass man auch gegen die Sicherheitsangestellten ermitteln werde, sollten sich ihre Aussagen als falsch herausstellen. Schliesslich handelte es sich um ein Offizialdelikt, das von Amtes wegen verfolgt werden müsste. Doch nach der Einvernahme im April teilte Hansjakob dem Gericht lediglich mit, dass er den Freispruch akzeptiere. Insbesondere Herr T., liess er das Gericht wissen, mache dabei Aussagen, «die sich auf den Filmaufnahmen nicht genau nachvollziehen lassen, die aber auch nicht offensichtlich falsch ist (sic!)». Es müsse deshalb offenbleiben, ob eine Tätlichkeit begangen wurde.
Dass die Staatsanwaltschaft danach nicht von sich aus ermittelte, führt sie heute auf ein «Missverständnis» zwischen zwei StaatsanwältInnen zurück. Beide seien davon ausgegangen, dass sich der jeweils andere darum kümmere. So blieb die Sache ein Jahr lang liegen, bis schliesslich Bergers Anwältin Manuela Schiller Strafanzeige gegen die Securitas-Mitarbeiter erstattete. Erst dann bewegte sich die sonst doch so effiziente St. Galler Staatsanwaltschaft. Erst dann kam die Aufklärung im Fall von Patrick Berger ins Rollen.
Für Bergers Anwältin Schiller ist es bezeichnend, dass die Staatsanwaltschaft erst auf ihren Antrag hin handelte. «Die Staatsanwaltschaft misst hier nicht mit gleichen Ellen. Bei Fussballfans gibt man sich schon mit scheinbaren Resultaten zufrieden, aber bei Sicherheitsangestellten wird alles zu ihren Gunsten ausgelegt.»
In St. Gallen ist man seit 2014 weitgehend von der konfrontativen Strategie abgewichen und setzt auf «good hosting», auf Deeskalation. Angereiste Gästefans werden zurückhaltend empfangen, die Eingreiftruppe der Delta-Security gar nicht erst aufgeboten, die Sicherheitskräfte verzichten auf Ganzkörper- und Intimkontrollen und machen lediglich sporadisch Taschenkontrollen. Die Folge: weniger Ausschreitungen.
Patrick Berger sagt heute, er habe zwischendurch schon den Eindruck gehabt, dass er einem eingespielten System ausgeliefert sei – vom Securitas-Angestellten bis hin zur Staatsanwältin hätten alle so gewirkt, als wüssten sie sehr genau, was sie taten. Und in diesem Moment habe er auch ein Stück weit das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren. «Trotzdem», sagt Berger, «habe ich nie daran gezweifelt, dass die Wahrheit ans Licht kommt.»
Nachtrag vom 20. April 2017 : Gefängnis für Ex-Securitas-Angestellten
Das Kreisgericht St. Gallen hat am vergangenen Donnerstag einen ehemaligen Sicherheitsangestellten der Firma Securitas zu 36 Monaten Freiheitsstrafe und 360 Tagessätzen Geldstrafe verurteilt. Der 37-jährige Mann muss zwölf Monate ins Gefängnis, der Rest der Haftstrafe wurde auf Bewährung bei einer Probezeit von fünf Jahren ausgesprochen. Das Gericht befand ihn zahlreicher Gewaltdelikte schuldig, die von einfachen Tätlichkeiten über versuchte schwere Körperverletzung bis hin zu sexueller Nötigung gingen.
Der ehemalige Securitas-Angestellte war wegen insgesamt achtzehn Straftaten von der St. Galler Staatsanwaltschaft angeklagt worden. Dazu gehörte auch der Vorwurf der Falschaussage und des falschen Zeugnisses.
Der Exsicherheitsmann hatte im Sommer des Jahres 2012 einen Basler Fussballfan fälschlich beschuldigt, ihn bei der Eingangskontrolle ans Schienbein und zwischen die Beine getreten zu haben. Der zum damaligen Zeitpunkt achtzehnjährige Basler hatte ein Fussballspiel zwischen dem FC Basel und dem FC St. Gallen sehen wollen. Stattdessen wurde er bei der Eingangskontrolle herausgezogen, festgenommen und der Tätlichkeit sowie des Landfriedensbruchs beschuldigt.
Was dann geschah, ist ein Paradebeispiel dafür, wie im Repressionslabor St. Gallen unter der Führung des leitenden Staatsanwalts Thomas Hansjakob eine Zeit lang nur das wahr sein konnte, was wahr sein durfte. Der nun verurteilte Exsicherheitsmann beschuldigte den Fussballfan bewusst falsch (auf Druck von oben, wie er vor Gericht sagte), sein Vorgesetzter deckte die Falschaussage mit ebenso falschem Zeugnis (er wurde im Sommer 2016 verurteilt), die Staatsanwältin wischte die Unschuldsbeteuerungen des Baslers leichtfertig weg, die Polizei behauptete monatelang wahrheitswidrig, es gebe keine Videobilder vom Vorfall. Erst vor Gericht kam das entlastende Videomaterial dank der Hartnäckigkeit des Baslers und seiner Anwältin doch noch zum Vorschein.
Das Urteil des Kreisgerichts ist noch nicht rechtskräftig.
Carlos Hanimann