Jazz: New York liegt am Bielersee

Nr. 34 –

Chico Freeman war einer der tonangebenden Jazzsaxofonisten New Yorks. Nun hat er sich in der Schweiz niedergelassen – und ist heuer am Jazzfestival Willisau zu hören.

Saxofonist Chico Freeman vor dem Restaurant St. Gervais in der Bieler Altstadt: «Meine Hausnachbarn sind Schweizer, Italiener, Franzosen, Inder, Afrikaner und Brasilianer.»

Wer es im Jazz zu etwas bringen will, muss sich noch immer in New York durchsetzen. Nirgendwo gibt es so viele Clubs und so viele MusikerInnen, nirgends ist die Konkurrenz so gross. Jeder Jazzmusiker und jede Jazzmusikerin träumt davon, im Big Apple den Durchbruch zu schaffen. New York ist der ultimative Härtetest: Make or break!

Der US-amerikanische Saxofonist Chico Freeman geht den umgekehrten Weg. Er hat nach Jahrzehnten vielfältiger musikalischer Aktivitäten seine Zelte in New York abgebrochen und ist nach Europa gegangen, wo er sich in Biel niedergelassen hat. «Mir kommt Biel ein bisschen wie New York vor», meint Freeman. «Hier leben Menschen aus aller Welt. Das gefällt mir. Deshalb bin ich hierhergezogen. Ich wollte schon immer einmal in einem anderen Land leben, aber nicht isoliert in einer mir fremden homogenen Bevölkerungsgruppe.»

Lob der Nachbarschaft

Als Freeman den Entschluss fasste, New York den Rücken zu kehren, zog er zuerst nach Griechenland, was sich jedoch für einen international gefragten Jazzer verkehrstechnisch als problematisch erwies. Deshalb führte ihn der zweite Schritt in die Schweiz mit ihren exzellenten Verkehrsverbindungen in die ganze Welt. «Die Schweiz war schon immer ein multikulturelles Land, wo offiziell vier verschiedene Sprachen gesprochen werden. Heute ist sie vielfältiger denn je», begründet Freeman seine Wahl. «Ich hoffe, dass diese Situation meiner kleinen Tochter helfen wird, die Welt zu verstehen. In New York zwischen all den verschiedenen Volksgruppen kann man das lernen – oder hier in Biel. Ich will, dass meine Tochter in einer weltoffenen Umgebung aufwächst. Meine Hausnachbarn sind Schweizer, Italiener, Franzosen, Inder, Afrikaner und Brasilianer. Es gibt viel Kultur, natürlich nicht so viel Jazz wie in New York – aber wo gibt es das schon?»

Chico Freeman reiht sich in eine kleine Gruppe von namhaften US-amerikanischen SpitzenmusikerInnen ein, die die Schweiz in den letzten Jahren zu ihrem Domizil gemacht haben. Manche sind als Lehrkräfte an Musikhochschulen tätig wie der Schlagzeuger Gerry Hemingway in Luzern oder der Gitarrist Fred Frith in Basel, andere sind als Freischaffende aktiv wie der Drummer Billy Cobham, der in Schüpfen bei Bern lebt. Sie bringen einen Hauch von internationalem Flair in die hiesige Szene und sorgen für kreative Impulse: Chico Freeman hat sich mit dem Schweizer Kontrabassisten Heiri Känzig zu einem kammermusikalischen Duo zusammengetan. Gerade haben die beiden ihr erstes gemeinsames Album veröffentlicht.

Durch die Tür gelauscht

Chico Freeman ist mit Jazz gross geworden. Sein Vater war der bekannte Tenorsaxofonist Von Freeman, auch zwei seiner Onkel waren Profis. Zusammen traten sie als die Freeman Brothers auf. Oft fanden die Proben zu Hause statt. «Da sassen dann Leute wie der Pianist Andrew Hill oder die Saxofonisten Gene Ammons und Eddie Harris herum, und ich hatte keine Ahnung, dass sie Berühmtheiten waren. Für mich waren es nur die Freunde meines Vaters», erinnert sich Freeman an seine Kindheit in Chicago. «Im Sommer stand die Tür offen, wenn Probe war. Da kamen dann die ganzen Kids aus der Nachbarschaft, sassen auf unserer Veranda und hörten zu. Meine Mutter versorgte sie mit Limonade. Als ich fünf war, besuchte ich ein Konzert, in dem mein Vater mit dem berühmten Miles Davis Sextet mit John Coltrane auftrat. Das war die Umgebung, in der ich aufwuchs.»

Musik machen gehörte für den jungen Chico zum Alltag. Er spielte im Blasorchester der Schule bei Paraden und Theateraufführungen, war in Gesangsgruppen und im Chor aktiv. Mit anderen Talenten besuchte er später einen Workshop, den der Saxofonist Fred Anderson für die schwarze Musikerselbsthilfeorganisation AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians) veranstaltete. «Wir trafen uns in Andersons Haus, hörten Schallplatten, diskutierten und probten», sagt Freeman. «Seine Frau kochte zu Abend. Manchmal übernachteten wir auf dem Fussboden. Fred Anderson war ein grossartiger Mentor.»

Zupackend sinnlich

Über Anderson kam der Kontakt zu Muhal Richard Abrams zustande, der in den sechziger und siebziger Jahren mit seiner Experimental Band in Chicago mit den avanciertesten Jazz jener Zeit spielte. Mit dem Posaunisten George Lewis gründete Freeman seine erste Band. «Ich wurde ein sehr aktives Mitglied der AACM», erinnert er sich. Um als Profimusiker in Chicago ein Auskommen zu verdienen, galt es, in vielen Stilen versiert zu sein. «Ich spielte jede Art von Musik», erzählt Freeman: «Die Southside war voll von Blues. Ich trat mit dem Gitarristen Buddy Guy auf – mit jedem, der mir einen Gig anbot. Auch viel mit Soul- und Funkgruppen, ob mit den Four Tops, den Isley Brothers, den Temptations oder Curtis Mayfield. Die Phenix Horns, die Bläsergruppe von Earth, Wind & Fire, heuerten mich an.»

Um im Zentrum des Geschehens zu sein, zog Chico Freeman später nach New York. Im Quartett des Miles-Davis-Drummers Jack DeJohnette gelang dem jungen Saxofonisten der Durchbruch. Schlagartig war sein Name in aller Munde. Er komponierte, gründete seine eigene Gruppe und nahm über die Jahre Dutzende von Schallplatten auf. Als Bandleader oder Sideman war er permanent unterwegs, tourte in Europa und Asien. Chico Freeman war im Jazzolymp angekommen.

Von der Schweiz aus will er sein hohes Arbeitspensum beibehalten. Den Einstand gibt er beim diesjährigen Jazzfestival in Willisau, das vom 26. bis 30. August stattfindet. In einer Matinee wird er dort sein Duo mit Heiri Känzig vorstellen: klare Saxofonlinien von sinnlicher Empfindsamkeit, die manchmal zupackend nach Blues und Soul klingen, dann wieder nach verträumten Balladen und von markanten Bassläufen getragen werden. «The Arrival» heisst der Titel der neuen CD der beiden. Chico Freeman ist «angekommen». Der Schweizer Szene kann das nur guttun.

Live in Willisau : Brummende Kreativität

Mittlerweile gibt es Dutzende von Alben, die den Titel «Live in Willisau» tragen. Ob Cecil Taylor, Ray Anderson oder Irène Schweizer – alle haben schon beim Willisauer Jazzfestival eine «Live»-Platte eingespielt und damit den Namen der kleinen Ortschaft im Kanton Luzern über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt gemacht. Wie Newport, Montreux oder Moers beginnt Willisau, in Jazzkreisen zur Legende zu werden.

2009 zog sich Initiator Niklaus Troxler aus der Programmplanung zurück. Er hatte das Festival 1975 gegründet. Den Stab übergab er seinem Neffen Arno Troxler, dem das Kunststück gelungen ist, das hohe Qualitätsniveau zu halten und gleichzeitig das Programm innovativ zu beleben.

Dieses Jahr wird vom 26. bis 30. August wieder ein bunter Mix an internationalen und Schweizer KünstlerInnen aller möglichen Jazzgattungen geboten: vom Free Jazz der Berliner «Dicken Finger» (mit Saxofonkoloss Peter Brötzmann) bis zur Voodoo-Swamp-Fusion des Zürcher Duos Los Dos, das mit einem vollen Jazzorchester auftreten wird.

Der New Yorker Trompeter Dave Douglas begibt sich mit seiner Band High Risk auf die Spuren von Miles Davis, während die Sons of Kemet aus London mit unorthodoxer Besetzung aufwarten. Aus Skandinavien kommt das Quintett Atomic des Bassisten Ingebrigt Haker Flaten, und mit Chris Lightcap’s Bigmouth ist auch die vor Kreativität brummende Brooklyner Szene vertreten. Der Weg nach Willisau wird zur Fahrt zu den Brennpunkten des aktuellen globalen Jazz.

Christoph Wagner