Psychiatriekritik: Der medizinische Schleier

Nr. 37 –

Bis in die frühen siebziger Jahre wurden in Schweizer Psychiatrien hirnchirurgische Eingriffe, sogenannte Lobotomien, durchgeführt: Indem man die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontallappen sowie Teile der grauen Substanz durchtrennte, glaubte man «psychische Störungen» wegoperieren zu können.

Inzwischen hat die Psychiatrie einiges von ihrer diabolischen Aura verloren. So wurde 1981 die administrative Versorgung abgeschafft, wobei bis heute noch immer die «fürsorgerische Unterbringung» existiert. Aus der öffentlichen Debatte gerückt ist aber auch die Psychiatriekritik, zumal viele Menschen dank psychiatrischer Hilfe schwere Krisen überwinden konnten. Deshalb über die dunklen Seiten der Psychiatrie hinwegzusehen, wäre aber fahrlässig angesichts Tausender von Menschen, die Jahr für Jahr zwangspsychiatrisiert werden (2013 etwa waren es rund 15 000).

Psychiatriekritiker Marc Rufer – selber seit Jahrzehnten als Psychotherapeut tätig – spricht von einem «medizinischen Schleier», der die gewalttätige Seite der Psychiatrie verhülle. Im Gespräch mit der WOZ rekapituliert er den historischen Hintergrund einer «im medizinischen Denkstil gefangenen» Disziplin, die sich bis heute auf wissenschaftlich unhaltbare Thesen stütze. Insbesondere kritisiert er den massiven Einsatz von Psychopharmaka, die zwar die Lobotomie obsolet gemacht haben, aber auch zu schweren Hirnschäden und Persönlichkeitsveränderungen führen können. Rufers Kritik setzt aber schon bei der Diagnostik an. Denn obschon seit Jahren anerkannt ist, dass es sich bei psychiatrischen Diagnosen um Konstrukte handelt, die auf keinerlei klar definierten biologischen Gegebenheiten beruhen, dienen sie zur Legitimation für schwerwiegende Eingriffe. Für Rufer ist eine Diagnose allein schon durch ihre Existenz stigmatisierend – wer einmal als «schizophren» bezeichnet wurde, wird dieses Etikett kaum mehr los.

Wie aber könnte eine Psychiatrie ohne Diagnosen funktionieren – und vor allem: ohne Gewalt? Es ist ein wenig wie mit der Polizei: Sosehr es eine demokratisch legitimierte Institution braucht, die das Gewaltmonopol innehat, sosehr gilt es, jeden Missbrauch ihrer Macht zu bekämpfen. Nun aber vermag sich die ordnungspolitische Funktion (und damit auch die Gewalt) in Zeiten wie diesen immer besser hinter freundlichen Schleiern zu verstecken. Zum Tragen kommt dabei ein Mechanismus, den der französische Philosoph Michel Foucault schon in den siebziger Jahren beschrieben hat: Je unmerklicher die Individuen gesellschaftliche Normen verinnerlichen, desto mehr erübrigt sich die sichtbare Intervention einer äusseren Instanz. Unter Schlagwörtern wie «Selbstverantwortung» wird an einer «Normalisierungsgesellschaft» gebastelt, in der Selbstdisziplinierung individualisiert und als Erweiterung der individuellen Freiheit gefeiert wird. Schon vor zehn Jahren fragte sich die Psychiatriehistorikerin Brigitta Bernet im Gespräch mit der WOZ, «ob der Alltag schon so weit von der Psychiatrie durchdrungen» sei, «dass es diese Anstalten nicht mehr braucht».

Noch gibt es die Anstalten. Nun aber sind es nicht mehr antipsychiatrische Linke, die ihre Abschaffung fordern, sondern neoliberale Rechte, die ihre Privatisierung forcieren. Aus linker Sicht geht es plötzlich darum, die Psychiatrie zu retten – vor der Kommerzialisierung. Umso dringender ist eine Psychiatriekritik, die auch die ökonomischen und demokratiepolitischen Aspekte beleuchtet. Und dabei auch die undankbare Rolle der Psychiatrie als letztes Glied in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext hinterfragt, indem sie die Folgen des Versagens aller anderen Bereiche auf sich nehmen muss. Je mehr eine Gesellschaft hier spart, desto eher schlägt ihr überforderter Apparat zurück – in Form von (pharmazeutischer) Massenabfertigung und Gewalt. Nicht die Abschaffung der Psychiatrie ist nötig, sondern ihr sozialer und personeller Aus- und Umbau. Es braucht mehr niederschwellige Angebote, die Menschen in Krisen frühzeitig zur Verfügung stehen – und nicht erst, wenn es zu spät ist. Besonders in Zeiten, in denen immer mehr Menschen aus sozialen Netzen fallen.

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