Julian Sartorius: Tote Bäume sind am besten
Julian Sartorius wanderte von Basel nach Genf. Aus den Tönen von Baumstämmen, Kuhdrähten und Getreidesilos mischte er zehn Tracks. Unterwegs mit dem Schlagzeuger auf den Gurten.
Oben auf dem Gurten angekommen, zeigt Julian Sartorius auf einen gelben Wanderwegweiser: «Die tönen ungeheuer geil!», sagt der Schlagzeuger und schlägt ihn kurz mit der Faust an. Es erklingt ein tiefer, summender Bass, als käme er aus einem Synthesizer. Es ist nicht das erste Mal auf diesem Spaziergang auf den Berner Hausberg, dass der 36-Jährige aus Dingen Töne lockt, die man darin nie erwartet hätte: Sartorius lässt einen Kuhdraht vibrieren wie einen surrenden Stromstoss, einen kümmerlichen Ast zittern wie einen Dubstep-Bass, und die Holzpalette klingt unter den Schlägen seiner Filzstöcke wie ein sattes Xylofon.
Der Berner Musiker hat aus diesen Entdeckungen ein unvergleichliches Album gemacht: «Hidden Tracks: Basel–Genève». Alle Beats, Bässe und Rhythmen darauf hat Sartorius auf einer Wanderung von Basel nach Genf aufgenommen. Die Klänge fand er alle in der Landschaft. Zehn Stücke für die zehn Tageswanderungen, die er im Oktober 2016 über den Jurahöhenweg beschritt. «Ich bin losgelaufen und wollte ein Album aus den Klängen der Landschaft machen. Da wusste ich noch nicht, was genau ich finden werde und ob es tatsächlich funktioniert.» Im Rucksack hatte er ein Aufnahmegerät und Drumsticks. Nach einem Tag Fussmarsch wusste er, dass es klappte.
Walking Artists als Vorbild
Beim Spaziergang auf den Gurten geht er immer wieder vom Weg ab, packt die Schläger aus und bringt etwas ungeahnt zum Tönen. Auf der Wanderung im Herbst verbrachte er so an manchen Orten Stunden und vertiefte sich in die Klänge einer Feuerstelle aus Blech. Als dann plötzlich dreissig wandernde Pensionierte unter taxierendem «Bonjour» vorbeigegangen seien, sei er fast etwas erschrocken, erzählt er. Man werde ziemlich komisch angeschaut, wenn man mitten im Wald mit Stöcken auf Bäume und Wurzeln schlage. «Wenn ich dann erklärte, dass ich Musik mache, schauten die Leute noch komischer.» Auf die Nachfrage von Wandernden nannte er seine Arbeit später lieber ein Kunstprojekt. «Dann reagierten sie so: Aha, ist halt so, die Kunst.»
Dabei verwischt Sartorius diese Spartengrenzen in seinen Projekten auch selbst. In «Morph», einem audiovisuellen Projekt auf seiner Website, collagiert Sartorius jeden Tag korrespondierend ein Bild und einen Track: «Morph» begann 2013 und wird täglich zerschnitten, verändert und neu zusammengestellt. Das Collagieren wirkt wie ein Echo über die Sinnesgrenzen hinweg.
Für das Album «Hidden Tracks» schnitt und überlagerte er die auf der Wanderung gesammelten Töne später auf dem Computer. Dabei war es ihm wichtig, diese im Klang nicht digital zu verfremden. Sonst hätte er aus einem einzelnen Ton fast alles machen können. Als Sartorius von den Klangeigenschaften unterschiedlicher Bäume zu erzählen beginnt, sagt er beschwichtigend: «Das ist also kein esoterisches Projekt. Ich habe auch viel Metall aufgenommen.» Morsche, tote Bäume möge er am liebsten, klängen sie doch am spannendsten.
Statt an der Esoterik orientiert sich der in der Berner Altstadt lebende Musiker an der bildenden Kunst: Sogenannte Walking Artists wie die beiden Briten Hamish Fulton oder der Land-Art-Künstler Richard Long widmen sich den unterschiedlichen Formen des Gehens als künstlerischem Ausdruck. Sartorius hat dies schon immer fasziniert. Nun konnte er seine Leidenschaft des Wanderns ebenfalls zur Kunstform erheben.
Mitwandern erlaubt
In der Literatur ist das Wandern von Henry David Thoreau über Walter Benjamin bis Robert Walser ein wiederkehrender Topos. Auch Sartorius liess sich von einem Text inspirieren: Der deutsche Regisseur Werner Herzog schrieb mit «Vom Gehen im Eis» ein Buch über seine Wanderung von München nach Paris. Auch viele von Sartorius’ eigenen Ideen für seine verschiedenen Bands kommen ihm auf Wanderungen. Derzeit kollaboriert er mit MusikerInnen wie Sylvie Courvoisier, Colin Vallon, Matthew Herbert, Shahzad Ismaily und vielen anderen. Privat hört er am liebsten den amerikanischen Rapper und Hip-Hop-Produzenten Jonwayne, da bei diesem Beats und Rap wie bei kaum einem anderen ineinanderflössen.
Sartorius kann seit seinem Grossprojekt «Beat Diary», das 365 Beats und ein Fotobuch umfasste, auch immer wieder in Kunstkontexten auftreten. Das ermöglicht ihm, von seiner Musik zu leben. Auch wenn der Anspruch eines Gesamtkunstwerks so gar nicht zu dem auf dem Boden gebliebenen Musiker passt, so erkennt man dennoch in seinen vielen Arbeiten eine Linie. Stets stellt der studierte Jazzmusiker sein Schlagzeugspiel in Korrelation zu einer sinnlichen Erfahrung: Während es beim aktuellen Projekt das Gehen ist, so ist es bei «Morph» das Schauen und bei «Beat Diary» die Erfahrung der Zeit.
Auf dem Abstieg vom Gurten spürt man die sprudelnden Ideen, die Julian Sartorius hat. Während er über das aktuelle Projekt spricht, hat er schon unzählige zukünftige im Kopf. Weitere Klangwanderungen soll es auf jeden Fall geben. Schliesslich klinge jede Landschaft anders. Vielleicht wandert er bald durch eine Wüste, übers Eis im Gebirge oder durch eine Grossstadt wie Los Angeles.
Doch zuerst erscheint das Album auf Vinyl oder als Satellitenwanderkarte mit Downloadcode. Ausserdem gibt es einen Track als Postkarte, die sich auf dem Plattenspieler abspielen lässt.
Klassische Konzerte zum Album wird es keine geben. Vielmehr lädt Sartorius zu Wanderungen, auf denen man ihm folgen kann. Mit einem sendenden Mikrofon ausgestattet, wird er auf diesen Wanderungen Beats und Klänge direkt vor Ort improvisieren, während ihm die Wandergruppe mit Kopfhörern lauscht. Damit kann man am besten ganz im Vogelzwitschern, den Kuhglocken, dem Flugzeugrauschen und den Beats versinken. «Die Vielfalt und das Unerwartete sind fantastisch, wenn man einen Weg bespielt», meint Julian Sartorius zum Abschied.
Beat-Wanderungen in: Düdingen, Bad Bonn Kilbi, 3. und 4. Juni 2017. Genf, Festival Baz’Art, 11. Juni 2017. Bern, Dampfzentrale, 16. Juni 2017. Kriens, B-Sides Festival, 17. Juni 2017.
Julian Sartorius: Hidden Tracks: Basel–Genève. Everest Records. 2017
Bad Bonn Kilbi 2017
Was für ein einladendes Editorial wieder! Die Kilbi sei ein Musikfest, «wo der Zaun nur steht, damit der Eingang nicht fällt», schreibt Daniel Fontana vom Tonverein Bad Bonn. Auf die kleine Wiese am Schiffenensee wird mit unveränderter Neugierde an der Musik gebeten, was an anderen Festival als «zu laut» oder «zu schräg» aussen vor bleibt.
Wandert man nicht gerade mit Drummer Julian Sartorius durch die Landschaft, kann man am Freitag zum Beispiel die Doom-Metalband Sleep hören, die mit «Dopesmoker» dem Kiffen eine 63-minütige Ode widmeten. Am Samstag wird mit grosser Spannung Princess Nokia erwartet. Die junge Afrolatina mit ihren kämpferischen Punchlines gilt als Aushängeschild des feministischen US-Raps.
Unterhaltsam wird es am Sonntag mit King Gizzard and the Lizard Wizard: Die Australier wechselten noch mit jedem Album den Stil, aktuell sind sie im Oriental angekommen.
Kaspar Surber
Mehr Infos: club.badbonn.ch/kilbi