Jugendproteste in den USA: «Tötet unsere Zukunft nicht!»

Nr. 13 –

«Ihr wärt nichts und niemand, wenn eure Mitschülerinnen und Mitschüler noch lebten.» So verhöhnten unerbittliche Waffennarren die jungen OrganisatorInnen der Grosskundgebungen gegen Waffengewalt vom letzten Wochenende. Bevorzugte Zielscheibe ihres Spotts waren die Überlebenden des Schulmassakers vom 14. Februar in Florida. Tatsache ist: Siebzehn SchülerInnen der Parkland High School sind nicht mehr am Leben, sondern tot, ermordet mit einer halbautomatischen AR-15. Und ihre SchulkollegInnen haben es innert kürzester Zeit geschafft, das individuelle Trauma, die Angst und Trauer in eine wütende Millionendemo gegen Waffengewalt umzuwandeln.

Sie haben eine Bewegung losgetreten, die bereits erste Resultate zeitigt: Etliche Warenhausketten regulieren seit kurzem freiwillig ihren Waffenverkauf. Hotels und Fluggesellschaften beenden ihre Spezialrabatte für Mitglieder der Waffenlobby NRA (National Rifle Association). Verschiedene US-Bundesstaaten prüfen endlich eine Verschärfung ihrer Waffengesetze.

Seit Jahrzehnten befürwortet die Mehrheit der US-Bevölkerung strengere Waffengesetze. Doch seit Jahrzehnten blockiert der Kongress unter Druck der mächtigen NRA alle entsprechenden Vorstösse. In dieser Pattsituation braucht es frischen Wind. «Geht aus dem Weg, wenn ihr für Änderungen zu alt seid, wir übernehmen den Fall», verkündeten selbstbewusste Teenager am «March for Our Lives» in Washington D. C. und in Hunderten anderer Städte im ganzen Land. Etliche der jungen DemonstrantInnen weisen darauf hin, dass ein Verfassungsartikel aus dem 18. Jahrhundert nicht die Waffen des 21. Jahrhunderts regulieren kann und soll. Diese Einsicht scheint massvoll vernünftig, doch sie ist hierzulande radikal. Denn der zweite Zusatzartikel zur Verfassung der USA, das Recht auf privaten Waffenbesitz, wird von rechten Kreisen zum patriotischen Mythos überhöht: Mit dem Gewehr in der Hand kämpft der echte Amerikaner und wehrt sich die standhafte Amerikanerin gegen allfällige tyrannische Gelüste der Regierung. Das sei doch alles Mumpitz, sagen die Jungen, und sie haben völlig recht.

Nicht nur die SchülerInnen in Parkland, sondern auch andere SprecherInnen berichten an den Demos, manchmal unter Tränen oder mit langen Pausen, von Waffengewalt in ihrer Schule, ihrer Familie oder in ihrem Wohnquartier. SchülerInnen beschreiben ihr routinemässiges Amoklaufüberlebenstraining, sie haben in ihrem jungen Leben nie etwas anderes gekannt. Die Stellungnahmen sind alle sehr persönlich, aber nie privat. ZeugInnen von Schulmassakern hören zu, wenn AltersgenossInnen von Schiessereien in der Familie erzählen. Und beide Gruppen lernen, wie sehr Waffengewalt afroamerikanische Gemeinschaften bedroht. Wie von selbst ergibt sich die inhaltliche Verbindung zwischen Frauen- und Jugendbewegung sowie Black Lives Matter. Einzig Kriegsgegnerinnen und Pazifisten sind in diesem grössten Jugendprotest seit den Anti-Vietnamkrieg-Demonstrationen der sechziger Jahre auffallend untervertreten – obwohl die USA zurzeit viele und endlose Kriege führt.

Die DemonstrantInnen von 2018 sind im Gegensatz zu ihren 68er-VorgängerInnen ziemlich pragmatisch und realpolitisch eingestellt. Bei der Vorbereitung des «March for Our Lives» haben sich die OrganisatorInnen auf die Erfahrung und die finanziellen Ressourcen von «erwachseneren» Gruppierungen gestützt, sich gleichzeitig allerdings jegliche politische Einmischung verbeten. Und an den Grosskundgebungen selbst wurde nicht bloss lautstark protestiert: Die Anlässe wurden auch fleissig für die Registrierung von Tausenden neu stimmberechtigter WählerInnen genutzt, um bei den Zwischenwahlen im Herbst direkt auf die Zusammensetzung des US-Kongresses Einfluss nehmen zu können.

Frühere Jugendbewegungen wollten «alles, und zwar subito». Die jungen Menschen in den USA wollen zunächst ganz einfach überleben. Sie appellieren an Politik und Gesellschaft: «Tötet unsere Zukunft nicht!» In Donald Trumps verrücktem Amerika sind Vernunft und Zurückhaltung sowie die Bereitschaft, Bündnisse und Kompromisse einzugehen, offenbar zur eigentlich revolutionären Tugend geworden.