Sicherheit: Braucht es die Polizei?

Nr. 17 –

Viele Linke tun sich grundsätzlich schwer mit der Polizei. Doch gibt es gute Gründe, eine sogenannte Ordnungsmacht zu haben.

Knallt es, oder knallt es nicht? Am 1. Mai kommt es in Zürich seit Jahren an der Nachdemo zur Eskalation. Teile der Linken scheinen in der Polizei primär einen Feind zu sehen. Braucht es sie überhaupt? Und wenn ja, wie sollte sie sein? Vier Menschen, die beruflich viel mit der Polizei zu tun haben, äussern sich.

Der Grundrechtsanwalt

Viktor Györffy ist Anwalt in Zürich und Präsident des Vereins Grundrechte.ch, der sich mit Überwachung, Bewegungs-, Versammlungs- und Informationsfreiheit beschäftigt.

Györffy sagt, idealerweise sollte es keine Polizei geben, «weil die Leute sich selber eine Ordnung geben und sich daran halten». Das würde aber auch bedeuten, dass sich alle an wichtige Grundsätze wie etwa die Verhältnismässigkeit hielten. «Die radikale Linke, die sehr staatskritisch ist, müsste sich zum Beispiel fragen, ob ihre gewalttätigen Aktionen an Demonstrationen wirklich verhältnismässig sind, um ihr Ziel zu erreichen.»

Das Verhältnismässigkeitsprinzip ist im Rechtsstaat elementar. Wenn die Polizei eingreift, gibt es oft mehrere unterschiedlich repressive Interventionsmöglichkeiten. Das Verhältnismässigkeitsprinzip besagt, es solle die mildeste Massnahme ergriffen werden, die es erlaubt, das angestrebte Ziel zu erreichen.

Es sei wichtig, sagt Györffy, dass der Staat in der Lage sei, Regeln durchzusetzen, zum Beispiel um Arbeitsbedingungen zu kontrollieren oder Steuern einzuziehen. «Was passiert, wenn ein schwacher Staat das nicht kann, sieht man in rohstoffreichen Ländern wie Nigeria, wo grosse Ölkonzerne keine Steuern bezahlen und ihre paramilitärischen Strukturen aufbauen, die von niemandem kontrolliert werden.»

Mit der Polizei sei es ähnlich wie mit dem Strafrecht – sie habe auch die Funktion, die aufgebrachte Menge zu besänftigen: «Wenn es die Polizei nicht gäbe, wäre die Gefahr gross, dass der Mob übernimmt. Die Bevölkerung braucht ein Gefühl von Sicherheit.»

Deshalb brauche es die Polizei, aber ihre Macht müsse beschränkt sein, ihre MitarbeiterInnen müssten gut ausgebildet und kontrolliert werden. Ausserdem müsse sie sich als Service public für die Leute verstehen und Menschenrechte wie Menschenwürde ins Zentrum stellen, sagt Györffy. Auf keinen Fall dürfe sie präventiv repressive Mittel einsetzen: «Zum Beispiel geht es überhaupt nicht, dass sie friedliche Demonstranten filmt und man nachher nicht weiss, wo die Bilder sonst noch auftauchen. Sie darf an einer 1.-Mai-Demo auch nicht Hunderte von Personen einkesseln – nur weil darunter vielleicht einige wenige sind, die allenfalls randalieren könnten.»

Die Menschenhandelsbekämpferin

Susanne Seytter ist Geschäftsführerin der Fachstelle Frauenhandel und -migration (FIZ). Die FIZ hat ein spezielles Schutzprogramm für Frauen, die Opfer von Menschenhandel sind. «Für uns ist die Zusammenarbeit mit der Polizei alltäglich, weil die meisten Zuweisungen von Frauen, die Opfer von Ausbeutung und Gewalt sind, über die Polizei kommen», sagt Seytter.

Die Zürcher Stadtpolizei unterhält eine nichtrepressive Einheit, die im Rotlichtmilieu unterwegs ist und unter den Frauen Vertrauen aufbauen kann, da sie niemanden anzeigt oder festnimmt. Diese PolizistInnen seien geschult darin, Opfer zu erkennen. «Wir arbeiten mit neun Kantonen zusammen, und da sehen wir schon Unterschiede. Von jenen Kantonen, die keine spezialisierte Einheit haben, werden uns weniger Betroffene zugewiesen», konstatiert Seytter.

Die FIZ sieht aber auch andere Polizeistellen, die nicht immer so hilfsbereit sind. «Für viele Migrantinnen, vor allem für Sexarbeiterinnen oder Frauen mit wenig Deutschkenntnissen, ist es nicht einfach, zur Polizei zu gehen und Anzeige gegen gewalttätige Freier oder Ehemänner zu erstatten. Wenn sie es doch wagen, laufen sie Gefahr, nicht ernst genommen und abgewiesen zu werden.» Oft stehe die Überprüfung des Aufenthaltsstatus im Vordergrund. Die FIZ wünsche sich eine Polizei, die Anliegen der Migrantinnen ernst nehme und sich auf das konzentriere, wofür die Frau um Hilfe bitte, «bevor die Frage gestellt wird, ob sie einen legalen Aufenthaltsstatus oder eine korrekte Arbeitsbewilligung hat».

Der ehemalige Polizeidirektor

Hanspeter Uster bezeichnete sich früher als Marxist. Zwischen 1991 und 2006 war er in Zug Justiz- und Polizeidirektor. Heute hat er verschiedene Mandate inne und amtet als Präsident des Schweizerischen Polizei-Instituts, das national für die Polizeiausbildung zuständig ist.

Uster sagt, es brauche die Polizei, weil sie das Gewaltmonopol des Staates vertrete. «Das Gewaltmonopol wurde erst am Ende des Mittelalters eingeführt – also relativ spät. Für mich ist es eine zentrale zivilisatorische Errungenschaft.» Früher war die Gewalt privatisiert, wer Macht hatte, konnte Gewalt ausüben. In einem modernen Rechtsstaat sind allein die Organe des Staates legitimiert, Individuen Gewalt anzutun, sie zu verhaften oder ihren Besitz zu beschlagnahmen.

«Es braucht eine Instanz, die im äussersten Fall eingreifen kann, um das Recht durchzusetzen, aber auch um Menschen zu schützen oder zu verhindern, dass etwas passiert», sagt Uster. Diese Aufgabe sei aber sehr anspruchsvoll und verlange hohe Sorgfalt, worauf in der Polizeiausbildung grosses Gewicht gelegt werde. Als Regierungsrat habe er den PolizeischulabgängerInnen jeweils gesagt, dass sie künftig über Kompetenzen verfügen würden, die er als Regierungsrat nicht habe: Personen anhalten und kontrollieren, verhaften und im Extremfall sogar schiessen.

Eine Eigenheit des Polizeieinsatzes sei, dass es bei der Gefahrenabwehr meist um einen Realakt gehe: «Ein Polizist gibt zum Beispiel die Anweisung, dass man einen Ort zu verlassen habe. Das geschieht mündlich, ohne schriftliche Begründung. In anderen Bereichen – zum Beispiel bei einer Baubewilligung – erfolgt immer ein schriftlicher Entscheid.» Da könne sich jemand viel einfacher formell dagegen wehren.

Uster wird ab und zu beigezogen, um Polizeieinsätze nachträglich zu analysieren: «Je länger ich mich mit der Frage beschäftige, was eigentlich gute Polizeiarbeit ausmacht, desto mehr komme ich zum Schluss, dass die weichen Faktoren im Zentrum stehen: Wie laufen Interaktionen ab? Wie geht man mit Konfliktsituationen um? Wie kann man deeskalieren?»

Die Fussballfanverteidigerin

Manuela Schiller arbeitet in Zürich als Anwältin und vertritt oft Fussballfans in Verfahren wie Landfriedensbruch, Gewalt und Drohung gegen BeamtInnen, aber auch gegen PolizistInnen wegen Amtsmissbrauch oder Körperverletzung. Ausserdem politisiert sie für die Alternative Liste (AL), die in Zürich mit Richard Wolff den Sicherheitsdirektor stellt (Wolff selber weilt bis Ende April in den Ferien und gibt erst nach dem 1. Mai wieder Interviews).

«Ich bin dezidiert der Meinung, dass es eine Polizei braucht», sagt Schiller. Aber sie wolle nicht etwa eine linke Polizei, sondern einfach eine Polizei, die sich an die verfassungsmässigen Grundsätze halte und die Grundrechte achte: «Die meisten, die sagen, es brauche keine Polizei, sind doch die Ersten, die nach der Polizei rufen, wenn Rechtsextreme ein Konzert veranstalten wollen. Das ist bigott.» Die Polizei habe immer ein repressives Moment. Und wo immer linke Bewegungen an die Macht gekommen seien, hätten sie die Polizei auch benutzt, um ihre Interessen durchzusetzen – «da dürfen wir uns nichts vormachen».

Manuela Schiller sagt, sie erfahre die Polizei manchmal als einfühlsam und meist professionell; wie sie mit Dementen oder psychisch Erkrankten umgehe, finde sie oft beeindruckend. «In anderen Situationen fährt sie schrecklich hart ein. Da müssen wir dranbleiben. Aber es ist immer dieselbe Polizei.»

Rassismus sei in den Korps sicher ein Problem und werde oft schöngeredet oder gar abgestritten. Das hänge auch stark von der Ausbildung und der Korpskultur ab. «Wenn in einem Korps mehr rechte als linke PolizistInnen arbeiten, gibt es Probleme.» Ein Korps sollte im Idealfall den Durchschnitt der Bevölkerung abbilden, sagt Schiller: «In der Stadt Zürich hat man offensichtlich ein Problem damit.»

Sie berichtet, wie sie im Ausland einmal einen jungen Mann kennengelernt habe, der sich als Linker und Polizist zu erkennen gab. Das habe ihr zu denken gegeben: «Wenn mein Sohn oder meine Tochter zur Polizei möchte, würde ich versuchen, sie umzustimmen. Aber das ist eigentlich falsch: Wenn eine gute Polizei den Durchschnitt der Bevölkerung abbilden sollte, müssten wir doch wollen, dass auch unsere Kinder zur Polizei gehen.»