Transnationaler Terrorismus: Warum der Islamische Staat nicht verschwindet
Die Anschläge in Britannien und im Iran zeigen: Der IS ist bestens auf eine Zeit ohne eigenes «Kalifat» vorbereitet.
Schon länger prognostizieren TerrorexpertInnen das baldige Ende des sogenannten Islamischen Staates (IS). Im Ursprungsgebiet ist die Dschihadorganisation tatsächlich militärisch stark unter Druck: In Syrien hat sie fast die Hälfte des Territoriums, das sie bis 2015 erobert hatte, wieder verloren, im Irak gar zwei Drittel. Überlebende ausländische Kämpfer fliehen in Scharen aus dem «Kalifat», und selbst die IS-Zentralen in Mosul und Rakka müssen wohl bald geräumt werden.
Gleichzeitig gibt es in der Region und weltweit zunehmend Anschläge, die vom IS oder in dessen Namen verübt werden. Viele ExpertInnen sehen darin eine direkte Reaktion auf die Schwäche im Kernland: Daniel Byman, Professor an der Georgetown University, vertrat etwa letzte Woche vor einem US-Senatskomitee die Einschätzung, dass der IS nun, da das Ziel eines eigentlichen Islamischen Staates wieder in die Ferne rücke, verstärkt «internationalen Terrorismus» betreibe, um seine Relevanz zu beweisen und AnhängerInnen zu gewinnen. Ein Strategiewechsel sei das, der das Ende des IS jedoch lediglich hinauszögere.
Die «ideologische Föderation»
Dabei ist dank geleakter Dokumente, Aussagen früherer IS-Mitglieder und auch öffentlicher Statements der IS-Führung bekannt, dass die Organisation schon seit Jahren gleichzeitig eine lokale und eine globale Strategie verfolgt. Spätestens Anfang 2014 begann der IS, Anschläge in Europa zu planen.
Für die IS-Führung sind Gebietsverluste zwar ärgerlich, weil sie die Propaganda und vor allem die Finanzierung behindern. Aber der IS dürfte auch ohne eigenen Quasistaat schlagkräftig bleiben. Der Führungszirkel kann sich in den Untergrund oder in ein anderes Krisengebiet wie etwa Libyen oder den Sinai zurückziehen und von dort aus die Strategie des globalen Terrors weiterführen.
Und der IS wird darin wohl auch langfristig erfolgreicher sein als die Konkurrenz von al-Kaida. Denn anders als der Pionier des globalisierten Dschihadismus (dem der IS ursprünglich angehörte) funktioniert der IS nicht nach dem Modell eines «transnationalen Konzerns, sondern als lose ideologische Föderation», wie es die italienische Terrorexpertin Loretta Napoleoni ausdrückt: Weltweit agieren kommunikativ mehr oder weniger verbundene, operationell aber unabhängige Gruppierungen, Zellen und Einzelkämpfer. Etliche Terrororganisationen im Nahen Osten, in Nordafrika, in der Sahelzone und in Südostasien haben sich dem IS angeschlossen; in Europa operieren Dutzende Terrorzellen in dessen Namen.
Kurz: Was dem IS im Zentrum verloren geht, können Organisationseinheiten an der Peripherie wettmachen.
Aus Fehlern lernen
Die tödlichen Anschläge im Iran von letzter Woche und in Britannien in den vergangenen Monaten zeugen von der unverminderten, möglicherweise gar zunehmenden Stärke des IS. Beides sind Länder, an denen sich die IS-Führung jahrelang die Zähne ausgebissen hat.
Im schiitischen Überwachungsstaat Iran gelang es offenbar erst vor kurzem, eine Zelle zu etablieren. Noch ist nicht klar, wie stark die IS-Zentrale in die Planung und Ausführung der Angriffe auf das Parlament und das Chomeini-Mausoleum in Teheran involviert war, bei denen mindestens siebzehn Menschen starben. Doch dass ein solcher Doppelanschlag im Herzen eines der repressivsten Staaten der Welt möglich war, deutet auf eine hoch professionelle Steuerung von ausserhalb des Landes hin, zumal die iranischen Behörden angaben, allein in den letzten zwei Jahren hundert Terrorattacken vereitelt zu haben.
Auch die drei Anschläge, die innerhalb von weniger als drei Monaten Britannien erschütterten, zeigen auf, dass sich der Islamische Staat bester Gesundheit erfreut. Britannien war als früherer Nahostkolonialist und späterer Irakinvasor von Anfang an ganz oben auf der Prioritätenliste der IS-Führung. Verschiedenste Zellen und Einzeltäter haben seither Anschläge geplant. Der britische Sicherheitsapparat will ab 2014 mindestens zwölf IS-Anschläge vereitelt haben, fünf davon in den vergangenen drei Monaten.
Die «New York Times» hat aufgrund der bisherigen Anschlagsversuche in Britannien nachgezeichnet, wie die IS-Führung nach und nach aus früheren Fehlern lernte und ihre Taktik änderte. Die frühesten Attentäter standen der IS-Ideologie nahe, hatten aber keine direkten Kontakte mit IS-Mitgliedern. Diese «einsamen Wölfe» informierten sich über Propaganda- und Instruktionsvideos auf Youtube.
Doch solche «Lone wolf»-Attacken blieben aus IS-Sicht eher wirkungslos. Ab 2015 begann in der Zentrale in Rakka eine Gruppe von «Trainern», britische Attentatswillige über verschlüsselte Onlineverbindungen zu motivieren, zu beraten und schliesslich auch die Anschläge zu steuern. Die drei Anschläge in Manchester und London mit insgesamt mindestens 37 Toten wurden sehr wahrscheinlich erst durch diese Anpassung der Taktik möglich.