Nanopartikel in Lebensmitteln: Wie gefährlich ist E171?

Nr. 14 –

Die Forschung setzt sich erst seit kurzem mit der Frage auseinander, was Nanopartikel, die wir mit dem Essen aufnehmen, im Körper so alles anstellen können. Erste Resultate werfen mehr Fragen auf, als sie Antworten geben.

Kaugummis und süsse Osterleckereien: Alles mit feinem Titandioxid. Foto: Florian Bachmann

«Schaden Kaugummis der Darmflora?» titelte das «Deutsche Ärzteblatt», bekannt für fundierte Fachinformationen, im Februar. Im Fokus der Kritik: E171, ein Lebensmittelzusatzstoff aus Titandioxid (TiO2), der in den allermeisten Kaugummis vorkommt und seit über fünfzig Jahren zugelassen ist. Erst Mitte 2016 hat ihn die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) erneut für unbedenklich erklärt. Seither sind mehrere Studien erschienen, die das anzweifeln. Und zwar aufgrund der in E171 enthaltenen Nanopartikel.

Dabei gilt E171 offiziell gar nicht als Nanomaterial, weil nur maximal ein Drittel der darin enthaltenen TiO2-Partikel kleiner als 100 Nanometer sind. Und erst ab dieser Grösse verändert ein Material seine Eigenschaften. Titandioxid, das natürlicherweise weiss ist, wird im Nanobereich durchsichtig, weshalb es in vielen Sonnencremes und Kosmetika zum Einsatz kommt. E171 hingegen ist weiss und als weisser Farbstoff für Lebensmittel zugelassen. Von den Kaugummis abgesehen, findet sich E171 in weiteren Süssigkeiten, in Nahrungsergänzungsmitteln und in Zahnpasta. Wo liegt also das Problem?

Der Darm – die Terra incognita

Titandioxid ist das in Konsumartikeln am häufigsten verwendete Nanomaterial und deshalb in den Fokus der Risikoforschung gerückt. 2011 stufte es die Weltgesundheitsorganisation als «möglicherweise krebserregend» ein, weil es in Nanoform in der Lunge – also wenn man es einatmet – ähnlich wie Asbest wirken kann. «Die Risikoforschung hat sich bislang aber noch kaum damit auseinandergesetzt, was nach einer oralen Aufnahme von Nanopartikeln im Körper geschieht», sagt Peter Gehr. Der Leiter des NFP 64 zu Chancen und Risiken von Nanomaterialien präsentiert am Erscheinungstag dieser WOZ die Schlussresultate des Nationalen Forschungsprogramms.

Einzelne Studien in Zellkulturen wie auch Fütterungsstudien an Mäusen und Ratten haben in den letzten Jahren Hinweise darauf geliefert, dass Titandioxid-Nanopartikel in bestimmten Zellen Entzündungsreaktionen hervorrufen, vom Magen-Darm-Trakt absorbiert und via Blutkreislauf in verschiedene Organe im Körper verteilt werden können. «Aber wir haben keine Ahnung, was es bedeutet, wenn diese Nanopartikel in Organe eindringen und sich dort anreichern», sagt Gehr. Vor allem der Verdauungstrakt sei eine Terra incognita. «Erst jetzt erscheinen erste Untersuchungen in Zellkulturen.»

So hat Veterinärmediziner Hanspeter Nägeli im Rahmen des NFP 64 ein In-vitro-Testsystem entwickelt, das die Interaktion von Nanopartikeln mit dem Darm untersucht. Er hat getestet, wie dendritische Zellen, die als Erste mit Fremdstoffen im Darm in Kontakt kommen, auf Nanopartikel aus der Lebensmittelindustrie reagieren: Titandioxid, Eisenphosphat, Silikat. Während das Testsystem nicht auf Titandioxid reagierte, sandte es beim Silikat klare Entzündungssignale aus. «Wenn das passiert», sagt Gehr, «wenn die Zellen nicht einfach mit einer akuten Abwehrreaktion auf den Fremdstoff reagieren, sondern sogenannte Inflammasome aktivieren, sollte man der Sache dringend weiter nachgehen.»

Pikant an Nägelis Resultat ist auch, dass es sich bei Silikat um ein seit über fünfzig Jahren in der Lebensmittelindustrie verwendetes Antiklumpmittel handelt – für Streuwürze wie Aromat etwa. Es galt bislang als völlig harmlos. «Unsere Studie bräuchte dringend eine Nachfolgestudie, die weiter untersucht, wie sich Nanopartikel auf das Immunsystem des Darms auswirken», sagt auch Nägeli. Er ist wenig zuversichtlich: «Als Toxikologen sitzen wir zwischen Stuhl und Bank» – die Industrie besitzt kein Interesse und die öffentliche Hand zu wenig Geld.

Die EFSA und die Industrie

Die europäische Lebensmittelbehörde ist da keine Hilfe. In ihrem Bericht zu E171 betont sie vielmehr, dass nur ein verschwindend kleiner Teil von gerade einmal einem Promille des mit der Nahrung aufgenommenen Titandioxids überhaupt vom Körper aufgenommen werde. Die meisten Studien, die Hinweise auf eine möglicherweise gesundheitsgefährdende Wirkung von Titandioxid gefunden haben, disqualifiziert die EFSA mit dem Argument, sie seien «zu wenig aussagekräftig» oder wiesen methodische Mängel auf: Toxikologische Effekte seien also nicht auf die TiO2-Partikel selbst zurückzuführen, sondern auf die experimentellen Untersuchungsbedingungen.

Stattdessen orientiert sich die EFSA für ihr Risikoassessment lieber an einem Bericht der International Chewing Gum Association – jener Industrie also, die E171 praktisch flächendeckend einsetzt. Oder an Studien wie jener von David B. Warheit und seinem Team, das Ratten in verschiedenen Fütterungsversuchen Titandioxid in unterschiedlicher Partikelgrösse und Dosierung verabreichte und keinerlei toxikologische Effekte fand. Die Resultate liessen sich auch auf E171 übertragen, betonen die Studienautoren explizit. Kein Wunder: Sie arbeiten alle für die Chemiekonzerne DuPont und Chemours, die Titandioxid produzieren und verkaufen.

Hanspeter Nägeli ist keiner, der vorschnell die Industrie oder Behörden wie die EFSA kritisieren würde: Er leitet selber ein Expertengremium innerhalb der EFSA, die Kommission für gentechnisch veränderte Lebens- und Futtermittel. Dass die Lebensmittelbehörde Zusatzstoffen wie E171, die Nanopartikel enthalten, so einfach einen Persilschein ausstellt, ärgert ihn aber: «Wenn sie schon Hinweise darauf haben, dass Titandioxid das Reproduktionssystem schädigen könnte – warum wird da nicht gleich gehandelt?»

Tatsächlich kommt das niederländische National Institute for Public Health and the Environment in einem eigenen, im Oktober 2016 veröffentlichten Risikoassessment zu oral aufgenommenem Titandioxid zu einer ganz anderen Einschätzung als die EFSA, obwohl es sich weitgehend auf dieselben toxikologischen Studien stützt: Es bestehen durchaus mögliche Gesundheitsrisiken durch die darin enthaltenen Nanopartikel – «und zwar vor allem in der Leber und den reproduktiven Organen». Denn die toxikologischen Studien an Ratten und Mäusen zeigten, dass sich TiO2-Nanopartikel bei wiederholter Aufnahme nicht nur rasch im ganzen Körper verteilen, sondern vor allem in Leber und Milz auch anreichern. Selbst drei Monate nach der letzten Aufnahme verbleiben zwischen 54 und 86 Prozent der verabreichten Dosen in den beiden Organen. Die Nanopartikel bauen sich also kaum ab und führen auch zu Entzündungsreaktionen in der Leber – und das umso heftiger, je jünger die Tiere sind.

Indizien für gentoxische Auswirkungen hält das niederländische Risikoassessment – anders als die EFSA – für durchaus relevant. Nicht zuletzt, weil bereits extrem niedrige Dosen nach nur wenigen Tagen die reproduktiven Organe weiblicher Ratten beeinträchtigen. Deshalb betonen die AutorInnen auch explizit, dass die Studie von Warheit und seinem Team, die keinerlei negative Effekte von TiO2-Nanopartikeln gefunden hat, kein Grund für eine Entwarnung sei: Warheit hat nämlich weder junge noch weibliche Ratten untersucht.

KonsumentInnen wollen kein E171

Mit zwei aktuellen Studien zu E171 verdichten sich die Hinweise, dass nanoskaliges Titandioxid gesundheitsschädigend sein könnte. Die eine fand heraus, dass TiO2-Nanopartikel die Nährstoffaufnahme im Darm und die Aktivitäten von Enzymen verändern. Die andere Studie, an der auch die französische Behörde für Lebensmittelsicherheit ANSES mitbeteiligt war, hat mit einer Studie an Ratten gezeigt, dass E171 bereits in Dosen, wie sie Menschen täglich zu sich nehmen, Entzündungsreaktionen im Darm hervorruft und zu Vorstufen von Tumoren führen kann.

Die französische Regierung hat die ANSES daraufhin beauftragt, weitere Untersuchungen anzustellen und bis Ende März ein neues Risikoassessment zu erstellen. Der Bericht verzögert sich aber, wie die ANSES mitteilt. Hanspeter Nägeli zweifelt, ob dies etwas ändern wird, weil die veröffentlichte Studie verschiedene Mängel aufweist. «Keine Behörde wird aufgrund einer solch schwachen Studie die Risikobewertung anpassen.» Ihn treibt eine andere Frage um: «Könnte die Industrie nicht einfach weniger E171 verwenden?»

Die Chocolat Frey AG, die zur Migros gehört, zählt zu den europaweit grössten Kaugummiherstellern. Ohne E171 in der Dragierschicht wären Kaugummis nicht so schön weiss, teilt die Firma mit, sondern je nach Rezeptur bräunlich oder grau, wirkten also «alt» und «nicht ansprechend». Offenbar ist Hanspeter Nägeli aber nicht der Einzige, der den E171-Einsatz infrage stellt. Die Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Chocolat Frey verrät, dass sie prüfe, ob alternative weissfärbende Lebensmittelfarbstoffe verwendet werden können – «um dem Kundenwunsch nach titandioxidfreien Produkten nachzukommen». Vielleicht erledigt sich damit die Kontroverse um E171 bald von selbst.

Nachtrag vom 20. April 2017: E171 – nein danke!

«Wie gefährlich ist E171?», fragte die WOZ vor zwei Wochen. Der Lebensmittelzusatz aus Titandioxid (TiO2) gerät vor allem aufgrund der darin enthaltenen Nanopartikel zunehmend unter Beschuss. Zuletzt hatte eine Studie an Ratten Hinweise darauf geliefert, dass E171 sogar in Dosen, wie wir sie täglich mit Kaugummi und andern Süssigkeiten zu uns nehmen, karzinogen sein könnte. Daraufhin hat die französische Lebensmittelbehörde Anses diese Studie im Auftrag der Regierung genauer unter die Lupe genommen, um herauszufinden, ob die europäische Lebensmittelbehörde Efsa ihre erst 2016 erneuerte Unbedenklichkeitserklärung von E171 überarbeiten muss. Jetzt ist der Bericht erschienen, und die kurze Antwort lautet: ja.

Allerdings, so die Anses, rechtfertigten die Hinweise aus dieser Studie allein noch keine Neubewertung von E171. Dazu müssten sie mit ergänzenden Experimenten bestätigt werden. Gleichzeitig betont die Anses aber, eine genauere Abschätzung möglicher Gesundheitsrisiken von E171 sei dringend notwendig, weil bereits neue Studien, an denen sie mitbeteiligt war, vor der Publikation stehen. Diese zeigen offenbar, dass die in E171 enthaltenen Nanopartikel die Blut-Hirn-Schranke überwinden können. Und das ist, medizinisch gesprochen, ein No-Go.

Überhaupt, so die Anses, habe sie bereits 2014 aufgezeigt, dass genügend Hinweise auf eine toxische Wirkung von TiO2-Nanopartikeln vorlägen, um eine Klassifizierung gemäss der neuen EU-Chemikalienverordnung zu rechtfertigen. Was nichts anderes bedeutet, als dass auf der Verpackung in Worten und mit Piktogrammen (vom Kreuz bis zum Totenschädel) auf die potenzielle Gefahr des Inhaltsstoffs hingewiesen werden müsste. Auch das ist ein No-Go – zumindest für die Lebensmittelindustrie.

Ihr empfiehlt die Anses denn auch deutlich, sie solle sich reiflichst überlegen, ob sie Lebensmittelzusätze, die Nanopartikel enthalten, überhaupt auf den Markt bringen wolle, solange deren mögliche Gesundheitsrisiken nicht bekannt seien. Seien die Vorteile solcher Zusätze nicht klar zu beweisen, solle im Interesse von Mensch und Umwelt auf sie verzichtet und stattdessen auf Produkte ohne Nanomaterialien gesetzt werden.

Franziska Meister