Homeschooling: Lernen ohne Schule
Mehr als 700 Kinder werden in der Schweiz zu Hause unterrichtet – aus reformpädagogischen Gründen oder weil die Eltern sie vor schlechten LehrerInnen, Drogen oder Gewalt schützen wollen. Dies höhle die Chancengleichheit aus, meint der Schweizer LehrerInnendachverband.
Es ist Donnerstagmorgen. Im Berner Monbijouquartier sind nur wenige Leute unterwegs. Es ist ein normaler Arbeits- und Schultag. Auch im Freilernraum in Bern, direkt neben dem Monbijoupark, herrscht Normalbetrieb: Amanda sitzt am Pult und löst Mathematikaufgaben. Um sie herum einige Kinder, die basteln. Ein Junge baut mit Karton ein Telefon und testet es gelegentlich. Ein Mädchen sitzt über einem Buch und liest. Was hier stattfindet, ist so etwas wie Schule – der Freilernraum ist ein Ort, an dem sich Kinder treffen, die zu Hause von ihren Eltern unterrichtet werden.
So wie die Kinder im Freilernraum erfüllen mehr als 700 Kinder in der Schweiz ihre Schulpflicht zu Hause, Tendenz steigend. «Wir erhalten immer mehr Mitgliedschaftsanfragen», bestätigt Andrea Liniger, Gründerin des Freilernraums. «Die Nachfrage nach einer Bildungsalternative zur Regelschule scheint gross zu sein.» Die Spannbreite reicht von der autarken Familie im Seetal bis zur alleinerziehenden Mutter in Bremgarten. Was sie alle verbindet, ist ihre Unzufriedenheit mit dem Schulsystem: Dieses habe sich nicht weiterentwickelt. Die «One size fits all»-Lösung, die es anbietet, werde nur wenigen Kindern gerecht. Deshalb unterrichten sie ihre Kinder selbst. «Homeschooling» nennt sich der Heimunterricht in der Schweiz nach US-amerikanischem Vorbild.
Die Kinder «entschulen»
Liniger, die ihre vier Kinder zu Hause unterrichtet beziehungsweise unterrichtete, hat den Freilernraum vor rund einem Jahr gegründet, um die zahlreichen «Homeschooler» aus der Region zu vernetzen. «Hier sollten Kinder – und auch Erwachsene – die Möglichkeit erhalten, miteinander und voneinander zu lernen. Im Spiel, ohne Anleitung, ihren eigenen Interessen folgend.» JedeR bringt die eigenen Fähigkeiten und Interessen mit: Eine Mutter, die Physikerin ist, gibt gelegentlich Physikworkshops. Ein Junge, der programmiert, ist der Experte, wenn es um Computerfragen geht. Die Erwachsenen springen nur ein, wenn die Kinder Unterstützung verlangen. Starre Strukturen, fixe Stundenpläne und festgelegte Unterrichtsthemen fallen weg.
Der Heimunterricht ist in der Schweiz grundsätzlich erlaubt. So statuiert die Bundesverfassung zwar eine obligatorische Unterrichtspflicht, nicht aber einen Schulbesuchszwang wie etwa in Deutschland. Wie die SchülerInnen, die eine Regelklasse besuchen, müssen sich aber auch zu Hause unterrichtete Kinder an den offiziellen Lehrplan halten, Lernziele erfüllen, sich vorgegebene Kompetenzen aneignen. Die Form des Lernens unterscheidet sich jedoch stark. Nicht jede Homeschooling-Familie gestaltet den Unterricht wie die «Freilerner» in Bern. Bei der Familie Villiger im Aargau ist der Unterricht etwa sehr ähnlich gestaltet wie in der Regelschule. «Unsere Kinder arbeiten allerdings weitgehend selbstständig und brauchen nur gelegentlich Unterstützung von uns», sagt Vater Willi Villiger.
Gebildet und mittelständisch
Homeschooling kann sich nicht jede Familie leisten. «Der Privatunterricht ist mit viel Verantwortung und einem nicht zu unterschätzenden materiellen und personellen Aufwand verbunden», sagt Stefan Schnyder, stellvertretender Leiter der Schulaufsicht des Aargauer Departements für Bildung, Kultur und Sport. Homeschooling-Eltern sind tendenziell gut gebildet, mittelständisch und verfügen über ausreichend finanzielle Mittel. Viele Familien sind zudem sehr belesen und kennen sich mit den aktuellen pädagogischen Ansätzen gut aus. Ein Teil von ihnen hat einen evangelikalen Hintergrund, was allerdings nicht gerne an die grosse Glocke gehängt wird.
Willi Villiger, der als Präsident des Vereins «Bildung zu Hause» so etwas wie die Stimme der Homeschooler ist, relativiert: «Der Teil der religiös motivierten Familien ist eher klein.» Vielmehr steckten hinter dem Entscheid, die Kinder zu Hause zu unterrichten, oft reformpädagogische Ideale wie auch die Sorge, dass die natürliche Lernfreude der Kinder im regulären Schulbetrieb verloren gehen könnte. Hinzu komme teilweise ein ausgeprägtes Bedürfnis der Eltern, ihre Kinder vor Gewalt, Mobbing und Drogen zu schützen. Weiter gibt es auch Eltern mit einer starken Leistungsorientierung. Sie sind der Ansicht, dass ihre Kinder in der Schule zu wenig lernen oder ihre Hochbegabung nicht ausreichend berücksichtigt werde.
Auch Villiger blickt auf gemischte Erfahrungen mit der Schule zurück. Zwei seiner Kinder seien in der Schule nicht richtig gefördert worden, sagt er. Schliesslich hätten sie sich entschieden, die beiden aus der Schule zu nehmen. «Was als Experiment startete, haben wir schliesslich für alle unsere Kinder übernommen.» Dieser Entscheid habe ausserdem einen sehr positiven Einfluss auf das Familienleben gehabt. Mittlerweile werden nur noch zwei der zehn Villiger-Kinder zu Hause unterrichtet. Die anderen studieren, etwa Mathematik, sind Lehrerinnen oder absolvieren eine Lehre.
«Homeschooling war unsere Rettung»
Und dann gibt es jene Eltern, die aus einer Notsituation heraus handeln. «Viele der Familien, die sich bei uns melden, haben mit ihren Kindern eine Leidensgeschichte durchlebt», sagt Andrea Liniger vom Berner Freilernraum. Die Kinder hätten in der Schule aus verschiedenen Gründen grosse Probleme gehabt. Wie etwa der Sohn von Silvia Rohner, der Autist ist.
Ausschlaggebend für den Entscheid, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen, sei das Burn-out ihres Sohnes gewesen, erzählt Rohner. Dass ihr Sohn unter frühkindlichem Autismus litt, war den zuständigen Stellen entgangen, bis Linus vierzehn Jahre alt war. Linus kämpfte etwa mit sensorischer Überlastung, die sich zu Hause in heftigen Anfällen entlud. Versucht hat die Familie vieles: Zunächst gelang es, ihn in einer freien Montessori-Schule, dann in der Steiner-Schule zu integrieren. Möglichst wenig Druck sollte ihr Sohn erfahren. Als die Anforderungen, vor allem auch im sozialen Bereich, stiegen, erlitt er im Alter von zwölf Jahren ein Burn-out. Seither unterrichtet Silvia Rohner ihre Kinder zu Hause.
Ihrem Sohn gehe es seither deutlich besser, sagt sie. «Homeschooling war unsere Rettung.» Ansonsten wäre für ihren Sohn nur das Heim oder eine psychiatrische Anstalt geblieben. Linus arbeitet seither zu Hause und lernt selbstständig. Im Alleingang hat er sich beigebracht, was ihn schon immer interessierte: Informatik. Mittlerweile betreibt der Fünfzehnjährige zusammen mit anderen Entwicklern ein Servernetzwerk und entwickelt Computerspiele. «Von mir hat er das nicht», sagt seine Mutter. Wenn er nicht weiterwisse, habe er sich Hilfe im Internet geholt; mit Tutorials, bei Experten oder Bekannten.
Über eine LehrerInnenausbildung verfügt Silvia Rohner nicht. Damit wäre ihr in gewissen Kantonen wie etwa Zürich, die für Homeschooling ein LehrerInnenpatent fordern, das Unterrichten untersagt. In Zug oder Uri etwa wird der Heimunterricht auch mit einem LehrerInnenpatent kaum zugelassen. Wer trotz strikter kantonaler Regulierungen seine Kinder selbst unterrichten möchte, muss deshalb in einen liberalen Homeschooling-Kanton wie den Aargau oder Bern ziehen. In diesen Kantonen habe die Anzahl der Familienschulen in den vergangenen Jahren auch deshalb zugenommen, sagt Stefan Schnyder. Im Kanton Aargau hat sich die Zahl in den letzten Jahren fast verdoppelt. Momentan werden 150 Kinder zu Hause unterrichtet. Von einem Hype oder gar einer Konkurrenz für die öffentliche Schule zu sprechen, hält Schnyder allerdings für übertrieben. Tatsächlich ist die Zahl der zu Hause unterrichteten Kinder noch immer verschwindend klein. Im Kanton Aargau werden gerade einmal knapp ein Promille der schulpflichtigen Kinder zu Hause unterrichtet.
Gegen die «Gleichmacherei»
Willi Villiger ist selbst Realschullehrer im Kanton Aargau. Für ihn stelle das keinen Interessenkonflikt dar. «Ich bin Lehrer mit Herzblut», sagt er. Trotz der liberalen Haltung des Kantons gebe es durchaus auch kritische Stimmen zum Heimunterricht. Insbesondere die politische Linke, die sich doch traditionellerweise für alternative Lebensentwürfe starkmache, gehöre oft zu den härtesten Gegnern, was Villiger erstaunt. Der Verein Bildung zu Hause, den er präsidiert, hegt hingegen Sympathien für Haltungen wie etwa diejenige von Norbert Blüm, dem langjährigen Bundesminister für Arbeit in Deutschland. Auf der Website wird aus dessen Streitschrift «Freiheit! Über die Enteignung der Kindheit und die Verstaatlichung der Familie» zitiert.
Auch der Dachverband Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) steht dem Homeschooling kritisch gegenüber. Was andere als Gleichmacherei bezeichneten, verstehe sie als Chancengerechtigkeit, sagt Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des LCH: «Jedes Kind besucht die Schule.» Problematisch sei, dass diese zurzeit unter massivem Spardruck stehe und dass Abbau betrieben werde. «Das ist eine bedenkliche Entwicklung Richtung Chancenungleichheit.» Die Lösung dafür sei nun aber nicht, dass alle Eltern, die es sich leisten könnten, die Kinder aus der Schule nehmen würden.
Natürlich gebe es Einzelfälle, in denen der Heimunterricht während einer begrenzten Zeit durchaus sinnvoll sei, so Peterhans, etwa wenn ein Kind krank und auf spezielle Rahmenbedingungen angewiesen sei. «Ansonsten sehen wir vor allem die Nachteile: Homeschooling-Kindern fehlt der Umgang mit Gleichaltrigen.» Wo aus religiösen oder kulturellen Gründen betont wird, Kinder vor «schlechten» Einflüssen zu schützen, gehe es oft auch um die Angst der Eltern, die Kinder aus dem eigenen Wertesystem zu entlassen. Der Kontakt mit anderen Werten und Haltungen soll vermieden werden. Die Bestimmungsgewalt liege dabei klar bei den Eltern. «Die Eltern prägen die Entscheidung eindeutig mit», sagt auch Stefan Schnyder vom Aargauer Bildungsdepartement. Häufig seien diese durch ihre eigene Bildungs- und Lebensbiografie geprägt.
«Schaurige Reaktionen»
Seit dreieinhalb Jahren unterrichtet Silvia Rohner ihre Kinder nun zu Hause. Frei von Zweifeln ist sie deshalb aber nicht: «Natürlich bin ich manchmal verunsichert und frage mich, ob ich das Richtige mache.» Mitschuld an den Zweifeln tragen auch Reaktionen aus ihrem Umfeld. «Diese waren zum Teil schaurig», sagt sie. «Viele Leute glaubten, dass ich die Kinder zum Heimunterricht zwingen würde.»
Das Misstrauen, dass der Heimunterricht dazu diene, die Kinder zu isolieren oder ihnen gar extreme Werte zu indoktrinieren, ist immer noch da und dort zu spüren. Auch Willi Villiger kennt solche Reaktionen: «Zu Beginn waren wir wohl ein bisschen exotisch. Mittlerweile sind die Leute aber gelassener.»