Die IV auf Twitter: «Ich lasse mir den Mund nicht verbieten»

Nr. 47 –

Weil Brigitte Obrist auf sozialen Medien zu aktiv gewesen sei, wird ihr die IV-Rente halbiert. Die WOZ hat die kämpferische Feministin zu Hause besucht.

Brigitte Obrist ist Aktivistin, IV-Rentnerin, ehemalige Projektleiterin der Aidshilfe und frühere «Puffmutter». Sie hat mit Clusterkopfschmerzen zu kämpfen.

«We can do it!» An der Innenseite der Wohnungstür hängt eine Karte mit dem bekannten feministischen Sujet an der Wand: eine Frau, die ihre Faust ballt und mit der anderen Hand den Ärmel ihres blauen Hemds hochkrempelt. In der Sprechblase steht: «Wir können das schaffen!» Das Motto der Karte passt zum Leben von Brigitte Obrist, der Aargauerin mit den pink lackierten Fingernägeln und den roten Wollsocken.

Seit Jahrzehnten setzt sich die heute 54-Jährige gegen die Stigmatisierung von Frauen im Sexgewerbe ein. 2014 erstattete sie aufgrund eines Plakats der Aargauer SVP Anzeige wegen Rassendiskriminierung. In den sozialen Medien teilt sie Posts zur #MeToo-Debatte, zu sexualisierter Gewalt, twittert jeweils zur SRF-«Arena» und bei Fussballspielen.

Zu viel Netzaktivismus für eine IV-Empfängerin, müssen sich einige Leute gedacht haben, und schwärzten Obrist anonym bei der Invalidenversicherung an. Sechzig Seiten Screenshots von ihren Posts und Retweets seien den Behörden zugespielt worden – das zeigte offenbar Wirkung, erzählt sie: Obwohl Obrist bereits seit 1999 eine Rente erhält, erklärte die IV sie nun nach erneuter Prüfung für fünfzig Prozent arbeitsfähig. Ihre Rente wurde halbiert, bereits ab Anfang Dezember erhält Obrist nur noch 354 Franken pro Monat.

Laut der SVA Aarau, die für Obrists IV-Rente zuständig ist, werde eine Rente nie nur aufgrund von Verdachtsmeldungen aufgehoben oder gekürzt. Für einen solchen Entscheid brauche es vertiefte medizinische Abklärungen. Auch bei Obrist wurde ein neues medizinisches Gutachten erstellt, das ihr eine leichte gesundheitliche Verbesserung attestiert. Sie könne im Dienstleistungssektor eine leichte körperliche Arbeit verrichten, befand die Versicherung. Es sei normal, dass die gesundheitliche Situation von IV-EmpfängerInnen nach einer bestimmten Zeit von der Behörde wieder überprüft werde, sagt auch Obrists Anwältin Irja Zuber. Dennoch glaubt sie, dass in diesem Fall die anonymen Meldungen eine Rolle gespielt haben.

«Ich verbringe auf den Tag verteilt vielleicht zwanzig Minuten auf Social Media», sagt Obrist. Ihren Twitter-Account hat sie 2011 erstellt, ihr Neffe hatte ihr die Plattform gezeigt. Ihr gefällt, dass man sich auf Twitter kurzfassen muss. Der Account zählt 62 200 Posts, das sind etwa 24 pro Tag. Die meisten davon sind Retweets. Drei Sekunden pro Post, schätzt Obrist. «Ich glaube nicht, dass ich angeschwärzt wurde, weil ich zu viel getwittert habe, sondern weil ich dabei wunde Punkte getroffen habe.»

Heftige Kopfschmerzattacken

Seit 23 Jahren leidet Brigitte Obrist an Clusterkopfschmerzen, einer seltenen und unheilbaren Erkrankung. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass etwa eine von tausend Personen davon betroffen ist. Die Symptome: kurze, aber sehr starke Kopfschmerzattacken, meist rund um das Auge. Clusterkopfschmerzen gelten als eine der schmerzhaftesten Krankheiten. Im Englischen werden sie umgangssprachlich auch «Suizidkopfschmerzen» genannt – wissenschaftliche Studien zeigen, dass 55 Prozent der Erkrankten tatsächlich an Suizid denken, weil sie die Schmerzen kaum aushalten.

«Es fühlt sich an, als ob man ein Kind durch das Auge gebärt», beschreibt Obrist die Kopfschmerzen. Pro Tag habe sie jeweils zwischen 15 und 36 Anfälle, dann muss sie sich innerhalb von Minuten ein gefässverengendes Gegenmittel spritzen, um die heftigen Schmerzen abzuwenden. Während unseres gut zweistündigen Gesprächs muss sie sich dreimal eine Spritze setzen. Sie macht das routiniert und ohne grosses Aufheben, dennoch bestimmt die Krankheit ihren Tagesablauf. Alleine einkaufen gehe sie kaum noch, erzählt sie, aus Angst, dass der Schmerz sie mitten im Supermarkt überfällt und sie gekrümmt hinter einem Regal zusammenbricht. Trotz Schlafmittel kann sie nachts oft erst gegen zwei oder drei Uhr einschlafen. Meist erwacht sie mehrmals pro Nacht. Im Schlaf träume sie von den Attacken. Wenn sie übermüdet sei, träten die Anfälle öfter auf.

Brigitte Obrist hat gelernt, mit ihrer Krankheit zu leben. Trotz der Schmerzen hat sie eine vergnügte, jugendliche Art. Sie sei schon als Kind rebellisch gewesen. Wenn sie mit der Predigt in der Kirche nicht einverstanden gewesen sei, habe sie nachher jeweils hartnäckig mit dem Pfarrer diskutiert. Als Bauerntochter aufgewachsen, wusste sie früh, dass Landwirtin nichts für sie ist. Als ihr die «Solange du deine Füsse unter meinen Tisch stellst …»-Mentalität der Eltern zu engstirnig wurde, zog sie aus und arbeitete als Kellnerin.

Puffmutter und Feministin

Heute raucht sie eine Zigarette nach der anderen und erzählt von ihrem Faible für alte Parfümfläschchen. Ihre Sammlung stamme aus der Zeit als Prostituierte, damals hätte sie genügend Geld für so was gehabt. Sie erwähnt das so nebenbei, als spräche sie über das Lieblingsfutter ihres Katers. Die kleinen, gläsernen Fläschchen stehen fein säuberlich nebeneinander im Regal.

Zwischen 20 und 30 arbeitete Brigitte Obrist als Sexarbeiterin. Mit 25 oder 26, so genau erinnert sie sich nicht mehr, war sie zudem «Puffmutter», wie sie es nennt. Sie mietete die Bordellwohnung, bezahlte Strom, Wasser und Fernsehen, sorgte für das Verbrauchsmaterial – Kondome, Taschentücher und Seifen –, stellte die Arbeitspläne mit fixen Arbeitszeiten zusammen. Zu dieser Zeit sprach Obrist erstmals öffentlich über ihren Beruf. Die Zeitschrift «Beobachter» hatte sie für ein Interview angefragt, es hätte auch anonym sein können. Obrist sagte zu und beschloss, sich mit ihrem richtigen Namen vorzustellen. «Ich kann doch nicht gegen die Stigmatisierung von Sexarbeiterinnen kämpfen und mich dann durch die Anonymität selbst stigmatisieren.» Der Tenor: «Ich liebe meinen Beruf».

«Ich bin durch die Prostitution Feministin geworden», sagt sie heute. «Da habe ich gemerkt, dass die Männer ebenso unter den patriarchalen Strukturen leiden. Bei mir konnten sie die Hosen runterlassen und ihre Seele entblössen.» Die Arbeit beschreibt sie als Care-Arbeit, bei der sie ausserdem gelernt habe, die Kunden in Sekundenschnelle einzuschätzen und knallhart zu verhandeln. Das habe ihr Selbstbewusstsein gestärkt.

Aidshilfe-Projektmanagerin

Sie kramt in ihren Unterlagen, aus dem Stapel nimmt sie einige Broschüren und Dossiers hervor. Von der Sexarbeit wechselte Obrist zur Aidshilfe – mit dem Fokus, die Arbeitsbedingungen im Rotlichtmilieu zu verbessern. Als Projektleiterin der Aidshilfe Schweiz lancierte sie Kampagnen, organisierte Schulungen, plante das Budget, führte Verhandlungen mit den Kantonen.

Wie solide Projektarbeit funktioniert, hatte sie sich selbst beigebracht, indem sie Ratgeber für Projektmanagement in der Wirtschaft las. Sie bezog über dreissig Sexarbeiterinnen mit in die Arbeit ein, damit diese das Wissen über Safer Sex in der Branche weitergäben. Sie konzipierte einen Kleber, den sich die Frauen an die Tür kleben konnten: «Bei mir immer mit!» Sie nahm Audiokassetten in sieben Sprachen auf – mit Musik und Präventionsbotschaften. Sie schrieb eine Situationsanalyse und kam zum Schluss, dass man die heterosexuellen Männer ebenfalls aufklären müsse: «Für eine Sexarbeiterin oder die ökonomisch abhängige Ehefrau wird es sonst schwierig, Kondome durchzusetzen.» Diese Arbeit habe ihr Spass gemacht. Sie habe wegen ihrer Erkrankung aufgehört, sonst wäre sie heute vielleicht in einer Menschenrechtsorganisation tätig oder würde sich als Projektleiterin für Geflüchtete einsetzen. Trotz der Clusterattacken hat sich Obrist weiterhin für die Rechte von Sexarbeiterinnen starkgemacht, sie wurde an Podiumsdiskussionen und in den «Club» von SRF eingeladen.

Auch dieses Engagement wurde ihr laut IV-Akten von einer anonymen Anruferin vorgeworfen. Obrist hat es genau ausgerechnet: Bis zu ihrer Pension spart die IV mit der Kürzung 38 232 Franken. Die 54-Jährige muss sich nun beim Arbeitsamt melden. Bislang erhält sie noch Ergänzungsleistungen. «Aber wenn ich in einem halben Jahr keine Stelle habe, was dann?», fragt sie. Dann wird sie auf Sozialhilfe angewiesen sein. Kämpferisch gibt sie sich trotzdem: «Ich lasse mir den Mund nicht verbieten. Ich muss mich wehren. Ich habe keine Angst und bin psychisch so stabil, dass ich das mir und auch künftigen Betroffenen schuldig bin.» Die aktuelle IV-Politik bewirke eine Bevormundung und einen Generalverdacht gegenüber kranken Menschen (vgl. «Die Spionage der Sozialversicherungen» im Anschluss an diesen Text). «Man ist während zwanzig Jahren auf sogenannten Scheininvaliden herumgetrampelt, und nun will jeder Tubel bei mir eine Ferndiagnose stellen», sagt Obrist. «Warum glauben so viele Bürger, sie müssten andere DDR-mässig denunzieren?»

Als Obrist die Rentenkürzung öffentlich machte, erhielt sie nicht nur Zuspruch und «Likes» in den sozialen Medien, sondern ebenso gehässige Kommentare und eine Drohung per Post. In krakeliger Schrift steht im Brief: «Hallo Schlampe! Schämst du dich nicht abzu kassieren? Kriegst kohle ohne ende fur nichts tun. Bald kommen Wir zu dir und nehmen uns das zurück. Das Spiel ist aus! Sieg Heil.» Das Schreiben ist gespickt mit ordinären sexistischen Beleidigungen und signiert mit zwei Hakenkreuzen. Obrist hat Anzeige erstattet und ein Foto des Drohbriefs auf Twitter veröffentlicht. «Ich will mich nicht einschüchtern lassen», sagt sie.

Die Wohnungstür, an der die «We can do it!»-Karte klebt, schliesst Obrist seit kurzem trotzdem immer ab. Wenn sie draussen ein komisches Geräusch hört, schaut sie nach. Jahrelang hat sie gegen die Stigmatisierung von Sexarbeiterinnen gekämpft, nun kämpft sie – unfreiwillig – gegen die Stigmatisierung von IV-RentnerInnen. Sie würde sich auch gern wieder mehr für die Rechte anderer einsetzen, aber momentan sei ihr Kopf zu voll mit dem «IV-Kram». Ihr grosser Wunsch? «Ferien», sagt Brigitte Obrist. «Zwei Wochen Ferien von den Kopfschmerzen.»

Neuer Gesetzesentwurf: Die Spionage der Sozialversicherungen

Wie genau dürfen Sozialversicherungen ihren Versicherten nachspionieren? Um diese Frage zu klären, arbeitet das Parlament derzeit an einem Gesetzesentwurf. Bislang hatten die Sozialversicherungen einen enorm grossen Spielraum: So wurden etwa DetektivInnen eingesetzt, die IV-EmpfängerInnen bei Verdachtsmomenten verdeckt nachspionierten (siehe WOZ Nr. 32/2017 ). Im Oktober 2016 hat aber ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) die Spielregeln grundsätzlich geändert – verdeckte Überwachung sei bei IV-Fällen nicht legal. Er forderte von der Schweiz eine klarere und präzisere gesetzliche Grundlage. Dennoch wurde die Praxis hierzulande weitergeführt, bis Anfang August dieses Jahres ein Bundesgerichtsurteil den Entscheid des EGMR stützte. Seitdem ist die Gesetzeslage unklar.

Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit (SGK) des Ständerats hat eine entsprechende Vorlage ausgearbeitet. Diese fordert nicht nur, IV-EmpfängerInnen mit Bild- und Tonaufzeichnungen überwachen zu können, sondern ebenfalls, deren Bewegungsprofil anhand von GPS-Trackern orten zu dürfen.

Letzteres hielt der Bundesrat dann doch für übertrieben. Zudem schlug er eine Beschränkung der Observation auf sechs Monate vor, da auch das EGMR-Urteil eine klar geregelte Maximaldauer verlangt. Vergangene Woche hat die Ständeratskommission abermals beraten – am GPS-Tracking will sie weiterhin festhalten. Nach wie vor uneins sind sich Bundesrat und die SGK zudem darin, wer die Massnahmen anordnen kann: Der Bundesrat hält wegen «rechtsstaatlicher Prinzipien» dafür eine richterliche Genehmigung für notwendig. Die Kommission schlägt vor, dass «eine Person mit Direktionsfunktion im Bereich Leistungen des Versicherungsträgers zuständig ist». Sprich: Nicht Gerichte sollen entscheiden, sondern die Sozialversicherungen selbst.

Merièm Strupler