Korruption in Lateinamerika: Die Oligarchie zerfleischt sich selbst

Nr. 21 –

Die neuste Wendung der Schmiergeldskandale in Brasilien: Bestechungsvorwürfe, die von der Elite zunächst als Waffe gegen linke Regierungen eingesetzt wurden, wenden sich nun gegen sie.

Er sei unschuldig, sagte Brasiliens Präsident Michel Temer wieder einmal. Und das, obwohl sein jüngster Korruptionsskandal in der vergangenen Woche durch seine eigene Stimme ausgelöst wurde. Temer bittet in der Aufzeichnung eines Gesprächs mit dem Fleischmagnaten Joesley Batista um weitere Schweigegeldzahlungen an seinen Parteifreund Eduardo Cunha. Der sitzt wegen Korruption in Haft und weiss mit Sicherheit viel mehr über schmutzige Geschäfte, als er bislang erzählt hat. Aber Temer – auch er längst unter dringendem Korruptionsverdacht – gibt sich weiterhin als Mann mit weisser Weste. Die Aufnahme sei gefälscht, behauptete er. «Brasilien wird nicht aus der Spur kommen», sagte er in einer Fernsehansprache. Kein Gedanke an einen Rücktritt.

Der Präsident scheint noch immer nicht bemerkt zu haben, dass Brasilien längst aus der Spur geraten ist und dass Korruption nicht mehr als Selbstverständlichkeit hingenommen wird. Der 76-Jährige ist ein Politiker alten Schlages. Er kommt aus einer Zeit, in der eine schmale Elite Staaten als Selbstbedienungsläden begriffen hat – ein Erbe der Unabhängigkeit Lateinamerikas: Statt von der Kolonialmacht wurden die neu entstandenen Nationen von ihrer eigenen Oligarchie ausgenommen. Politische und wirtschaftliche Macht waren personalidentisch, Vetternwirtschaft und gegenseitiges Geben und Nehmen Garant der Stabilität.

Korruption als Waffe gegen Linke

Dieses System ist nun ins Wanken geraten, und die Elite selbst ist dafür verantwortlich. Es waren die grossen Medienkonglomerate, die erste Korruptionsskandale ans Licht brachten. Ihre Besitzerfamilien gehören durchweg zur Oligarchie. Sie haben immer Politik für ihre Interessen gemacht und manchmal selbst Präsidenten gestellt. Dass sie seit ein paar Jahren in ihren Medien Enthüllungen über Korruption zulassen, hat damit zu tun, dass fast überall in Lateinamerika Linke oder SozialdemokratInnen an die Macht gewählt worden waren. Mit ihnen waren Leute in den exklusiven Klub des Gebens und Nehmens aufgestiegen, die nach Ansicht der Alteingesessenen dort nicht hingehören. Bestechungsvorwürfe waren ein Mittel, um sie möglichst schnell wieder loszuwerden.

So war der erste gross veröffentlichte Korruptionsfall Brasiliens der sogenannte Mensalão-Skandal von 2005: Die Regierung unter dem linken Präsidenten Lula da Silva hatte Stimmen korrupter Abgeordneter gekauft, um Sozialprogramme durchs Parlament zu bringen. Das war schmutzig. Aber Schmiergeld war ein notwendiges Mittel, um Politik machen zu können. Neu war nur, dass es öffentlich angeprangert wurde. Und es wurde angeprangert, weil das einer linken Regierung schadete. Eine korrupte Oligarchie hatte Korruption als Kampfbegriff gegen die Linke entdeckt.

Noch deutlicher wurde dies vor zwei Jahren in Chile, als die beiden übermächtigen Medienkonzerne des Landes ein windiges Grundstücksgeschäft des Sohnes von Michelle Bachelet ausschlachteten, um die Präsidentin ins Zwielicht zu rücken. Dass gleichzeitig die halbe Führungsriege der ultrarechten UDI-Partei wegen Steuerbetrug, Bestechung und Geldwäsche im grossen Stil inhaftiert wurde, ging darüber fast unter.

Und doch hat die alte Elite mit Korruptionsvorwürfen ein Fass aufgemacht, in das sie selber schon lange ihre eigenen bösen Geister eingesperrt hatte. Was als Waffe gegen linke Regierungen gedacht war, wendet sich gegen sie selbst. Jeder weiss Schmutziges über jede zu erzählen und versucht nur noch, sich zu retten. Die Elite zerfleischt sich. Vor einem Monat noch war Batista der Böse, verwickelt in einen widerlichen Skandal um vergammeltes Fleisch. Jetzt schlägt er zurück, nicht nur gegen Temer. Er habe auch da Silva und Rousseff geschmiert und 164 Abgeordnete dazu, sagte er.

Und dann kam der Clown

Am Ende sind alle desavouiert, und es bleibt die Frage: Was kommt danach? Eine Läuterung ist nicht in Sicht. In Guatemala, wo der rechte Otto Pérez Molina nach Korruptionsermittlungen und Massenprotesten im September 2015 vom Präsidentenpalast direkt ins Gefängnis ging, wurde kurz darauf der Fernsehclown Jimmy Morales gewählt. Hinter ihm stehen finstere Generäle aus der Bürgerkriegszeit. Und würde morgen in Brasilien gewählt, käme mit Jair Bolsonaro ein ultrarechter Mann in die Stichwahl, gegen den Donald Trump fast aussieht wie ein seriöser Staatsmann.