Ohnmacht einer Lehrerin: Abschied von Mira

Nr. 41 –

Ein Mädchen wehrt sich gegen die Misshandlungen seines Vaters. Dann verschwinden die beiden plötzlich. Niemand will verantwortlich sein. Wie konnte das passieren? Chronik einer angekündigten Entführung.

Am 4. Mai verkündet eine kurze Textnachricht den Tod von Mira*. Die Botschaft mit dem verstörenden Inhalt erreicht Schulkolleginnen und Freunde um 15.11 Uhr an diesem Donnerstagnachmittag. Sie kommt von Miras Handy.

Hallo zusammen, heisst es in der Nachricht. Meine Schwester Mira hat uns mit 16 Jahren verlassen. Am 30.4.2017 um 11:45 ist sie von einem Auto überfahren worden und war schwer verletzt. Sie kam nicht durch. Ihre letzten Worte waren, dass ihr alles leid tut.

Einige FreundInnen sind am Boden zerstört. Aber als Stefanie, eine Mitschülerin und enge Freundin von Mira, die Nachricht sieht, ist ihre Reaktion eine andere: Das kann nicht sein, sagt sie zu ihrer Mutter. Das ist eine Lüge. Auch die Mutter traut der Todesnachricht nicht. Sie will mehr wissen, irgendwo eine Bestätigung erhalten. Sie nimmt ihr Handy und ruft in der Schule ihrer Tochter an.

Fast zur gleichen Zeit beginnt das Telefon von Frau Steiner zu klingeln. Frau Steiner ist Miras Klassenlehrerin und hatte immer einen guten Draht zu ihr. Aufgeregte Stimmen. Es sind ihre SchülerInnen, Miras FreundInnen, die anrufen und sagen: Sie, Frau Steiner, wir haben eine traurige Botschaft. Andere sind verunsichert und stellen Fragen: Stimmt das, Frau Steiner? Wissen Sie etwas? Ist Mira wirklich tot?


Eineinhalb Jahre zuvor. Spätsommer 2015, Schulanfang, Frau Steiner, die seit Jahren in dieser Zürcher Gemeinde unterrichtet, begrüsst ihre neuen SchülerInnen. Sekundarschule C, eine kleine Klasse, acht Knaben, drei Mädchen. Eine davon ist Mira.

Mira ist klein, schön und stark. Ein hochanständiges Mädchen, sagt jemand, der sie gut kennt. Sehr sympathisch und freundlich. Und frech. Sie ist – mehr noch als andere in ihrem Alter – ein rebellisches Mädchen: eine, die sich von niemandem etwas bieten lässt. Als sie sich zum Schulanfang in der Klasse vorstellen muss, sagt sie: Ich heisse Mira, und mein Hobby ist es, anderen auf die Nerven zu gehen.

In der Schule zeigt sich rasch, dass das nicht bloss die Provokation eines Teenagers ist. Mira eckt an, zankt sich mit MitschülerInnen, freundet sich mit einigen an und überwirft sich gleich wieder mit ihnen. Mira fällt im Unterricht auf. Nichts Gravierendes, aber sie hat ihre Ausfälle: Mal wirft sie die Gegenstände eines Mitschülers vom Pult, mal steht sie mitten im Unterricht auf und brüllt jemanden an. Einmal greift sie eine Mitschülerin mit einem Etui an. Ein anderes Mal bespuckt sie einen Kollegen.

Mira stammt aus dem Irak. Sie kam als Kind in die Schweiz, wurde in der ersten Klasse eingeschult. Die Sprache lernte sie schnell, aber sie hat schulische Defizite. Frau Steiner beschliesst, wegen der Auffälligkeiten das jährlich stattfindende Standortgespräch mit den Eltern vorzuziehen. Im Februar 2016, ein halbes Jahr nach Schulbeginn, lädt sie die Eltern zum Gespräch in die Schule ein.

Manche Ereignisse nimmt man im Moment nicht als aussergewöhnlich wahr. Sie ziehen vorüber, und erst danach merkt man: Da war doch etwas schief. So ein Tag ist für Frau Steiner der 5. Februar 2016. Oder genauer: der Tag davor.

Vor dem Gespräch mit Miras Eltern geht das Mädchen auf Frau Steiner zu. Es sagt, es könne ja verstehen, dass die Lehrerin mit den Eltern reden müsse. Aber Mira bittet Frau Steiner inständig, dem Vater nicht zu erzählen, dass sie einen Kollegen bespuckt habe. Der Vater sei sehr streng.

Frau Steiner zögert. Sie erklärt Mira, dass sie die Eltern über die Vorfälle in der Schule unterrichten müsse. Sie verspricht ihr aber, das Spucken nicht zu erwähnen. Es ist das erste Mal, dass Mira Frau Steiner ihr Vertrauen schenkt.

Noch etwas, sagt Mira dann. Gälled Si, ich trage morgen beim Gespräch einen Hidschab.

Frau Steiner ist verdutzt.

Sehen Sie, so blöd dürfen Sie dann morgen eben nicht schauen, wenn mein Vater dabei ist.


Das Gespräch mit den Eltern verläuft gut. Der Vater ist leise, zurückhaltend. Als er von Miras Problemen in der Schule hört, reagiert er kaum. Er höre das natürlich nicht gern, sagt er. Aber es sei schon gut, wenn sich die Schule darum kümmere.

Das Treffen hinterlässt trotzdem ein zwiespältiges Gefühl bei Frau Steiner. Mira wirkt wie ausgewechselt: handzahm, leise, fast schon eingeschüchtert. So kennt Frau Steiner sie nicht. Auch die Zurückhaltung des Vaters findet Frau Steiner seltsam: Er ist derart um Beherrschung bemüht, dass es Frau Steiner schon fast unheimlich findet.

Eine andere Person, die Miras Vater kennt, beschreibt ihn ähnlich. Als kleinen Mann, nicht besonders kräftig, sehr still, aber mit eiskaltem Blick. Wann immer sie ihn sieht, bekommt sie Hühnerhaut. Er scheint voller Aggression. Sie findet ihn einschüchternd.

Das Treffen und die Umstände, unter denen es stattfindet, geben Frau Steiner zu denken. «Für mich als Bünzlischweizerin war das seltsam: Ich hatte dieses Mädchen noch nie mit einem Kopftuch gesehen. Und plötzlich trug sie eines. Bei einem anderen Gespräch, an dem nur die Mutter anwesend war, trug sie keines. Ich habe Mira später darauf angesprochen, ob dieses Doppelleben nicht anstrengend sei. Auf dem Schulhof trug sie ja nie ein Kopftuch. Sie winkte ab: ‹Kein Problem. Ich habe einen Ort, wo ich mich umziehen kann. Ich habe das im Griff.›»

So erlebt Frau Steiner Mira immer wieder. Gegen aussen hin will sie zeigen: Ich kann das alleine. Ich schaffe das.


Im Lauf des Jahres verstärkt sich das Gefühl von Frau Steiner, dass etwas nicht stimmt, dass Mira es eben nicht alleine schafft. Mira hat Absenzen. Taucht einfach nicht in der Schule auf. Irgendwann stellt sich heraus, dass sie die Nachrichten, die Frau Steiner im Klassenchat über Whatsapp verschickt, nicht erhält.

Was ist los?, fragt Frau Steiner. Und dann fallen ihr plötzlich Miras blaue Flecken auf.

Ich erzähle Ihnen jetzt eine Geschichte, die glauben Sie nicht: Ich ging mit dem Handy in der Hand die Treppe runter, als ich plötzlich stolperte, umfiel und mein Handy aus dem Fenster auf die Strasse flog und kaputt ging.

Das glaube ich dir wirklich nicht.

Aber was tun? Vielleicht stimmt es ja, was Mira erzählt. Manchmal kommt zu allem Unglück wirklich auch noch Pech dazu. Frau Steiner achtet von nun an verstärkt auf Mira. Sie ist misstrauisch. Zu Hause erzählt sie ihrem Ehemann, dass sie ein schlechtes Gefühl habe. Mehr nicht.


Die Alarmglocken läuten im Oktober 2016. Das zweite Schuljahr hat gerade begonnen, als eines Abends das Telefon von Frau Steiner klingelt. Es sei etwas vorgefallen, sagt ihr eine Arbeitskollegin, die Mutter von Miras Schulfreundin Stefanie habe angerufen. Mira ist an diesem Abend bei ihrer Schulfreundin Stefanie und weigert sich, nach Hause zu gehen. Die beiden waren am Nachmittag gemeinsam mit zwei Jungs im Dorf unterwegs, Mira ohne Kopftuch, als sie unversehens Miras Vater über den Weg liefen.

Jetzt wartet sie bei Stefanie in der Tür, und die sagt ihrer Mutter: Mira kann nicht nach Hause. Ihr Vater bringt sie um!

Teenagerdrama, denkt diese und will Mira nach Hause fahren. Aber Mira ist es bitterernst. Sie krempelt ihre Ärmel und ihre Hosen hoch und zeigt ihr die Narben.

Als sie zwölf gewesen sei, habe ihr Vater sie mit einem Seil ans Treppengeländer gefesselt, erzählt Mira. Die Narben an Hand- und Fussgelenken sind auch Jahre später noch sichtbar. Ich gehe auf keinen Fall nach Hause, sagt Mira. Stefanies Mutter sieht Mira in die Augen und erkennt die nackte Angst. Sie sieht: Das hier ist nicht bloss Theater, das ist ein echtes Problem.


Es bleibt nicht bei diesem einen Zwischenfall. Manchmal übernachtet Stefanie bei Mira, zum Schutz, damit der Vater Mira nichts antun kann. Manchmal übernachtet Mira bei Stefanie, weil sie wieder nicht nach Hause will. In der Schule setzen sich nun Schulsozialarbeiterin und Lehrerin zusammen, beraten, was sie tun können. Sie reden mit ihrer Schülerin. Mira will Schutz. Sie sagt: Es ist schlimm zu Hause, ein Gefängnis. Ich darf nichts. Ich stehe unter totaler Kontrolle. Manchmal darf ich nachts nicht einmal die Zimmertür schliessen. Ich habe Angst vor meinem Vater.

Gleichzeitig sagt sie: Mischt euch nicht ein! Sonst wird alles noch schlimmer. Sie verrät keine Details, sie will nicht alles erklären. Noch nicht.

Frau Steiner ist alarmiert.

Dann tauchen plötzlich Fotos auf. Bilder, die Mira von sich geschossen hat. Blaue Flecken im Gesicht. Schrammen. Verbrennungen von ausgedrückten Zigaretten. Prellungen an Armen, Beinen und Schultern. Mira erzählt einer Freundin, dass ihr Vater sie mit sechzehn Jahren verheiraten werde. Sie bittet sie, die Bilder aufzubewahren. Nur für den Fall.


In der Schule gibt es ein ziemlich genau geregeltes Vorgehen für Kriseninterventionen. Anfangspunkt ist immer ein auffälliges Verhalten im Unterricht oder auf dem Schulhof. In einem Papier heisst es: «Das Ziel der Intervention ist, eine kritische Entwicklung zur möglichen ‹Katastrophe› aufzuhalten oder das bereits Eingetretene zu bewältigen.»

Die Katastrophe ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingetreten. Zumindest glaubt man das in der Schule. Mit grossem Engagement versucht man, sie noch abzuwenden. Frau Steiner redet mit der Schulsozialarbeit, dann mit der Schulleitung und mit der Schulpflege. Jedes Gespräch kostet Zeit. Zeit, in der Miras Leiden vielleicht grösser wird, sicher aber nicht gelindert werden kann.

Gemeinsam berät man das Vorgehen: Soll man sich an andere Stellen wenden? Sollen die Eltern informiert werden? Oder führt das zu einer Verschlechterung der Situation? Am 16. November 2016 treffen sich alle Beteiligten. Man beschliesst, die Vorfälle der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) zu melden. Man kommt überein, die Eltern nicht zu informieren.

Die Schule füllt das Formular aus: Angaben zur meldenden Person, Angaben zur gefährdeten Person, Beschreibung der Gefährdungssituation, aktueller Grund für die Gefährdungsmeldung, involvierte Fachpersonen, nahestehende Personen, Ist die gefährdete Person über die Gefährdungsmeldung orientiert?, Ist bei der Abklärung durch die Kesb etwas zu beachten?, Anmerkungen, Datum, Unterschrift.

Dann geht die Meldung auf die Post.

Fast ein Monat ist seit den jüngsten Gewaltvorfällen vergangen, und Frau Steiner hofft, dass nun endlich etwas geschieht. «Wir dachten, dass die Gefährdungsmeldung relativ schnell zu einem Resultat führt», sagt sie.

Aber Frau Steiner täuscht sich.


Als Frau Steiner Mira über die Gefährdungsmeldung informiert, reagiert das Mädchen mit Ablehnung. Sie will nicht mehr mit der Lehrerin reden, fühlt sich hintergangen. Machen Sie doch, was Sie wollen!, sagt sie. Sie hören eh nicht auf mich.

Zunächst herrscht Funkstille. Bis Mira an einem Tag Ende November überschminkt in der Schule auftaucht. Am Morgen hat sie gefehlt, und als sie doch in die Schule kommt, glaubt Frau Steiner unter der Schminke einen blauen Schimmer zu erkennen. Auch der Schulsozialarbeiterin fällt das auf. Aber Mira ist auf Abstand gegangen, lässt niemanden an sich ran.

Dann kommt in der Schule ein Gerücht auf, das für Unruhe sorgt. Miras Vater wolle zum Flughafen, er plane eine Reise und wolle Mira mitnehmen. Die Information wird an die Kesb weitergeleitet, worauf diese ein Treffen einberuft. Seit der Gefährdungsmeldung ist etwas mehr als eine Woche vergangen, und die Kesb hat sich noch nicht in den Fall eingeschaltet. Plötzlich herrscht eine Krisensituation. Alle sind überrumpelt. Man holt Mira aus dem Unterricht, um sie zu befragen. Als sie das Aufgebot sieht, verliert sie die Fassung. Sie hat das Gefühl, komplett die Kontrolle zu verlieren.

Das Gerücht über eine geplante Auslandsreise lässt sich nicht erhärten. Mira geht noch stärker auf Abstand. Frau Steiner erzählt sie nichts mehr. Es geht mir gut, sagt sie, wenn sie gefragt wird. Mehr nicht.

Bis zum 5. Dezember 2016.

Es ist ein Montagmorgen, als Mira und eine Freundin zu Frau Steiner gehen und sie um Hilfe bitten. Mira sagt ohne Umschweife: Ich will meinen Vater anzeigen.

Der Spaziergang vom Schulhof bis zur Polizei dauert eine Viertelstunde, aber in dieser kurzen Zeit berichtet Mira der Lehrerin ihr ganzes Leid: Sie erzählt von den verbalen Erniedrigungen, von den Drohungen, von den Misshandlungen. Sie erzählt, wie ihr Vater sie zur Strafe ans Treppengeländer fesselte. Wie er sie kürzlich so lange würgte, dass sie auch am nächsten Morgen noch ein blau angelaufenes Gesicht hatte, das sie nur mit Mühe überschminken konnte. Wie ihr Vater kaltes Wasser in die Badewanne laufen liess und ihren Kopf unter Wasser drückte. Wie er sie mit Stöcken schlug. Wie er sie bei Eiseskälte über Nacht auf den Balkon aussperrte. Wie auch ihre Geschwister unter ihm litten. Wie sie den Koran auswendig lernen und dem Vater vortragen mussten. Und wie sie beschimpft und geschlagen wurden, wenn sie es nicht richtig machten. Mira sagt, dass sie am meisten aushalten müsse, weil sie die Älteste sei, weil sie sich nicht alles gefallen lasse, weil sie sich widersetze. Die Mutter geht manchmal dazwischen, sagt Mira, aber dann muss auch sie einstecken.

Auf dem Polizeiposten erzählt Mira nochmals alles im Detail. Die Polizistin schiesst Fotos von den Verletzungen, die man noch schwach erkennen kann.

Frau Steiners Handy klingelt: Miras Vater. Es ist Mittag, und Mira ist nicht zu Hause aufgetaucht. Frau Steiner weiss, dass Mira zehn Minuten nach Schulschluss zu Hause sein muss, sonst kommt der Vater auf den Schulhof, um die Tochter zu holen. Sie lässt das Telefon läuten. Der nächste Anruf kommt vom Schulleiter: Miras Vater steht vor der Schule! Kurz darauf wird der Vater verhaftet und in Untersuchungshaft gesetzt.

Für Mira ist der Tag noch nicht zu Ende. Zu dritt fahren sie nach Zürich zur Kriminalpolizei, wo Mira ihre Aussage wiederholt. Es dauert Stunden. Aber Mira ist erleichtert, sie wirkt gelöst. Sie macht Scherze, ist fast überdreht.

Sie erhält eine Beiständin. Und dann heisst es: Ihr könnt nach Hause.


Als Frau Steiner am Abend zu Hause ankommt, ist sie völlig fertig. Sie holt sich ein Glas Wein, will den Tag ruhig ausklingen lassen, als schon wieder das Telefon läutet. Mira ist nicht zu Hause angekommen.

Sie hatte Frau Steiner gesagt, sie wolle zu ihrer Mutter. Aber vor der Tür muss sie umgekehrt sein. Als es längst dunkel ist, findet sie die Polizei im Dorf und bringt sie an einen geheimen Ort, wo sie die nächsten zehn Tage verbringt.

Die Lage bleibt angespannt. Mira steht unter enormem Druck. Sie will möglichst rasch wieder Normalität. Aber die gibt es nicht. Niemand weiss, wie es jetzt weitergeht, wie lange der Vater in Haft bleibt, ob und wann Mira zurück nach Hause zu ihrer Familie kann.

Die Person, bei der Mira zunächst notfallmässig untergebracht ist, sagt, dass Mira nach der Anzeige komplett allein gelassen wurde. «Niemand kümmerte sich um sie. Sie musste etwas erleben, was ich nie jemandem wünsche. Und dann sagte man ihr einfach: ‹Danke für die Aussage, schönen Abend, viel Glück.› Das geht doch nicht!»

Nach zehn Tagen verlässt Mira den Ort ihrer ersten Unterbringung. Sie wird durch die Institutionen gereicht: Sie kommt in jugendpsychiatrische Kliniken, taucht noch mal in der Schule auf, wird ein paar Tage später bewusstlos in einer S-Bahn aufgefunden, dann in eine geschlossene psychiatrische Anstalt gebracht, nachdem sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen … Die Lage war schon vorher mies. Aber jetzt ist sie noch mieser. Mira fühlt sich von der ganzen Welt allein gelassen.

Mira führt Eintrittsgespräche für geeignete Institutionen. Sie lehnt sie alle ab. Sie will nicht platziert werden, sie will nach Hause. Anfang 2017 landet sie doch in einer jugendpsychiatrischen Einrichtung. Dort kommt sie zurecht und kann sich erholen.

Zur Schule geht sie jetzt schon seit über zwei Monaten nicht mehr. Frau Steiner besucht sie hin und wieder. Beobachtet, wie es Mira zunächst immer schlechter, dann wieder etwas besser geht. Irgendwann, als Frau Steiner sie besucht, sagt Mira: Mir geht es gut. Ich sehe jetzt einen Sinn in allem. Ich kann den anderen meine Erfahrungen weitergeben und ihnen helfen.

Je länger das Gespräch dauert, desto merkwürdiger findet Frau Steiner die Richtung, die es nimmt.

Dann sagt Mira: Ich habe meinen Vater im Gefängnis besucht. Ich glaube, er kann sich bessern. Er hat eine Chance verdient.

Frau Steiner fasst es kaum: Das darf nicht wahr sein! Kommt Miras Vater etwa frei? Taucht er in der Schule auf? Bei mir zu Hause?

Frau Steiner findet es zum Verzweifeln. Aber sie hält still.

Mira sagt, sie habe die Anzeige gegen ihren Vater zurückgezogen. Anfang März stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen ihren Vater ein.


Es ist ein gängiges Problem, dass in Fällen von häuslicher Gewalt die Opfer den Strafantrag zurückziehen, sei es, weil die Familie und Bekannte Druck ausüben, sei es, weil das Opfer vom Beschuldigten abhängig ist. Handelt es sich um schwere Delikte, müssen sie von Amtes wegen verfolgt werden – auch wenn das Opfer einen Rückzieher macht.

Im Fall von Mira gibt es zwei Erklärungen, warum das Verfahren gegen ihren Vater am Ende doch eingestellt wurde: Als Tochter hat Mira ein Zeugnisverweigerungsrecht. Sie muss nicht gegen ihren eigenen Vater aussagen. Damit entfällt die Hauptbelastungszeugin. Das Verfahren kann ausserdem eingestellt werden, wenn eine Desinteressenerklärung unterzeichnet wird. Minderjährige können so eine Erklärung zwar nicht abgeben, sehr wohl aber die zugeteilte Prozessbeiständin.

Die zuständige Staatsanwältin will zum Fall von Mira keine detaillierten Auskünfte erteilen. Sie bestätigt aber, dass das Verfahren eingestellt wurde: «Sie können davon ausgehen, dass die Beweismittel nicht ausreichten, um das Verfahren weiterzuführen.»


Im Frühling ist Miras Vater wieder auf freiem Fuss. Mira kehrt Ende März zurück in die Schule und zieht bald darauf wieder zu Hause ein. Für einen kurzen Moment scheint es, als würde ihr sehnlichster Wunsch – die Rückkehr zur Normalität – Wirklichkeit werden.

Dann gelangt über Umwege eine Meldung an Frau Steiner: Miras Eltern hätten für die jüngere Tochter ein Gesuch für zwei zusätzliche Ferientage vor den Frühlingsferien eingereicht. Ob das auch Mira betreffe?

Frau Steiner fragt sie:

Findest du das nicht seltsam, dass er jetzt mit dir verreisen will? Hast du nicht Angst?

Nein, sagt Mira. Macht euch keine Sorgen.

Vorsorglich wird die Kesb informiert. Die Behörde kann theoretisch Weisungen erteilen, damit ein Elternteil nicht mit seinem Kind ausreisen kann. Ob sie dies im Fall von Mira getan hat, ist unklar. Die Kesb beantwortet dazu keine Fragen.

Am 5. April 2017 soll das erste Elterngespräch nach Miras Rückkehr stattfinden. Es geht um die schulischen Versäumnisse von Mira, um die Frage, was sie nachholen muss und was nicht. Frau Steiner ist es mulmig zumute: Hegt Miras Vater einen Groll? Macht er sie für seine Haft verantwortlich? In seinen Augen hätte sie ihn wahrscheinlich kontaktieren sollen, bevor sie mit Mira zur Polizei ging. Aber das stand ausser Frage. Was hätte sie tun sollen? Anrufen und fragen: Sie, stimmt es, dass Sie Ihre Tochter verprügeln?

Das Gespräch beginnt mit Verspätung. Am Morgen gibt es einen Zwischenfall mit dem Vater, Mira ruft die Polizei, weigert sich zunächst, am Gespräch teilzunehmen. Als sie am Nachmittag doch erscheint, zeigt sie ihre Ablehnung gegenüber ihrem Vater ganz offen. Ein Kopftuch trägt sie nicht. Die alte Scheu hat sie abgelegt. Wenn er spricht, verdreht sie die Augen. Der Vater aber ist ganz ruhig, zahm, mehr noch als beim allerersten Gespräch. Sie reden ausschliesslich über die Schule, die Gewaltvorfälle kommen nicht zur Sprache. Frau Steiner wäre dazu nicht in der Lage gewesen: «Das Bild, wie er sie misshandelt – das geht mir nicht mehr aus dem Kopf.»

Zum Schluss, als Mira entlassen worden ist, kommt das Feriengesuch zur Sprache. Miras Beiständin, die ebenfalls am Gespräch teilgenommen hat, fragt: Stimmt das, Sie wollen verreisen? Und: Nehmen Sie Mira mit?

Der Vater wiegelt ab. Miras Grossmutter sei zwar krank, aber die Reise komme wohl nicht zustande. Wenn doch, würde Mira mitkommen. Es würde ihr guttun, sagt er. Ihre Wurzeln zu spüren, die Grossmutter zu besuchen, die eine wichtige Bezugsperson für sie sei.

Die Beiständin fragt in aller Deutlichkeit: Sie kommen aber wieder zurück?

Ja, natürlich. Der Vater bricht in Tränen aus. Seine jüngste Tochter habe doch keine Nacht geschlafen, als er im Gefängnis war. Er würde doch jetzt nicht verreisen. Das würde er seiner Familie nicht antun.

Frau Steiner glaubt ihm kein Wort.


Eine Woche später geht Mira in die Schnupperlehre. Sie möchte eigentlich Kinderärztin werden, aber dafür reichen die schulischen Leistungen nicht. Stattdessen soll sie nun vor den Frühlingsferien drei Tage lang bei einem Detailhändler schnuppern, nach den Ferien in einer Kinderkrippe.

Am Dienstagmorgen, dem zweiten Schnuppertag, schreibt ihr Frau Steiner eine Nachricht: Wie war der erste Tag? Gefällt es dir?

Erst am Abend schreibt sie zurück: Nicht gut.

Warum denn nicht?

Einfach. Es gefällt mir nicht.

Frau Steiner schreibt ihr, sie solle durchhalten. Es gehe auch darum herauszufinden, ob ihr die Arbeit behage oder nicht.

Ich weiss. Ich gebe mir Mühe.

Kannst du es morgen noch durchziehen?

Ja, das kann ich.

Am Mittwoch erfährt Frau Steiner, dass Miras Schwester nicht in die Schule gekommen ist. Sie ruft beim Detailhändler an, um zu fragen, ob Mira erschienen sei. Man sagt ihr, Mira habe schon am Montagmittag den Bettel hingeschmissen. Sie ruft die Mutter an.

Es war ein Notfall. Die Grossmutter ist krank. Mira ist am Dienstagabend mit dem Vater und der jüngeren Schwester in die Türkei gereist.

Frau Steiner erschrickt: Jetzt ist sie weg. Das ist kein Notfall, das war von langer Hand geplant.

Kurz darauf kommt schon die nächste Hiobsbotschaft: Die drei hätten in der Türkei ihre Papiere verloren und seien in den Nordirak abgeschoben worden. Frau Steiner hat keine Zweifel: Auch das ist gelogen.


Am 4. Mai, einem Donnerstagnachmittag, verkündet um 15.11 Uhr eine kurze Textnachricht den Tod von Mira.

Ein paar Stunden zuvor tippt Frau Steiner eine Nachricht in ihr Handy: Mira, wie geht es dir?

Nicht gut, antwortet sie.

Was ist los?

Kann ich etwas tun?

Das Leben ist nicht immer schön, antwortet Mira am Anfang einer langen Nachricht. Das Leben kann auch nicht schön sein. Ich habe mit 13 angefangen, mein Leben zu ändern. Ich habe angefangen, Fehler zu machen, die ich heute bereue. Ich habe Menschen verloren, die ich nie verlieren wollte. Ich habe meine Familie verletzt, was ich nie wollte für meine Mutter. Ich habe mich für das angefangen zu verletzen, was ich aber nicht bereue, weil ich es verdiene. Ich kann mir selber heute sagen, dass ich eine Kämpferin bin. Ich kann jetzt nicht sagen, ich habe alles geschafft, weil ich noch nicht alles geschafft habe. Aber ich kann nur sagen, ich bin eine Kämpferin. Ich möchte Menschen zeigen, was kämpfen heisst. Ich möchte meinen Kindern mal sagen, was ihre Mutter durchgemacht hat, und ihnen auch das Kämpfen beibringen. Zu oft war ich auf dem Boden, zu oft wollte ich nicht mehr aufstehen. Zu oft wollte ich aufgeben. Ich war zu schwach, um weiterzumachen. Aber ich war zu stark, um aufzugeben. Ich bin ein Mädchen, das gegen diese Welt kämpfen muss. Mit 16 habe ich gespürt, wie ich gestorben bin, aber trotz all dem Schmerz habe ich gesagt, dass es mir gut geht. Ich habe so viele Ziele, die ich schaffen will. Aber ich weiss nicht, schaffe ich es überhaupt noch. Ich habe Hass auf diese Welt, möchte doch auch mal glücklich sein. Ich möchte auch mal von ganzem Herzen lachen. Wieso darf ich das nicht? Aber ich weiss, es ist mein Schicksal. Es gibt einen Spruch, der sagt: Gott hat dir ein schweres Leben gegeben, weil er weiss, dass du stark genug bist, um das alles durchzumachen. Ich will nie aufgeben, weil ich noch vieles schaffen will. Also mache ich weiter. Ich weiss nicht, wie mein Weg weitergeht, aber wenn sich eine Tür schliesst, öffnet sich eine andere.

Als am Donnerstagnachmittag das Telefon von Frau Steiner klingelt und aufgeregte Stimmen von Miras Tod berichten, bleibt die Lehrerin ganz ruhig. Sie weiss, dass das nicht stimmen kann, denn sie hat gerade noch mit Mira Nachrichten ausgetauscht.

Stimmt das, Frau Steiner? Wissen Sie etwas? Ist Mira wirklich tot?

Nein. Macht euch keine Sorgen. Mira lebt.


Mira befindet sich in einer grösseren Stadt im Nordirak. Mal wohnt sie bei ihrer Grossmutter, mal bei einer Tante. Sie lebt. Aber es geht ihr nicht gut. Mal ist der Vater da, mal nicht. Sie hat unregelmässig Zugang zum Internet, dann meldet sie sich bei Frau Steiner. Die Informationen sind spärlich. Der Vater lasse sie nicht in die Schweiz zurückkehren. Sie sei gefangen. Sie wisse nicht genau, wo sie sei. Dann wieder heisst es, sie kämen vielleicht doch zurück in die Schweiz. Wann? Ich weiss nicht, wann.

Frau Steiner will mit ihrem Mann und einem Bekannten helfen. Sie kontaktieren eine lokale NGO. Deren Vertreter gehen zur lokalen Polizei, aber dort heisst es, man könne nichts machen ohne internationale Anweisungen. Also schreibt Frau Steiners Mann das verantwortliche Schweizer Konsulat an. Aber das erklärt sich für nicht zuständig, weil Mira keine Schweizer Staatsbürgerin sei. Ohnehin sei das eine kantonale Angelegenheit.

Also wendet sich Mira von sich aus an die Behörden. Am 5. Mai 2017 schreibt sie ein Mail an die zuständige Kesb und an die Kantonspolizei Zürich, sie werde gegen ihren Willen von ihrem Vater im Irak festgehalten. Aber auch das hilft nichts. Bei der Kantonspolizei heisst es, man könne ohne Anzeige nichts machen. Eine solche liege nicht vor. Und ohnehin sei fraglich, ob die Schweizer Behörden zuständig seien, wenn ein ausländisches Mädchen im Ausland festgehalten werde und von dort aus Anzeige erstatte.

Die Staatsanwältin, die das Verfahren gegen Miras Vater führte, weiss nichts vom plötzlichen Verschwinden des Mädchens. Da das Verfahren gegen den Vater eingestellt worden sei, könne sie nichts tun. Sie könne erst wieder handeln, wenn ein neues Verfahren eröffnet werde. Und davon habe sie im Moment keine Kenntnis.

Die Schule sagt, man habe in diesem Fall stets mit grossem Engagement und adäquat gehandelt. Das Mädchen sei zwar schulpflichtig, solange es in der Gemeinde gemeldet sei. Aber sie könne nichts machen ausser einer Gefährdungsmeldung an die Kesb. Man könne bloss warten, bis Mira wieder in die Schule komme.

Die Kesb nimmt zu Einzelfällen grundsätzlich keine Stellung. Das Kindes- und Erwachsenenschutzgeheimnis verlange, dass alle persönlichen Informationen über Betroffene geheim zu halten seien. Die Behörde weist darauf hin, dass es für ihre Arbeit wichtig sei, dass Betroffene ihr vertrauen könnten. Das schliesse Auskünfte zu Einzelfällen aus.


Ende Mai kommen alle Beteiligten zu einem runden Tisch zusammen. Es geht um die Ordnung der Kommunikation, wer mit der Kesb redet und wer nicht, wer den Kontakt zu Mira hält. Frau Steiner aber gewinnt den Eindruck, dass es vor allem um Schadensbegrenzung geht, darum, die Schotten dichtzumachen. Um eines geht es nicht: Mira zurück in die Schweiz zu holen. Frau Steiner fühlt sich ohnmächtig.

«Kann man weiter hoffen, dass Mira zurückkehrt?», fragt Frau Steiner, als sie die Geschichte erzählt. «Ich weiss es nicht. Solange Mira in der Obhut des Vaters ist und vielleicht sogar gegen ihren Willen verheiratet wird, wie sie andeutete, glaube ich das nicht. Das Mädchen ist hier aufgewachsen. Sie ist hier zur Schule gegangen. Wir haben doch eine Verantwortung für sie übernommen. Und jetzt? Ich finde das alles zum Verzweifeln. Ich will nicht aufgeben, aber je länger es dauert, desto mehr schwindet meine Hoffnung, dass Mira zurückkommt.»

Vor den Sommerferien schreibt Frau Steiner Mira ein paar Nachrichten. Könnte Mira vielleicht fliehen? Frau Steiner tastet sich vorsichtig an das Thema heran.

Mira fragt: Wo würde ich denn wohnen? Könnte ich meine Geschwister besuchen? Meine Mutter? Und immer wieder fragt sie: Wer hilft mir jetzt? Wer tut etwas?

Frau Steiner schreibt: Ich weiss es nicht.

Mira verschwand im April 2017, vor genau sechs Monaten. Anfang Juli hat Frau Steiner den Kontakt verloren. Seither herrscht Schweigen.

* Alle Namen geändert.