Kommentar zu Lateinamerika: Erfolgreiche Sozialpolitik ist keine Garantie für die Wiederwahl
Was die Linke Lateinamerikas aus dem hauchdünnen Wahlsieg von Dilma Rousseff in Brasilien lernen kann.
Das war knapp! Mit gerade 3,3 Prozentpunkten Unterschied hat Dilma Rousseff am Sonntag die Stichwahl um die Präsidentschaft Brasiliens gewonnen. Bislang hatte die linke Arbeiterpartei (PT) stets einen bequemem Vorsprung: 2002 lag Luiz Inácio Lula da Silva 22,6 Prozentpunkte vor seinem Konkurrenten, 2006 sogar 23,7 Prozentpunkte. Rousseff hatte bei ihrer ersten Präsidentschaftswahl 2010 noch ein Polster von 12,1 Prozentpunkten. Diesmal musste sie zittern.
Sicher, es gab Proteste – im vergangenen Jahr für bessere Bildung, ein besseres Gesundheitswesen und für einen besseren und billigeren öffentlichen Personenverkehr, dann gegen die gigantomanische Bauwut vor der Fussballweltmeisterschaft in diesem Jahr und vor den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro. Es war vor allem die Mittelschicht, die da hunderttausendfach auf die Strasse ging. An Megaprojekten wie dem Riesenstaudamm Belo Monte in Amazonien hat Rousseff trotz heftiger Gegenwehr von UmweltschützerInnen und den dort wohnenden Indígenas einfach weitergebaut.
Und ja: Es gab auch horrende Korruptionsskandale. Lula da Silvas Kabinettchef José Dirceu hatte die nötigen Stimmen zur Verabschiedung der dann sehr erfolgreichen Sozialprogramme mit monatlichen Überweisungen an Abgeordnete zusammengekauft und ist wegen dieses sogenannten Mensalão-Skandals inzwischen rechtskräftig verurteilt. Zuletzt wurden in der Endphase des Wahlkampfs Schmiergelder in Millionenhöhe publik, die der staatliche Erdölkonzern Petrobras an Politiker überwiesen haben soll. Nicht nur PT-FunktionärInnen haben da angeblich die Hand aufgehalten, auch VertreterInnen der sich «sozialdemokratisch» nennenden rechten PSDB, der Partei von Aécio Neves, Rousseffs Widersacher in der Stichwahl.
Aber wäre das alles besser gewesen mit einer konservativen Regierung? Ganz sicher nicht. Die PSDB ist genauso in Korruptionsskandale verstrickt, und ihr knapp unterlegener Kandidat Neves – ein Freund der Banken und Grossunternehmen – hatte angekündigt, er wolle Brasilien wegführen von Venezuela und Kuba und dafür viel näher an die USA rücken. Das hätte Auswirkungen gehabt für ganz Lateinamerika. Es waren Venezuelas im März 2013 verstorbener Präsident Hugo Chávez und da Silva gewesen, die in kongenialer Arbeitsteilung ein neues lateinamerikanisches Selbstbewusstsein aufgebaut haben, weitgehend unabhängig vom Einfluss der USA. Chávez aus dem erdölreichen Venezuela spielte dabei den auf die Pauke hauenden «bad guy», der knuddelige da Silva aus dem fünftgrössten Staat der Welt den ausgleichenden «good guy». Hinter den breiten Schultern dieser beiden Männer hatten es die linken Regierungen von kleineren und viel schwächeren Ländern wie Ecuador und Bolivien relativ bequem. Mit Unasur entstand ein neuer US-unabhängiger Staatenbund mit gemeinsamer Aussen- und Sicherheitspolitik und einer gemeinsamen Entwicklungsbank.
Nun hat der Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro nicht die Statur seines Ziehvaters und ist mit einer schweren Krise im eigenen Land beschäftigt. Wäre statt Rousseff in Brasilien ein Freund der US-Interessen an die Macht gekommen, hätte das neue lateinamerikanische Selbstbewusstsein mindestens einen schweren Knacks bekommen.
Zwei Lehren können aus dem knappen Wahlergebnis gezogen werden – nicht nur für Brasilien, sondern für die ganze lateinamerikanische Linke. Zum einen garantieren erfolgreiche Sozialprogramme nicht unbedingt die Wiederwahl. In den zwölf Jahren der PT-Herrschaft haben zwischen vierzig und fünfzig Millionen BrasilianerInnen die Armut überwunden und sind in die Mittelschicht aufgestiegen. Die aber ist in ganz Lateinamerika tendenziell nicht links, sondern konsumorientiert, und gerade die AufsteigerInnen aus der Armut haben da viel nachzuholen. Sie lassen sich leichter von einem jungen Dynamiker begeistern denn von einer in die Jahre gekommenen fürsorglichen Mutter der Nation.
Die Rechte hat das begriffen. In Uruguay zwang am Sonntag der jugendlich wirkende rechte Kandidat Luis Alberto Lacalle Pou (41) den alternden Linken Tabaré Vázquez (74) in die Stichwahl am 30. November. Da könnte es auch knapp werden. Der scheidende linke Präsident José Mujica ist schon 79. In Brasilien ist Neves zwölf Jahre jünger und agiler als Dilma Rousseff, die am Ende ihrer vierjährigen Amtszeit 70 sein wird. Danach, heisst es in der PT, soll der dann 73-jährige da Silva nochmals antreten.
In Nicaragua regiert der 69-jährige Daniel Ortega, der trotz chronischer Krankheit nicht ans Aufhören denkt, in El Salvador ist der von zwanzig harten Jahren Bürgerkrieg gezeichnete 70-jährige ehemalige Guerillero Salvador Sánchez Cerén Präsident. Michelle Bachelet in Chile wirkt da mit ihren 63 Jahren zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit fast noch frisch. Im auf Personen fixierten Lateinamerika zählt für die durchschnittlich jungen Wählenden die Ausstrahlung von Kandidaten und Kandidatinnen noch mehr als in andern Weltregionen. Will die Linke weiter regieren, muss sie den lange vernachlässigten Generationenwechsel angehen.