Suizid in U-Haft: Ein Gutachten und seine Folgen

Nr. 32 –

Raphael Kiener, ein junger, engagierter Mann, legt sich immer wieder mit der Polizei an. Er kommt in Haft und bringt sich um. Warum? Und wie hätte es verhindert werden können?

  • Für die Eltern ist es schwierig zu sagen, wann Raphaels Probleme begannen. Er sei ein fröhlicher, aufgeweckter Junge gewesen. Alle Illustrationen nach Fotos aus Privatarchiv
  • Vater Sebastian Birrer hat schon länger den Verdacht, dass sein Sohn an einer Psychose leidet. Doch der Befund lautet: Alles gut.
  • Raphael hat viel unternommen, um sein Leben zu ordnen. Unter anderem hospitierte er im Stadttheater Bern als Regieassistent.

Raphael Kiener kann seine Geschichte nicht mehr erzählen. Vor einem Jahr hat der junge Mann seinem Leben ein Ende gesetzt, an einem Ort, an dem es unmöglich sein sollte, sich umzubringen: in der Station Etoine, einer Spezialabteilung für Gefangene mit psychischen Problemen auf dem Areal der Psychiatrischen Universitätsklinik Bern. Die Station gibt es seit elf Jahren. Raphael Kiener ist der Erste und bisher Einzige, der sich dort das Leben genommen hat.

Könnte er seine Geschichte noch erzählen, hätte er vermutlich gesagt, dass er sich vor der Justiz fürchte, den Stimmen in seinem Kopf und der Zukunft ganz allgemein. Die Polizei hat ihn Anfang Januar 2019 verhaftet. Es war der Tag, an dem seine Grossmutter starb. Aber das war ein Zufall. Er hatte sie sehr gemocht, wollte sie nochmals sehen und sich verabschieden. Der Staatsanwalt fand, das gehe nicht – erlaubte ihm aber, an die Beerdigung zu gehen. Die Polizei brachte ihn hin. An Händen und Füssen gefesselt. Um seinen Bauch hatten sie einen Gurt geschnallt, Hand- und Fussfesseln waren daran festgemacht. Die Polizisten führten ihn an einem Seil zur Trauergemeinde. Er habe sich gefühlt wie ein Hund, den man vorführe, sagt Raphael später seinen Eltern.

Danach sitzt er monatelang im Berner Regionalgefängnis in Untersuchungshaft. Was man ihm genau vorwirft, ist ihm am Anfang nicht im Detail klar. Dass er ein Problem hat, schon. Nach dem Konsum von Alkohol hat er manchmal Erinnerungslücken. Und wenn er sich doch erinnern kann, ist ihm klar, dass er sich aggressiver benommen hat, als ihm lieb war. Er versteht sich dann selber nicht. Ihm ist, als würde ein anderer aus ihm heraus verrückt spielen. Nur, darüber reden geht kaum. Manchmal sind da Stimmen, die mit ihm reden. Er kann ihnen sagen, sie sollen Ruhe geben. Dann schweigen sie für eine Weile. Aber er weiss nie, wann sie wieder kommen. Manchmal ist er überzeugt, dass er verfolgt wird oder dass seine Gedanken gelesen werden. Der Alkohol hilft ihm, die Furcht klein zu halten. Doch wenn er zu viel trinkt, verliert er die Kontrolle. Das weiss er.

Am Anfang im Regionalgefängnis geht es ihm ordentlich. Er ist überzeugt, dass er für den Mist, den er angestellt hat, einige Monate bekommen wird. Die wird er absitzen und danach versuchen, sein Leben in den Griff zu bekommen. Eine Lehre machen, eine Wohnung suchen, eine Freundin haben.

Im Mai bekommt er das psychiatrische Gutachten, das über ihn verfasst wurde. Er beginnt es zu lesen, und es wird ihm schwindlig. Da steht, dass er ein sehr gefährlicher Mensch sei. Doch im Gefängnis ist keiner, der ihm sagt, er solle das nicht so schwer nehmen, es sei ja nur ein Gutachten. Weil das auch nicht gestimmt hätte: Ein Gutachten ist immer mehr als nur ein Gutachten. Es ist wie ein Brandmal. Man wird es nie mehr los.

Wie es dazu kam

Raphi, wie ihn alle nennen, kommt 1994 zur Welt. Er wächst in Konolfingen zwischen Thun und Bern auf. Seine Mutter, Ernestine Kiener, ist Sozialarbeiterin, der Vater, Sebastian Birrer, Hausarzt. Geschwister hat Raphi keine. Er liebt Tiere, engagiert sich beim WWF und wäre gerne Greenpeace-Campaigner geworden.

Wann haben Raphis Probleme begonnen? Schwierig zu sagen, sagen beide Eltern. Er war ein fröhlicher, aufgeweckter, sensibler Junge. Eine Zäsur ist sicher der 1. Mai 2010. Raphi geht das erste Mal nach Zürich an eine 1.-Mai-Demo. Tausende demonstrieren gegen «Sozialabbau und Millionen-Boni». Die Zeitungen berichten danach, die übliche Schlacht sei ausgeblieben. Die Polizei hatte früh interveniert und viele festgenommen, von denen sie glaubte, sie würden randalieren.

Raphi ist einer von ihnen. Er erzählt später seinen Eltern, wie er mit Kabelbindern gefesselt worden war. In einem Gedächtnisprotokoll schreibt er: «Nach dem Umzug gingen wir auf das Kanzlei-Areal, wo eine Ska-Punk-Band um zwei Uhr ihre Songs zum Besten gab. Da die Polizei fand, wir dürften erst ab acht Uhr mit Musikhören beginnen, umstellten sie das ganze Areal. Schlussendlich verbrachte ich mit andern bis um halb zehn in einem provisorischen Käfig auf dem Kasernenareal. Als Begründung wurde mir mitgeteilt, ich sei zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. (…) Ich erlebte das erste Mal, welche Macht ein Staatsapparat ausüben kann.» Damals entwickelt er einen tiefen Zorn gegen die Polizei.

Mit siebzehn verbringt er ein Austauschjahr in Paraguay. Die Eltern werden informiert, dass er in Raufereien verwickelt gewesen sei. Aber da machen sie sich noch nicht übermässig Sorgen. Wieder zurück, bewegt sich Raphi im Umfeld der Reitschule. Begehrt auf gegen die Ungerechtigkeiten der Welt, beteiligt sich an Demos. Einmal kommt er mit Würgemalen am Hals nach Hause. Er erzählt, er sei von der Polizei misshandelt worden. Der Anwalt, den die Familie engagiert, rät davon ab, etwas zu unternehmen. Das bringe nichts.

Raphis Schulleistungen werden schlechter. Er verlässt das Gymnasium, arbeitet mal da und dort, kifft, trinkt Alkohol, konsumiert Medikamente. Er ist inzwischen zwanzig. Allen, die ihn besser kennen, fällt auf, dass er sich verändert hat. Weil sie sich sehr um ihn sorgen, machen die Eltern bei der Erwachsenenschutzbehörde Kesb eine Gefährdungsmeldung.

Sebastian Birrer hat da schon länger den Verdacht, dass sein Sohn an einer Psychose leidet. Raphi wird abgeklärt. Der Befund: Alles gut, keine Anzeichen für eine Psychose. Raphi nimmt mehrere Anläufe, um sein Leben neu zu ordnen. Er hospitiert im Stadttheater Bern erfolgreich als Regieassistent. Danach beginnt er ein Pflegepraktikum. Doch er möchte unbedingt die Matura machen, steigt wieder ins Gymnasium ein, hat aber zunehmend Mühe, dem Unterricht zu folgen – und bricht die Schule im Herbst 2015 definitiv ab. Wenige Wochen später sagt Raphi an einer Familienfeier zu seinem Vater, er höre manchmal Stimmen. Kurz darauf hat er einen psychotischen Schub. Vor Weihnachten wird er in die Psychiatrische Klinik Münsingen eingewiesen. Doch nach drei Tagen ist er wieder draussen, ohne dass die Eltern vorher informiert worden wären.

Im Frühjahr 2016 wird er erneut in Münsingen eingeliefert. Dieses Mal bleibt er sechs Monate. Diagnose: paranoide Schizophrenie. Ernestine Kiener kann sich gut erinnern, wie die Ärztin beim Austrittsgespräch zu ihnen sagt: «Ihr Sohn ist schwer krank. Er wird wohl für sehr lange Zeit auf Medikamente angewiesen sein.» Aber das war es. Niemand sagt den Eltern, wie sie damit umgehen sollen. Sie hätten sich total allein gefühlt, sagen sie. Und sie seien ja privilegiert, hätten eine Ahnung, wie das System funktioniere. Unvorstellbar, wie sich Leute fühlen müssten, die sich fachlich nicht so gut auskennen würden.

Von da an lebt Raphi immer wieder in betreuten Institutionen. Im Suff begeht er weiter hin und wieder kleine Delikte. Er wird deswegen Anfang 2018 zu einer siebenmonatigen Strafe verurteilt, bedingt auf zwei Jahre. Die Richterin stellt ihm eine gute Prognose. Raphi ist klar, dass sich etwas ändern muss. Er will weg vom Alkohol. Freiwillig geht er in eine Klinik. Doch dann wird er wieder rückfällig, trinkt und kifft im Ausgang. Im Oktober 2018 wirft ihn die Klinik raus. Ernestine Kiener ist alarmiert. Sie ruft den zuständigen Arzt an, sagt ihm, wenn Raphi jetzt wieder trinke und delinquiere, komme er ins Gefängnis. Daran würde er zerbrechen. Der Arzt sagt nur: «Das ist ja super, dann passiert endlich was!» Ernestine Kiener ist sprachlos.

Raphi bezieht in einem Dorf im Emmental eine kleine Wohnung. Er richtet sie hübsch ein, es scheint ganz gut zu laufen. Doch nach kurzer Zeit legt er sich wieder betrunken mit der Polizei an.

Das Gutachten

Der Staatsanwalt hat das besagte Gutachten schon im Herbst bestellt. Es ist Ende April fertig, ein Schriftstück von 174 Seiten. Auf den ersten 70 Seiten sind Raphael Kieners Taten gelistet. Die schwersten Delikte betreffen Raub und versuchte schwere Körperverletzung. Das klingt heftig. Laut Gutachten soll sich beides in der Berner Reitschule zugetragen haben. Raphael Kiener, der im Gutachten durchgehend «der Explorand» genannt wird, war mit FreundInnen unterwegs. Es wird viel getrunken. Angeblich nimmt er aus einem Kühlschrank der Reitschule drei Glasflaschen mit Wasser, ohne zu bezahlen. Ein Passant habe das gesehen und interveniert. Raphi habe diesem dann eine der Flaschen auf den Kopf geschlagen. Sollte dem tatsächlich so gewesen sein, hätte es ein böses Ende nehmen können. Der Mann trägt zum Glück nur eine fünf Zentimeter lange Schramme und keinen bleibenden Schaden davon. Ein Bluttest ergibt, dass Raphi 1,8 Promille Alkohol im Blut hatte. Raphi sagt laut Gutachten, dass er sich nicht an den Vorfall erinnern könne. Wenn das so passiert sei, wie es geschildert werde, tue es ihm sehr leid.

Das Gutachten schildert unzählige Intermezzi mit der Polizei. Insgesamt sind 27 Einsätze verzeichnet. Raphi beschimpft Polizeibeamte, bespuckt sie, droht ihnen. Einmal, als einige Polizisten bei ihm zu Hause vorbeikommen, empfängt er sie mit einer Axt in der Hand. Er droht, bei einer nächsten Kontrolle würde er mit einer Schusswaffe auf sie warten. Er hat aber nie eine besessen. Auch bei der Hausdurchsuchung wird später keine Waffe gefunden.

Der Psychiater stellt im Gutachten eine schizophrene Grunderkrankung fest, tut sich aber schwer, an seinen «Exploranden» heranzukommen. Raphi gibt ihm zu verstehen, er wolle nicht mit ihm sprechen, weil alles, was er sage, gegen ihn verwendet werde.

Am Ende des Gutachtens gibt der Psychiater eine Risikoeinschätzung ab. Er bewertet Raphael Kiener mit einem gängigen Prognoseinstrument, dem sogenannten VRAG-R (Violence Risk Appraisal Guide-Revised). Raphi macht viele Punkte. Er landet in der achten von neun Risikokategorien. Nur 16 Prozent der Straftäter würden «einen höheren Summenwert» aufweisen, schreibt der Gutachter. Er prognostiziert Raphael, dass er in den nächsten zwölf Jahren mit der Wahrscheinlichkeit von 78 Prozent einen «gewalttätigen Rückfall» haben werde. Weiter schreibt der Gutachter: «Es wird empfohlen, dass beim Exploranden über Monate bis Jahre ein therapeutisches Setting gewählt wird, das bis auf Weiteres hochgesichert ist.» Es ist klar: Der Gutachter möchte Raphi in die kleine Verwahrung schicken, die sogenannte therapeutische Massnahme nach Artikel 59 Strafgesetzbuch. Sie wird bei «psychisch schwer gestörten Tätern» verhängt. In der Regel dauert sie fünf Jahre, kann aber beliebig oft verlängert werden.

Raphi ist nicht dumm. Er weiss, was ein 59er bedeutet: unbefristet weggesperrt werden.

Die U-Haft

Seine Eltern besuchen ihn jede Woche im Gefängnis – immer mit einer Trennscheibe von ihm getrennt. Ernestine Kiener und Sebastian Birrer finden es unerträglich, dass sie ihren Sohn während der vielen Wochen nie in den Arm nehmen können. Kommt hinzu, dass das Mikrofon oft nicht richtig funktioniert. Wenn man sich nicht tief hinunterbeugt und direkt ins Mikro spricht, kann das Gegenüber nichts verstehen. Das habe die Kommunikation fast unmöglich gemacht, sagen die Eltern. Nur ein einziges Mal können sie – auf Druck des Verteidigers – Raphi ohne Trennscheibe sehen. Kurz davor hat er das Gutachten erhalten. Raphi will von seinen Eltern wissen, ob sie es gelesen hätten. Der Vater sagt, er habe dazu noch keine Zeit gehabt; die Mutter, sie habe erst damit begonnen. Raphi wird wütend und sagt, er wolle sie nicht mehr sehen.

Kurze Zeit danach erhalten sie seltsam wirre Briefe von Raphi. Er schreibt, sie könnten das Gutachten «beitrost» beiseitelegen: «Die im Gutachten beschriebene, Pardon explorierte Person ist Igor Ladislochof. Igor ist das uneheliche Kinder von Wladimir Putin höchstpersönlich und einer Moskauer Prostituierten. (…) Es tut mir leid, dass ich euch mitteilen muss, dass es bei diesem Exploranden nicht wirklich um mich geht.»

Heute sagt Sebastian Birrer, er habe es damals emotional einfach nicht geschafft, das Gutachten zu lesen. Das sei ein Fehler gewesen. Er macht sich Vorwürfe. Hätte er doch nur interveniert. Hätte er mehr Druck gemacht. Aber er glaubte, die Psychiater würden schon wissen, was sie tun. Er wollte da nicht seine Sonderrolle als Arzt ausspielen. Darum hielt er sich zurück.

Mitte Juni erfährt Raphi, dass der Prozess auf Mitte Oktober angesetzt ist. Dann wäre er zehn Monate in Einzelhaft gesessen. Ende Juni kommt die Anklageschrift. Welches Strafmass der Staatsanwalt fordert, steht nicht darin. Es ist aber klar, dass er dem Gutachter folgt – und empfehlen wird, Raphael Kiener in die kleine Verwahrung zu schicken.

Die letzten Tage

Anfang Juli wird Raphi in die Station Etoine überstellt. Weder Raphis Anwalt noch seine Eltern werden informiert. Der Anwalt möchte ihn besuchen, es wird ihm aber ausgerichtet, dafür gehe es seinem Klienten zu schlecht. Er wird ihn nie mehr sprechen.

Die Eltern organisieren umgehend eine Besuchsbewilligung. Auch ihnen wird mitgeteilt, es gehe Raphi zu schlecht, sie könnten ihn nicht sehen. Mitte Juli dürfen sie einmal kurz unter Aufsicht mit ihm reden. Dann nochmals am 23. Juli. Raphi sieht schlecht aus, sagt, er sei bei der Verlegung durch die Hölle gegangen – und erzählt, dass er einen Suizidversuch gemacht habe.

Einige Tage später besucht Peter Birrer mit seiner Partnerin den jungen Mann. Er ist der Cousin von Raphi, aber um einiges älter. Peter Birrer sagt, er habe Raphi bis dahin nie in einem seiner schwierigen Momente erlebt: «Ich kannte ihn als ungemein einnehmenden jungen Mann – er konnte ein richtiger Charmebolzen sein.» Beim Treffen sitzt eine Betreuerin dabei und überwacht das Gespräch. Birrer spricht seinen Cousin auf Suizidgedanken an. Darauf erzählt Raphi auch ihm von seinem Suizidversuch. Eingeschüchtert von den strengen Besuchsauflagen fragt Birrers Partnerin die Betreuerin, ob darüber überhaupt gesprochen werden dürfe. Zögerlich antwortet diese: «Eigentlich nicht, auch das gehört zum Verfahren.» Peter Birrer wechselt das Thema. Heute denkt er, dass er sich von den Umständen nicht so hätte einschüchtern lassen sollen. Er hätte nachfragen müssen, es hätte doch auch der Station geholfen, wenn sie gewusst hätten, wie ernsthaft Raphi an Suizid denke, sagt Birrer. Beim Abschied nimmt er seinen Cousin als sehr verloren und angeschlagen wahr. Peter Birrer ist der letzte Angehörige, der noch mit Raphi sprechen kann.

Ende Juli versuchen die Eltern verzweifelt, ihren Sohn zu besuchen. Das wird erneut mit dem Argument verhindert, es gehe ihm zu schlecht. Am Morgen des 5. August hat Ernestine Kiener eine Nachricht des Inselspitals auf dem Handy. Raphi liegt auf der Intensivstation. Er hat sich auf der Station Etoine in seinem Zimmer erhängt. Medizinisch gilt er als hirntot. Am nächsten Tag wird das Beatmungsgerät abgeschaltet. Raphael Kiener stirbt, erst 25 Jahre alt. Die Eltern können die ganze Zeit bei ihrem toten Sohn sein. Heute sagen sie, im Inselspital seien sie das erste Mal seit der Verhaftung ihres Sohnes gut begleitet worden.

Doch eine Frage treibt sie seither um: Wie hätte dieser Suizid verhindert werden können?

Was lief falsch?

Die Eltern haben sich inzwischen mit den verschiedenen Beteiligten getroffen. Die Polizei beteuert beim Treffen, heute würden sie den jungen Mann bei der Beerdigung der Grossmutter nicht mehr so gefesselt vorführen, das sei unverhältnismässig und ein Fehler gewesen.

Die Gefängnisdirektorin sagt den Eltern, sie habe ihren Sohn im Gefängnis als sehr höflichen, freundlichen Menschen erlebt. Er sei für eine stationäre Behandlung in die Station Etoine verlegt worden. Zu den unangenehmen Besuchsbedingungen sagt sie, es gebe für private Besuche im Regionalgefängnis nur BesucherInnenräume mit Trennscheibe.

Die Eltern und Cousin Peter Birrer reden auch mit dem Staatsanwalt. Der will das Gespräch in der Cafeteria des Berner Regionalgerichts führen, wo noch andere Leute sitzen. Es braucht viel, dass er sich dazu bewegen lässt, in ein Besprechungszimmer zu wechseln. Am Revers trägt er einen Pin eines Fussballklubs. Irgendwie unprofessionell und pietätlos, finden die Angehörigen. Von den Verantwortlichen der Station Etoine fühlen sie sich zwar ernst genommen – eine Erklärung aber, wie es kommen konnte, dass sich ihr Sohn auf dieser spezialisierten Abteilung umbringen konnte, erhalten sie nicht.

Die Eltern resümieren die verschiedenen Gespräche. Schwierig sei, dass ihnen immer wieder gesagt worden sei: Wenn sie, die Eltern, direkt bei der Leitung interveniert hätten, dann hätten sie ihren Sohn öfter und auch einmal ohne Trennscheibe sehen können. Vielleicht, mutmassen sie, wäre ihr Sohn dann noch am Leben. «Das ist, als ob man am Ende uns die Schuld zuschiebt: Warum habt ihr euch nicht gewehrt, dann hätten wir etwas gemacht», sagt Ernestine Kiener. Ihr Mann nickt. Genau, so fühle es sich an.

David Mühlemann von der Fachstelle Freiheitsentzug, die von der Menschenrechtsorganisation humanrights.ch betrieben wird, berät die Eltern, seit ihr Sohn in Haft kam. Es sei ein klassischer Fall von Verantwortungsdiffusion, konstatiert er: Alle sagen am Ende, sie hätten anders gehandelt, wenn sie die Möglichkeit gehabt hätten, aber das System lasse keinen Spielraum zu: «Alle erfüllen ihre Aufgaben – niemand ist verantwortlich.»

In einem Brief an die Gefängnisdirektorin hat Mühlemann aufgelistet, was seiner Meinung nach nicht korrekt lief: Die Angehörigen hätten über den Gesundheitszustand und die Verlegung informiert werden sollen. 23 Stunden Zelleneinschluss pro Tag und Besuche nur mit Trennscheibe seien rechtswidrig. Auch sei Raphaels einstündiger Spaziergang beschränkt worden. Psychisch schwer kranke und deshalb besonders verletzliche Menschen unter diesen Bedingungen und für eine so lange Zeit einzusperren, sei in einem Rechtsstaat unhaltbar. Gegenüber der WOZ sagt die Gefängnisdirektorin, das Haftregime sei von der Staatsanwaltschaft so angeordnet worden und sicher nicht rechtswidrig gewesen. Es sei auch nicht richtig, dass man jemals Herrn K.s Spaziergänge beschränkt habe.

Der zuständige Staatsanwalt will gegenüber der WOZ nichts zu den Vorwürfen der Eltern sagen. Und zum Fall selber dürfe er sich aus Datenschutzgründen nicht äussern, teilt er mit. Die Station Etoine darf sich wegen des laufenden Verfahrens ebenfalls nicht dazu äussern. Die zuständige Chefärztin sagte aber etwas Interessantes zu Schizophrenie und Alkohol: Ein schizophrener Schub könne grosse Ängste auslösen. Betroffene würden oft versuchen, sich in einer solchen Phase mit psychoaktiven Substanzen zu beruhigen. Am Anfang könne das funktionieren. Aber gerade Alkohol sei ein schlechtes Mittel für die Selbstmedikation. Es entstehe eine Abhängigkeit, die Dosis müsse ständig erhöht werden, zudem wirke der Alkohol enthemmend. Genau das ist Raphael Kiener vermutlich passiert.

Und jetzt?

Die Staatsanwältin, die den Suizid untersucht, teilt mit, das Verfahren laufe. Es würden die konkreten Todesumstände untersucht und abgeklärt, ob es Hinweise auf ein Fremdverschulden gebe. Das Verfahren werde kaum dieses Jahr abgeschlossen.

Die Eltern von Raphi haben dafür gekämpft, dass sie als PrivatklägerInnen am Verfahren teilnehmen dürfen. Der Anwalt Julian Burkhalter, der sie dabei vertritt, ist aber wenig zuversichtlich: Solche Untersuchungen würden oft ergebnislos verlaufen. Auf das Gutachten angesprochen, meint er: «Was soll ich als Anwalt mit solchen Gutachten? Ich bin kein Mediziner. Ich kann nicht einmal beurteilen, ob es ein gutes Gutachten ist. Wie soll ich dann einem Klienten erklären, wie zu interpretieren ist, was da drinsteht? Meiner Meinung nach müsste mindestens ein Psychiater dabei sein, wenn man mit einem Klienten ein Gutachten bespricht.» Ein Gutachten sei heute gleichbedeutend mit dem Urteil. Denn kein Richter würde sich getrauen, gegen ein solches Gutachten zu entscheiden.

Wenn Gutachten eine solche Wirkmacht entfalten, müssten sie sorgsamer erstellt und kommuniziert werden. VerteidigerInnen fordern schon lange, dass sie bei der psychiatrischen Befragung dabei sein dürfen – so wie es heute auch bei polizeilichen Einvernahmen selbstverständlich ist.

Über Suizid berichten?

Der Schweizer Presserat fordert bei Suizidfällen grosse Zurückhaltung von JournalistInnen, weil das Risiko von Nachahmungstaten steigt, wenn Medien detailliert darüber berichten, wie sich jemand das Leben genommen hat. Über einen Suizid darf gemäss Presserat aber berichtet werden, wenn er «Demonstrationscharakter hat» oder «auf ein ungelöstes Problem aufmerksam macht».

Fachstellen empfehlen zudem, in der Berichterstattung auf Hilfsangebote hinzuweisen. So bietet zum Beispiel Telefon 143 rund um die Uhr Beratungen bei Suizidgedanken an.

«Besondere Fürsorgepflicht»

In Untersuchungs- oder Sicherheitshaft finden in der Schweiz erschreckend viele Suizide statt. In den letzten zehn Jahren waren es 53.

Ende Juni ist die Schweiz vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen eines Suizids in Haft verurteilt worden. Die Polizei hatte einen alkoholisierten Lenker nach einem Selbstunfall verhaftet. Der Mann litt unter Depressionen und nahm dagegen Medikamente. Nach der Verhaftung äusserte er Selbstmordabsichten. Die Polizisten nahmen ihn aber nicht ernst und sperrten ihn in eine Zelle, wo er sich erhängte.

Die Mutter klagte gegen die Polizei. Die Schweizer Gerichte sahen jedoch keine strafbaren Handlungen. Anders das Gericht in Strassburg: Es rügte, dass die Polizei nicht ausreichend Vorkehrungen getroffen habe, «um den damals 40-Jährigen vor sich selbst zu schützen». Die RichterInnen betonen, dass «bei Menschen mit psychischen Erkrankungen ihre besondere Gefährdung berücksichtigt werden muss». Gerade in solchen Fällen habe der Staat eine besondere Fürsorgepflicht.

Fall Frick vs. Schweiz: Dokument auf dem Server des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.