Massenmord in Las Vegas: Die Banalität des Waffengeschäfts
Gott, Gewehr und Vaterland: So lautet die patriotische Dreifaltigkeit in den Vereinigten Staaten. Doch die eigentlichen Ursachen für den Waffenkult sind profanerer Natur – und reichen zurück ins 19. Jahrhundert.
Nach dem Massenmord in Las Vegas vom 1. Oktober beschloss der Kaffeehausbesitzer Jonathan Pring aus dem benachbarten US-Bundesstaat Arizona spontan, seine eigenen Schusswaffen bei der lokalen Polizei abzugeben. Um NachahmerInnen zu ermutigen, dokumentierte er die Gewehrübergabe mit Text und Bild auf Facebook. Die Reaktion war gewaltig, und zwar in jeder Hinsicht. Neben lobendem Zuspruch erhielt Pring so viele hasserfüllte Botschaften und Morddrohungen, dass er schliesslich nicht nur seinen Post entfernen, sondern auch seine Frau und den kleinen Sohn an eine unbekannte Adresse in Sicherheit bringen musste.
Spektakuläre Schiessereien einen die US-Bevölkerung nicht, sie heizen einen bereits glühend heissen Konflikt weiter an. Die einen fordern angesichts der jüngsten Tragödie eine Verschärfung der Waffengesetze. Die anderen gehen hin und kaufen zur Sicherheit noch mehr Schusswaffen. Es gibt in den USA keine generelle Meldepflicht und keine gesetzliche Obergrenze für den Kauf von Gewehren, Pistolen oder Munition – und auch keine nationale Datenbank zum zivilen Waffengeschäft.
Eine schiesswütige Minderheit
Mittlerweile zirkulieren in den USA schätzungsweise 300 Millionen private Feuerwaffen, ungefähr eine Waffe pro EinwohnerIn. Allein in den letzten zwanzig Jahren sind rund 70 Millionen neue hinzugekommen. Doch der Waffenbesitz ist, wie zahlreiche Studien belegen, demografisch wie geografisch sehr ungleich verteilt. Der typische Waffenbesitzer ist weiss, männlich und lebt im Süden der USA. Weisse US-AmerikanerInnen sind doppelt so oft bewaffnet (zu über 40 Prozent) wie AfroamerikanerInnen oder Latinos und Latinas (zu je rund 20 Prozent). Zwei Drittel aller Haushalte sind waffenfreie Zonen.
Vor vierzig Jahren besass noch mehr als die Hälfte der Familien mindestens ein Gewehr oder eine Pistole. Heute teilt ein Drittel der Bevölkerung die Schusswaffen unter sich auf, wobei eine kleine Minderheit, nämlich knappe drei Prozent, über mehr als die Hälfte aller Flinten verfügt und auch die meisten aktuellen Waffenkäufe tätigt. Zu dieser Kategorie der Waffennarren gehörte auch der Las-Vegas-Schütze Stephen Paddock, in dessen Besitz die Polizei im Nachhinein 47 Waffen sicherstellte. 33 Gewehre hatte der Täter im letzten Jahr gekauft und ein Dutzend davon ganz legal zu automatischen Schnellfeuerwaffen umgebaut.
Wie kommt es, dass die Minderheit der WaffenbesitzerInnen in den USA die öffentliche Debatte um Waffengesetze dominieren kann? Und das in einem Land, in dem nachweislich jede Woche mehrere Kinder andere Kinder erschiessen und Dutzende von Jugendlichen durch Waffengewalt umkommen? Einem Land, in dem die Mehrheit der über 30 000 Schusswaffenopfer pro Jahr Menschen sind, die sich in einer Krisensituation selber umgebracht haben, wo aber auch Massenerschiessungen alltäglich geworden sind?
Die Macht der NRA
Wer in den USA lebt, weiss aus eigener Anschauung: Die WaffenbesitzerInnen sind selbstbewusster und politisch besser organisiert als die Fachleute und BürgerInnen, die mit stichhaltigen Argumenten eine striktere Kontrolle und Beschränkung der privaten Schusswaffen verlangen. Der 1871 als Sportschiessverein gegründete Waffenverband NRA (National Rifle Association) ist heute die mächtigste Lobbyorganisation in Washington. In den bewegten sechziger und siebziger Jahren mutierte die Organisation nach internen Machtkämpfen und nicht zuletzt als Reaktion auf die Bürgerrechtsbewegung zu einer rechtslastigen politischen Kraft. Die gegenwärtig fünf Millionen NRA-Mitglieder sind grösstenteils feurige EinthemenwählerInnen. Das heisst, sie unterstützen stets den Kandidaten oder die Kandidatin, die ihnen die grösste Waffenfreiheit versprechen. Und sie protestieren lauthals, sobald ein Kongressmitglied das Geschäft mit Waffen regulieren will.
Die NRA hat vor einem Jahr die Wahl von Donald Trump mit dreissig Millionen US-Dollar unterstützt und präsentiert jetzt zusammen mit ihrer Zwillingsschwester, der Waffenindustrie, eine lange politische Wunschliste: Lockerung des Exports von zivilen Schusswaffen, grosszügige Genehmigungen zum Tragen von verdeckten Waffen in allen Bundesstaaten, Zulassung von Schalldämpfern auf den Gewehren, Erweiterung der Jagdreviere auf öffentlichem Land und Aufhebung des aus Gründen des Umweltschutzes erlassenen Verbots von Bleimunition …
Paradoxerweise ist seit dem Amtsantritt des rechtskonservativen Präsidenten der Absatz an Schusswaffen in den USA, der zuvor durch Panikkäufe nach der Wahl des Afroamerikaners Barack Obama gestützt worden war, merklich zurückgegangen. Allein mit technisch ausgeklügelteren Modellen für den Mann oder handlicheren und farbigeren Gewehren für Frau und Kind, die in den USA in jeder Walmart-Filiale angeboten werden, ist das Handfeuerwaffengeschäft wohl nicht zu retten. Eher schon durch ideologischen Rückgriff auf den unverwüstlichen Männlichkeitswahn, inklusive Sexismus und Rassismus.
Blick in die Geschichte
HistorikerInnen streiten heute verbissen über die Quantität und Qualität der Waffen zur Gründungszeit der Nation. Beide Seiten wollen aus dem Stand der damaligen Wehrhaftigkeit Argumente für die gegenwärtige Debatte ableiten. Dabei sind die Gesellschaft, die politischen Prozesse, die Gewehre selbst und die militärische Struktur des 17. und 18. Jahrhunderts mit heute kaum zu vergleichen. Die jungen Bundesstaaten waren bei der Eroberung und Sicherung ihres Territoriums auf eine «wohlgeordnete Miliz» angewiesen. In diesem Zusammenhang wurde 1789 das Recht zum Waffentragen in der Verfassung der USA verankert. 2008 entschied das Oberste Gericht mit fünf zu vier Stimmen, dass dieser historische Verfassungszusatz auch heute noch das Recht auf individuellen Waffenbesitz garantiert.
Den Waffenfans reicht es aber nicht, dass ihr Hobby rechtlich abgesichert ist. Denn sie führen einen rechtspopulistischen Kulturkampf «für Gott, Gewehr und Vaterland». WaffenbesitzerInnen bezeichnen sich in Umfragen weitaus häufiger als «typische Amerikaner» als ihre unbewaffneten ZeitgenossInnen. Sie behaupten, dass die Liebe zum Gewehr patriotisch sei und in der DNA der Vereinigten Staaten stecke.
Das sei mitnichten so, entgegnet die Historikerin Pamela Haag: «Die Waffenkultur im heutigen Amerika entwickelte sich aus einer ganz gewöhnlichen und beharrlichen Suche nach neuen und grösseren Märkten, die aussergewöhnliche gesellschaftliche Auswirkungen hatte.» Haag dokumentiert in ihrem preisgekrönten Buch «The Gunning of America» (Die Aufrüstung Amerikas), wie die anfänglich auf staatliche Subventionen angewiesenen Waffenfabrikanten in den USA eine eigentliche Waffenkultur erst geschaffen haben. Die romantisierten und aus heutiger Sicht reichlich rassistischen Bilder von Cowboys und Jägern im Wilden Westen, die ab dem 19. Jahrhundert Teil von Werbefeldzügen waren, verwandelten das Gewehr wirkungsvoll von einem blossen Werkzeug zu einem emotional aufgeladenen Symbol, das für Männlichkeit, Individualität und Patriotismus steht. Waffen wurden überhöht und verklärt – und in der Folge massenhaft gekauft. Haag fasst zusammen: «Die Tragödie der amerikanischen Waffengewalt entstand aus der Banalität des amerikanischen Waffengeschäfts.»