Streaming: Die vermessene Musik
Spotify denkt Musik nicht mehr in Werken, sondern in Momenten, Stimmungen und Emotionen. Mit den richtigen Daten wird dieser Ansatz die Musikindustrie transformieren. Von der Diskursmacht bis zur Robotermusik.
«Du bist der Mittelpunkt der Party, stimmts?» Denn: «24 Prozent deiner Songs sind tanzbar». Auf der Website des Streamingdienstes Spotify kann man sich jetzt über den eigenen Charakter aufklären lassen. Abgeleitet wird er vom eigenen Hörverhalten. «Menschen durch Musik verstehen» lautet die philanthropisch anmutende Überschrift des Projekts Spotify.me. Doch der Gestus täuscht. Verstanden werden will hier nicht der Mensch, sondern der Konsument in ihm.
Spotify.me zieht Rückschlüsse aus dem Hörverhalten seiner NutzerInnen, um sie als Zielgruppen ins Visier zu nehmen. So heisst es im Abschnitt, der sich an Werbekunden richtet: «Millenials: Engagiert. Einflussreich. Versierte Streamer. Hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie in ihrem Freundeskreis die ersten sind, die sich einen neuen Film ansehen». Oder: «Fitnessfans: Beim Laufen voll bei der Sache, lassen sich beim Musikhören treiben. Höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie: Energydrinks kaufen, sich im Internet Videos zum Thema Gesundheit und Fitness ansehen».
Die Vertonung des Lebens
Noch ist Spotify.me kaum mehr als algorithmisches Kaffeesatzlesen. Doch bereits in ein paar Jahren dürften Personengruppen und ihre Bedürfnisse präzise umrissen sein. Für Spotify sind diese Kenntnisse unverzichtbar. Denn hinter der Fassade der Einfühlsamkeit tobt unerbittlich der Wettbewerb. Im Kampf um die Gunst der Musikfans haben sich die Streamingdienste zu Forschungslaboratorien entwickelt, die sich einen technologischen Wettlauf liefern. Unter ihrem Einfluss hat sich die Musikbranche endgültig in einen datengetriebenen Industriezweig verwandelt. An vorderster Front steht Taktgeber Spotify.
Mit einem Katalog von rund 30 Millionen Songs und über 140 Millionen aktiven NutzerInnen in 60 Ländern verfügt Spotify über eine unerschöpfliche Datenquelle. Spotify weiss nicht nur, welche Musik wo, wann und wie lange gespielt wird, sondern auch in welchem sozialen Kontext. Dabei helfen die Informationen über den Standort, Fotos, Kontakte und Social-Media-Profile der NutzerInnen, die nach und nach erschlossen werden. Kürzlich nahm Spotify die Zusammenarbeit mit Wetterdiensten auf, um sich ein Bild von den meteorologischen Verhältnissen zu machen, denen die UserInnen gerade ausgesetzt sind.
Dass Spotify laufend Datenquellen anzapft, dient in erster Linie einem Zweck: der perfekten Playlist. Konsequenter als jeder andere Streamingdienst denkt Spotify Musik nicht in Werken, sondern in Stimmungen und Momenten. «Anstatt uns an der Idee einer Musiksammlung zu orientieren, orientieren wir uns an deinem Leben», sagte Entwickler Shiva Rajaraman gegenüber dem Magazin «Wired». «Dinner with Friends», «Songs to Sing in the Shower» und «Sunday Morning», sie sollen sich zum Soundtrack des Lebens summieren und die Verknüpfung von Stimmung und Ereignis automatisieren. Um dabei nicht in die Generalisierungsfalle zu tappen und allen Nutzerinnen die gleiche Musik in die Ohren zu reiben, wenn sie sich mit Freunden zum Essen verabreden, lauscht Spotify immer mehr den individuellen Bedürfnissen. Der bislang erfolgreichste Schritt in diese Richtung war die Playlist «Discover Weekly», eine wöchentlich aktualisierte Empfehlung von dreissig Songs, zugeschnitten auf jede Hörerin, jeden Hörer. «Discover Weekly kennt meinen Musikgeschmack besser als ich selbst!» – Facebook ist voll mit solchen Kommentaren.
Neben der Personalisierung bemüht sich Spotify mit Listen wie «New Music Friday» oder «Fresh Finds» um die Früherkennung von Hits. In der Popwelt haben sich diese Listen zu einer Art Leitmedium entwickelt. Spotify-Playlists sind die neuen Billboard-Charts, hier suchen Agentinnen und Programmatoren nach dem nächsten glühenden Sternchen.
Getarnter Darwinismus
Sein seismografisches Potenzial verdankt Spotify dem Dienst Echo Nest. Gestartet als Doktorarbeit am MIT Media Lab, ist Echo Nest heute eine treibende Kraft bei der Vermessung von Musik. Entwickelt wurden Werkzeuge, um Audiospuren in Hunderte Merkmale wie Tempo, Lautstärke und Dynamik zu zerlegen und zu katalogisieren. 2014 hat sich Spotify das Start-up einverleibt und zum Herzstück der Plattform gemacht. Echo Nest wandelt die Millionen von Audiospuren in Datensätze um – und interpretiert sie. Um die einzelnen Songs spezifischen Emotionen und Stimmungen zuzuordnen, durchforstet der Dienst das Internet nach Stichworten und Beschreibungen, die mit dem Song in Zusammenhang gebracht werden.
Zu Playlists gerinnt die Informationsflut dank dem «Truffle Pig», einer internen Suchmaschine für Musik, die sich auf Adjektive und Stimmungen abrichten lässt. Wollte Spotify etwa eine «Couch-Potato»-Playlist erstellen, liesse man das «Trüffelschwein» erst nach «gemütlichen», «zurückgelehnten» Songs suchen, die dann von internen KuratorInnen sortiert und in eine Reihenfolge gebracht werden. Perfektioniert aber wird die Playlist erst von den NutzerInnen. Mit ihrem Hörverhalten bestimmen sie, welche Tracks tatsächlich in der Playlist bleiben. Wird eine Nummer oft übersprungen, entspricht sie offenbar nicht den Erwartungen und wird aussortiert. Übrig bleibt ein Destillat, ein Konsens darüber, welche Songs sich eignen, um auf der Couch gehört zu werden. Ästhetischer Darwinismus sozusagen. Und wie für die grossen Techkonzerne üblich, verkauft Spotify seinen UserInnen Produkte, die ohne deren Zutun nie zustande kämen.
Gestelzte Algorithmen
Während sich EntwicklerInnen und NutzerInnen der perfekten Playlist entgegenhören, werden im Hintergrund bereits nächste, weitaus grössere Forschungsfelder beschritten. Mit François Pachet holte sich Spotify im Juli 2017 einen der renommiertesten Forscher an der Schnittstelle von Musik und künstlicher Intelligenz (KI) ins Boot. Vor einem Jahr machte Pachet Schlagzeilen als Kopf der «Flow Machines», jener Algorithmen, die Musik ohne menschliches Zutun komponieren. «Mr. Shadow» und «Daddy’s Car» heissen die Prototypen, die damals um die Welt gingen.
Noch klingt sie gestelzt, die algorithmische Musik. Es sind hörbar Gehversuche, aber genauso hörbar Ankündigungen einer Technologie, die bald die ganze Kreativwirtschaft umkrempeln wird. Spotify dürfte an diesem Prozess wesentlich beteiligt sein.
Pachet werde sich auf Tools fokussieren, die KünstlerInnen in ihrem kreativen Prozess unterstützen, heisst es in einem Blog-Post von Spotify. Was das genau zu bedeuten hat, bleibt vorerst der Fantasie überlassen: Gut möglich, dass Spotify bald eine ganze Armada von KI-Bands betreibt, die den HörerInnen «on the go» Musik unter die Füsse komponiert. Gut möglich auch, dass MusikerInnen der Zukunft KI zu Hilfe nehmen, um aus ihren alten Songs neue abzuleiten. Möglich auch, dass sich KI dereinst ein eigenes Ziel setzt: «Musik durch Menschen verstehen».