Eine Gewerkschaft für die Schwachen: Szenen wie aus einem Ken-Loach-Film

Nr. 16 –

Die Interprofessionelle Gewerkschaft der ArbeiterInnen (IGA) mit Sitz in Basel unterstützt Menschen in prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen. Zwei MitarbeiterInnen und ein Gewerkschaftsmitglied erzählen.

«Wir haben über Jahre hinweg gute Kontakte zu den Leuten»: Hans-Georg Heimann und Cathérine Merz im Büro der Interprofessionellen Gewerkschaft der ArbeiterInnen in Basel.

«Wöchentlich flatterten neue Mahnungen und Betreibungen ins Haus.» Lorena Gavrilov-Valenzuela erzählt schnell und sichtlich aufgebracht, wie sie vor drei Jahren mit ihrer Familie in einen Abwärtsstrudel geriet: «Ich hatte nicht alle Dokumente eingereicht und flog deshalb aus der Sozialhilfe. Darauf konnte ich die Rechnungen der Krankenkasse nicht mehr bezahlen.»

Die Vierzigjährige war nach der Geburt ihrer ersten Tochter arbeitslos, ihr Mann erhielt als Bauarbeiter lediglich Temporärjobs. Die Familie verlor den Überblick über Fristen und Rechnungen – Lorena Gavrilov-Valenzuela war mit der neugeborenen Tochter und einem erschöpften Mann überfordert.

Auf den Rat ihrer Mutter wandte sie sich an die Interprofessionelle Gewerkschaft der ArbeiterInnen (IGA). Die IGA-Mitarbeiterin Cathérine Merz half ihr, aus dem gröbsten Schlamassel zu kommen. Merz schrieb Briefe, führte Telefongespräche und begleitete sie aufs Sozialamt. Gemeinsam erzielten sie schliesslich eine Einigung mit dem Sozialamt und der Krankenkasse – und bewahrten so die Familie zumindest vor der Verschuldung.

Seit 1994 berät Merz Menschen, die in prekären Verhältnissen leben, in Fragen des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts. Die 56-Jährige ist im Lokal der IGA in Kleinbasel an drei Nachmittagen pro Woche anwesend, an denen das Büro geöffnet ist.

Hilfe zur Selbstermächtigung

Finanziert wird die IGA durch Mitglieder- und Solidarbeiträge sowie Spenden. Von den rund 200 IGA-Mitgliedern gehören viele zu den schwächsten Gruppen auf dem Arbeitsmarkt: MigrantInnen und Illegalisierte, Arbeitslose sowie temporär, Teilzeit und auf Abruf Arbeitende – darunter viele Frauen. Einige von ihnen kämen zweimal in der Woche zur Beratung, erzählt Merz. Ihr 64-jähriger Kollege Hans-Georg Heimann ergänzt: «Wir haben über Jahre hinweg gute Kontakte zu den Leuten.» Was dazu führe, dass ihnen oft zu wenig Zeit bleibe, um zusätzlich auch noch öffentliche Kampagnen zu organisieren.

Dass Kampagnen der IGA politische Erfolge bringen können, zeigen die «Basler Armutstribunale», an denen sich die IGA beteiligte. Am ersten dieser Tribunale im Jahr 2004 wurde für den Kanton Basel eine steuerliche Entlastung der untersten Einkommen gefordert – und letztlich auch durchgesetzt: Hundert Franken mehr im Monat: Für Niedrigverdienende mache dies einen spürbaren Unterschied, meint Heimann.

Heimanns Engagement für prekär Arbeitende wurde in den achtziger Jahren auf einer Zugfahrt von Istanbul nach Genf angestossen. «Türkische Arbeitsmigranten zeigten mir ihre Verträge und wollten wissen, was darin steht. Als Saisonarbeiter waren sie völlig rechtlos und der Willkür ihrer Chefs ausgeliefert.» Heimann war 1989 an der Gründungsversammlung der Interprofessionellen Gewerkschaft der ArbeiterInnen mit dabei, an der um die achtzig Leute teilnahmen und eine ganze Woche über das Leitbild diskutierten. Die Gewerkschaft entstand im Umfeld der Kontaktstelle für Arbeitslose, als diese Ende der achtziger Jahre zunehmend mit flexiblen Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert wurde – insbesondere ging es um Arbeitskämpfe bei der Post, bei McDonald’s und in der Temporärarbeit.

Anfangs suchten vor allem ArbeiterInnen aus der Türkei und dem Kosovo Hilfe, später vermehrt tamilische und eritreische MigrantInnen. «Gerade wenn Menschen neu in der Schweiz sind, werden sie häufig brutal ausgenutzt», sagt Merz. «Die Arbeitsrechte gelten jedoch auch für Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung.» Dank der gezielten Unterstützung verbreite sich das Wissen über grundlegende Rechte rasch in den Communities. Das führe zur Selbstermächtigung der Betroffenen – ein wichtiges Ziel der IGA, die Gespräche in Italienisch, Englisch, Französisch sowie Türkisch, Albanisch und Tamil anbietet.

Kein Geld für den Coiffeur

Heimann schildert den Fall einer Hausarbeiterin, die bei einem Diplomaten beschäftigt war, der sie wie eine Sklavin behandelte: Er habe ihren Ausweis eingezogen und ihr jeglichen Lohn verweigert. «Schliesslich haute sie ab und kam zu uns.» Merz wiederum erzählt von SozialhilfebezügerInnen, die ständig beim Essen sparen müssen. Ihr fällt dazu eine Szene aus Ken Loachs Sozialdrama «I, Daniel Blake» ein: «Eine Mutter, die fünf Tage lang alles Essen ihren Kindern gab, steht in einem Laden und schaufelt Büchsenbohnen in sich hinein.» Die Situation in der Schweiz sei zwar nicht ganz so hart wie in Britannien – mit einem Mindestsatz der Sozialhilfe von monatlich rund 970 Franken sei soziale Teilhabe aber auch hierzulande kaum möglich.

Davon weiss auch Lorena Gavrilov-Valenzuela zu berichten: «Früher ging ich regelmässig auswärts essen. Dafür reicht das Geld heute nicht mehr.» Die inzwischen vierköpfige Familie erhält pro Monat 3600 Franken von der Sozialhilfe. Am Ende des Monats wird das Geld knapp, ein Coiffeurbesuch liegt kaum noch drin, Ferien schon gar nicht, die Kleider kommen aus dem Secondhandshop. Noch heute geht die temperamentvolle Frau fast wöchentlich zur Beratung bei der IGA: «Wenn ich einen amtlichen Brief erhalte, lege ich ihn in ein Mäppli und mache einen Termin mit Cathérine aus.»

Merz und Heimann setzen sich weiterhin in Teilzeitpensen für die Mitglieder der IGA ein. Obwohl sie die Kürzungen im Sozialbereich hautnah miterleben – Resignation ist bei ihnen keine zu spüren.