Trödelnde Staatsanwaltschaften: Ein Freipass für Gewalttäter

Nr. 7 –

In Schweizer Asylzentren attackieren immer wieder Sicherheitsleute Asylsuchende. Kommt es zu Strafverfahren, versanden diese meist.

Sicherheitspersonal im Aussenbereich des Bundesasylzentrum Boudry
Schläge, Folter, illegale Inhaftierungen: Sechs Minderjährige erstatteten Anzeige gegen das Sicherheitspersonal im Bundesasylzentrum Boudry (Aufnahme von 2018). Foto: Keystone

Z. ist schwierig zu erreichen, selbst für seinen Rechtsanwalt, zu prekär ist seine Lebenssituation. Doch kürzlich spürten ihn marokkanische Polizist:innen auf. Sie kamen im Auftrag einer fernen Behörde, der baselstädtischen Staatsanwaltschaft nämlich, die Aussagen von Z. zu einem Gewaltvorfall im Bundesasylzentrum Bässlergut haben wollte. In Basel soll Z. von Mitarbeitern des Sicherheitsdiensts Securitas vor über vier Jahren brutal zusammengeschlagen worden sein. Der Spitalbericht dokumentierte damals einen Kieferbruch, ein Schädelhirntrauma, Verletzungen an Händen und Augen, im Gesicht, am Gebiss.

Nun endlich sollte er die Täter identifizieren. Doch Z. war ratlos, als ihm die Polizist:innen die Fotos der Securitas-Leute vorlegten: Sie waren in derart schlechter Auflösung übermittelt worden, dass er gar niemanden erkennen konnte. Es ist der neuste Ermittlungsfehler in einem Verfahren, das nur als skandalös bezeichnet werden kann, aber das typisch ist, wenn Staatsanwaltschaften gewalttätige Übergriffe gegen Geflüchtete in Schweizer Asylzentren aufklären müssen.

Denn solche Fälle gab es reichlich. Um die Zeit des Übergriffs gegen Z. in Basel häuften sich Berichte über Gewalt gegen Asylsuchende, die von Angestellten von Sicherheitsfirmen wie Securitas oder Protectas ausgeübt worden war. Die WOZ veröffentlichte im Verbund mit SRF und RTS 2020 und 2021 aufsehenerregende Recherchen zu brutalen Vorfällen und Vertuschungsversuchen. Das zuständige Staatssekretariat für Migration (SEM) kam derart unter Druck, dass es eine externe Untersuchung beim früheren SP-Bundesrichter Niklaus Oberholzer in Auftrag gab.

Am Schluss seines Berichts, in dem er einige Fälle untersuchte und einige andere wegliess, gab Oberholzer Entwarnung: Ein Muster, das auf eine systematische Missachtung der Rechte von Asylsuchenden hindeute, lasse sich nicht erkennen. Und die eingeleiteten Strafuntersuchungen würden beweisen, «dass der Rechtsschutz bei tatsächlicher oder vermeintlicher Gewaltanwendung in Asylzentren des Bundes funktioniert».

Videoüberwachung nicht ausgewertet

Vier Jahre später zeigt sich ein ganz anderes Bild. Die WOZ hat ein Dutzend Verfahren aus den letzten Jahren ausgewertet, in denen gegen Sicherheitsangestellte ermittelt wurde oder noch wird. Das Fazit: Die allermeisten Fälle verschwanden in den Schubladen der Staatsanwaltschaften. Sie wurden eingestellt, sistiert, vertrödelt. Von einem funktionierenden Rechtsschutz kann keine Rede sein.

Im Fall von Z. musste das Appellationsgericht die Basler Staatsanwaltschaft gleich zweimal auffordern, endlich an die Arbeit zu gehen. Einer der mutmasslichen Täter wurde bis heute nicht einvernommen, der andere erst vor kurzem. Ihn hatte Z. schon kurz nach der Tat identifiziert, mittlerweile macht der Mann Erinnerungslücken geltend. Die Videoüberwachung hat die Staatsanwaltschaft nie ausgewertet, stattdessen stellt sie auf sogenannte Journaleinträge ab, die von den Beschuldigten selber verfasst worden sind.

Nach eineinhalb Jahren angeblicher Ermittlungsarbeit gab die Staatsanwaltschaft an, immer noch keine Beschuldigten identifiziert zu haben. Sie verweigerte deshalb die Akteneinsicht. Als Z.’s Anwalt Markus Husmann die Unterlagen später auf gerichtlichem Weg erstritten hatte, stellte er fest, dass die Bezeichnung «Beschuldigter» in den Akten von Hand mit «Verdächtiger» überschrieben worden war, was als Begriff in der Strafprozessordnung gar nicht vorkommt. «So etwas habe ich noch nie erlebt», sagt er.

Husmann befürchtet, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren aussitzen will: «Man hat die nötigen Ermittlungshandlungen unterlassen, als man sie hätte machen müssen. Heute sind die Erinnerungen der Beteiligten zunehmend verblasst, sodass den jeweiligen Aussagen vermutlich ein weitaus geringerer Beweiswert zukommt.»

Ein Ausstandsgesuch, die Höchststrafe für die Staatsanwaltschaft, wies das Appellationsgericht nur knapp ab: Die Verfahrensfehler seien «nicht besonders krass» und «nicht ungewöhnlich häufig», ausserdem würden sie sich auf verschiedene Köpfe verteilen. Die Behörde hatte die Untersuchung intern immer wieder herumgeschoben, mittlerweile sitzt der dritte Staatsanwalt daran. Während die Ermittler:innen Däumchen drehten, wurde Z., dessen Asylgesuch abgelehnt worden war, nach Marokko ausgeschafft. Strafverteidiger Husmann ist perplex: «Ich erachte es als singulär, dass ein Verfahren derart verschleppt worden ist.»

Über Stunden geschlagen

Ähnliche Erfahrungen machte Rechtsanwalt Marcel Bosonnet, der zwei Geflüchtete vertrat, die in Altstätten SG von Securitas-Mitarbeitern misshandelt worden sein sollen. «Das waren ganz ‹trümmlige› Verfahren», erinnert sich Bosonnet. Die Untersuchung im Fall von B. hat die Staatsanwaltschaft sistiert, weil B. mittlerweile die Schweiz verlassen hat. B. hatte, ausgelöst durch Schläge, einen schweren epileptischen Anfall erlitten.

Dieselben Securitas-Schläger waren mutmasslich auch für die Übergriffe gegen D. verantwortlich. Der damals minderjährige D. soll während der Pandemie wegen eines Verstosses gegen die Maskenpflicht schwer misshandelt worden sein. Er musste eine Nacht in einer Sicherheitsschleuse verbringen und soll über Stunden immer wieder geschlagen worden sein. «Die fehlende Rechtfertigung und die Unverhältnismässigkeit der Gewaltanwendung sind offensichtlich», hielt sogar der sonst eher behördenfreundlich argumentierende Altrichter Oberholzer fest. Die im Kinderspital diagnostizierten Verletzungen stünden in keinem Verhältnis zum Fehlverhalten des minderjährigen Asylsuchenden.

Trotzdem hat die Staatsanwaltschaft das Verfahren mittlerweile eingestellt. Mehrere Jahre hatte sie laut Bosonnet gar keine Untersuchungshandlungen vorgenommen. Nach einer erfolgreichen Beschwerde wegen Rechtsverzögerung am Kantonsgericht holte sie dann plötzlich ein Gutachten ein, das Zweifel am Ursprung der Verletzungen säte. Überwachungsvideos gebe es angeblich keine, was Bosonnet als unglaubwürdig erachtet. Und ein wichtiger Zeuge wurde, trotz mehrfacher Aufforderung Bosonnets, nie befragt: Ein im Zentrum angestellter Sozialpädagoge hatte den verletzten D. am nächsten Tag in sehr schlechtem Zustand aufgefunden und ins Spital gebracht. «Die Strafverfolgungsbehörde zeigte Desinteresse an der Wahrheitsfindung», sagt Bosonnet. Er hätte gegen den Entscheid gerne Beschwerde eingelegt, doch sein Mandant habe sämtliches Vertrauen in den Schweizer Rechtsstaat verloren.

Nur selten landen die Gewaltfälle überhaupt vor Gericht. Beim Fall eines Geflüchteten aus dem Iran, der Anfang 2020 im zürcherischen Embrach der drastischen Gewalt eines Sicherheitsmanns ausgesetzt war und einen Kieferbruch erlitten hatte, zwang das Obergericht die Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben, nachdem diese das Verfahren schon sistiert hatte. «Der Staatsanwalt zeigte von Beginn weg wenig bis keinen Strafverfolgungswillen», sagt Anwalt Benedikt Homberger. In seinem bloss fünf Minuten dauernden Plädoyer erklärte der Staatsanwalt dann vor Gericht, er wisse auch nicht genau, was wirklich passiert sei, aber nach dem Grundsatz in dubio pro duriore müsse er halt anklagen. Der Sicherheitsmann wurde folglich in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten – freigesprochen. Für den Rekurs verlangte das Obergericht einen ungewöhnlich hohen Kostenvorschuss von 12 000 Franken – eine Summe, die der iranische Geflüchtete nicht aufbringen konnte.

Mehr Arbeitseifer zeigte die Behörde bei der Gegenanzeige, die oft kommt, wenn sich Asylsuchende wehren. So wurde dem Mann ein Strafbefehl wegen Gewalt und Drohung gegen Beamte ausgestellt. Vor Bundesgericht wurde der Iraner freigesprochen.

Rapporte gefälscht

Noch seltener als Anklagen sind Verurteilungen von gewalttätigem Sicherheitspersonal: Der WOZ sind solche nur aus dem Fallkomplex Boudry bekannt. Dort war der öffentliche Druck allerdings beträchtlich. Zuvor hatte RTS Aufnahmen veröffentlicht, die einen halb nackten Asylsuchenden in einem ungeheizten Bestrafungscontainer zeigten, der aufgrund der Kälte einen Zusammenbruch erlitt. Später im Spital wurde eine Körpertemperatur von unter 34 Grad gemessen. Dazu konnten WOZ und SRF-«Rundschau» aufgrund versehentlich aufgezeichneter Gespräche beweisen, dass die Sicherheitsangestellten des Neuenburger Asylzentrums ihre Rapporte gefälscht hatten. Erst danach machte sich die Staatsanwaltschaft an die Arbeit.

Alicia Giraudel hat für Amnesty International viele der Verfahren untersucht, in die private Sicherheitsangestellte involviert sind. Die Juristin sagt, es gebe auffällige Parallelen zwischen den Fällen. Verfahren würden systematisch verzögert, die Aussagen der beschuldigten Sicherheitsleute grundsätzlich als glaubwürdig angesehen, jene der Opfer fast immer infrage gestellt. «Alle Strafverteidiger:innen, mit denen ich gesprochen habe, sagen das Gleiche: dass sie einen derartig geringen Ermittlungseifer nur dann antreffen, wenn die Opfer Asylsuchende sind.»

Daran hat sich über die Jahre nichts geändert. Am 30. Januar dieses Jahres findet sich der achtzehnjährige S. in Yverdons-les-Bains in einem Befragungsraum der Staatsanwaltschaft Waadt Nord zur Einvernahme wieder. Ihm gegenüber sitzen der Staatsanwalt und die Anwälte von fünf Protectas-Mitarbeitern. Im März 2023 sollen diese ihn in Les Rochats, einer Militärkaserne, die seit 2014 als Durchgangszentrum dient, nach einer Auseinandersetzung geschlagen, eingesperrt und dann aus dem Asylzentrum verwiesen haben. Es ist kein Einzelfall. In den letzten zwei Jahren soll es in Les Rochats mehrfach zu Gewalt und illegalen Inhaftierungen gekommen sein. Insgesamt sechs unbegleitete Minderjährige aus Afghanistan haben Anzeige erstattet.

Die Befragung von S., so schildert es dessen Anwalt Mladen Naskovic, sei unangemessen gewesen: «Die Fragen, die bei diesem Verhör gestellt wurden, zielten eher darauf ab, den Jugendlichen zu destabilisieren, als zur Wahrheitsfindung beizutragen.» Ausserdem verlor der Staatsanwalt bald das Interesse an den Schilderungen des minderjährigen Geflüchteten. Laut Protokoll fragte er: «Haben Sie die Sicherheitsangestellten provoziert?» Es gebe Aussagen, dass er geschrien und getobt habe. «Haben Sie kein Verständnis, dass man Sie rausgeschickt hat, um sich zu beruhigen?» Beim Rauswurf habe man ihm zugerufen, er solle in sein Land zurück. S. lief eine Weile durch die umliegenden Wälder, in der Nacht kehrte er um: «Ich habe das Recht, hier zu sein.»

Erst auf mehrere Beschwerden Naskovics hin eröffnete der Staatsanwalt nach einem Jahr eine Untersuchung im Fall von S. Nun, am 3. Februar, nur vier Tage nach der Einvernahme, kündigte er an, das Verfahren bereits wieder einstellen zu wollen. Naskovic sagt, er könne das mangelnde Interesse der Strafverfolgungsbehörden am vorliegenden Fall nur schwer verstehen.

Weder die Waadtländer noch die St. Galler noch die Basler Staatsanwaltschaft wollen sich zu den jeweiligen Fällen äussern. Dafür gibt Philip Jaffé eine Einschätzung ab. Der Schweizer Psychologe sitzt im Uno-Kinderrechtskomitee. Er hat die Vorfälle in Les Rochats analysiert und taxiert sie als «besorgniserregend». Würden sie als Beschwerden vor dem Komitee landen, hätten sie eine gute Chance, gewürdigt zu werden. Jaffé sagt, das Beschwerdesystem im Asylwesen sei schief – zulasten der Teenager ausgelegt. Die Schieflage würde sich in den Strafverfahren gegen die Sicherheitsleute fortsetzen, wo die Aussagen der Geflüchteten, egal wie glaubwürdig, grundsätzlich infrage gestellt würden. Es entstehe, so das Fazit von Jaffé, der Eindruck allgemeiner Straflosigkeit.