Von oben herab: Perfekt

Nr. 44 –

Stefan Gärtner über Helenenseligkeit und Hipstertum

Dass Weihnachten jedes Jahr früher beginne, ist an dieser Stelle auch noch nicht zu lesen gewesen, und da kommt mir blick.ch gerade recht: «Das liegt dieses Jahr unterm Hipster-Weihnachtsbaum», lautet die Schlagzeile. «Wir haben uns umgehört und herausgefunden, der Trend deutet auf Retro und Klassiker hin, denn die sind gerade wieder total in!»

Gratulation, lieber «Blick», zu derart feinen Ohren; denn dass Retro und Klassiker gerade wieder total in sind, hätten wir nicht für möglich gehalten, wo doch wirklich erst seit neustem, so seit etwa zwanzig Jahren, alles auf die gute alte Zeit hinausläuft, auf Omas Möbel, Hausgeburt und Zwetschgeneinkochen, und die deutsche Zeitschrift «Landlust» so ziemlich das Erfolgreichste ist, was der Markt zuletzt zuwege gebracht hat. «Landlust» liest der Hipster, liest die Hipsterin (gibt es das?) selbstredend nicht, sie sind ja nicht von gestern, sondern im Gegenteil von morgen, wobei dieses Morgen bloss ein aufgebrezeltes Gestern ist, wenn unterm Weihnachtsbaum (laut «Blick») Polaroidkameras, Einkaufstrolleys oder Tablethalter aus nachhaltigem Holz liegen.

Wer, anders als der «Blick», nicht bloss einen Zeh in den Hipstersumpf halten will, kann an den Bahnhofskiosken der grösseren Städte 14.90 Franken für das Superhipstermagazin «The Heritage Post» ausgeben und sich dann fürchten, denn hier ist wirklich alles, was da noch «Leben» heissen mag, im Warenfetisch aufgegangen, auch wenn (oder eben weil) die Klamotten und Accessoires nicht zum Wegwerfen sind, sondern schwerste Qualität, handgemacht auf alten Maschinen in irgendwelchen Dörfern nach ältesten Rezepten. Eine luftdichte Welt aus Leder, Holz und freilich Vinyl.

Helene Fischer gibt es übrigens ebenfalls auf LP, und das Produkt, das sie ist und feilhält, ist gleichfalls ein perfektes, wenn auch grimmig standardisiertes, und das lehnen wir Hipsterindividualisten mit unseren Bärten, Tätowierungen und umgeschlagenen Manufakturjeans natürlich ab. Also nichts wie nicht hin nach Zürich: «Helene Fischer (33) begeistert die Massen. Fünfmal in Serie füllt sie das Hallenstadion mit einer Mischung aus Akrobatik, Tanz und Songs, die wenig Abwechslung bieten. Trotzdem oder gerade deswegen ist das beste Unterhaltung» (luzernerzeitung.ch). Weil die Leute nichts so sehr fürchten wie Veränderung, denn die ist, Stichwort Reformen, eine zum Schlechteren. Früher waren Reformen noch Willy Brandt, und deshalb gab es Gitte Hænning oder Udo Jürgens, deren Schlager mitunter Chansons waren und sich schon mal, wie massentauglich auch immer, um Frauenpower oder Gastarbeiter kümmerten. Heute ist es beste Unterhaltung, wenn sich der absolute Stillstand unterm fanatisch invarianten, faschistisch hämmernden Discofox perfekt in Szene setzt und Zirkus und «Illusion» nichts mehr überspielen (geschweige denn ansprechen), sondern nur mehr den Umstand verdoppeln, dass es keine Illusionen mehr gibt.

Dass es im neoliberalen Kapitalismus keine Zukunft mehr gebe, ist die Leitthese des britischen Essayisten Mark Fisher, und Helenenseligkeit und Hipstertum laufen da aufs selbe hinaus, denn «retro offers the quick and easy promise of a minimal variation on an already familiar satisfaction». Das Unbekannte wäre die Zukunft, aber die Zukunft ist tot; also feiern sie das Gestern und den Stillstand. Wie sie ohnehin immer alle «feiern» gehen; eben weil es nichts zu feiern gibt.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.