Post-Covid: Chronisch erschöpft gegen das System
Wer nach einer Covid-Erkrankung weiter an deren Symptomen leidet, sieht sich oft mit Misstrauen, Kündigung und zahlungsunwilligen Versicherungen konfrontiert. Die fehlende Unterstützung kann einschneidende Folgen haben.
«Plötzlich bekam ich keine Luft mehr», sagt Maruja Erni. Später kamen massive Schmerzen in der linken Körperhälfte dazu. Erni ist auch eineinhalb Jahre nach ihrer Ansteckung mit dem Coronavirus noch schwer krank und hat deswegen ihre Stelle verloren. Obwohl sie derzeit nicht arbeiten kann, will ihr die Invalidenversicherung (IV) keine Leistungen zusprechen. Das stelle sie vor existenzielle Probleme, sagt Erni.
Ähnlich geht es auch anderen Personen, die sich mit Corona infiziert haben und nach Abklingen der Akuterkrankung weiterhin an Symptomen leiden. Halten diese Long Covid genannten Symptome länger als drei Monate an, spricht man offiziell von einer Post-Covid-Erkrankung. Die WOZ hat mit mehreren Personen gesprochen, die nicht nur um ihre Gesundheit kämpfen, sondern auch um ihr Sozialleben, ihren Beruf und mit den Versicherungen.
«Wir beobachten, dass die IV Leistungen ganz ablehnt oder nur eine tiefe Rente zuspricht.»
Petra Kern, Inclusion Handicap
Im Dezember 2020 waren Läden, Restaurants und Kulturlokale geschlossen. «Bleiben Sie zu Hause», lautete die offizielle Aufforderung. Doch Erni kann nicht zu Hause bleiben. Sie muss weiterhin zur Arbeit in einem Luzerner Pflegeheim. Dort steckt sich die an Bronchialasthma leidende Risikopatientin mit Covid-19 an, das Virus befällt auch ihre Lunge. Sie geht in Selbstisolation und dann kurz darauf wieder zur Arbeit. Doch eine Woche später geht nichts mehr. «Die Schmerzen beim Atmen und das Engegefühl in der Brust waren so stark, dass ich nicht mehr gehen konnte», sagt Erni.
Zehntausende Betroffene
Das von der Weltgesundheitsorganisation WHO als dringliches Problem definierte Post-Covid-Syndrom umfasst eine Vielzahl von Beschwerden. Dazu gehören unter anderem Fatigue (chronische Müdigkeit), Belastungsintoleranz, Atemnot, Gedächtnis-, Konzentrations-, Sprach- und Schlafprobleme, Herzbeschwerden, Brust- und Muskelschmerzen, aber auch Depression, Angst und Fieber. Die Betroffenen leiden meist nicht an allen Symptomen – auch verändert sich das Gesamtbild der Erkrankung bei vielen über die Zeit. Doch so einschneidend Post-Covid für die Betroffenen oft ist: In Laboruntersuchungen ist es nicht oder nur schwer nachzuweisen. Auch bei Maruja Erni bringen die ersten Untersuchungen keine Ergebnisse. «Dann habe ich auf eigene Kosten weitere Untersuchungen machen lassen.» Dabei zeigt sich, dass Erni seit der Coronaerkrankung an einer Herzbeutelentzündung leidet – und sich ihre Lungenprobleme verschlimmert haben. «Hätte man mir geglaubt, wäre mein Herzleiden viel früher entdeckt worden», sagt Erni wütend. Später kommen weitere Untersuchungen und drei Spitäler unabhängig voneinander zur Diagnose: Post-Covid. Im Berner Unispital wird dabei auch Fatigue festgestellt.
Gregory Fretz ist einer der führenden Schweizer Ärzt:innen auf dem Gebiet chronische Müdigkeit und Post-Covid. Er schätzt, dass ein halbes Jahr nach ihrer Covid-Erkrankung rund zehn Prozent aller Patient:innen noch immer Symptome haben. Studien zeigten, dass dieser Anteil nach einem Jahr auf zwei bis drei Prozent sinkt. Doch wer dann noch betroffen ist, hat meist starke Symptome. Zudem hat sich mittlerweile die grosse Mehrheit der Menschen in der Schweiz mindestens einmal mit dem Erreger infiziert. Wenn auch nur jede:r Fünfzigste länger andauernde Post-Covid-Symptome entwickelt, sind mehrere Zehntausend Menschen betroffen. Geklärt ist die Ursache von Post-Covid nicht. Das liegt auch daran, dass die mit Post-Covid wohl eng verwandte Myalgische Enzephalomyelitis, auch Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) genannt, zwar schon seit über fünfzig Jahren bekannt ist, bisher aber ungenügend erforscht wurde. An ME/CFS litten in der Schweiz schon vor Covid-19 rund 16 000 Personen. Was die Wissenschaft inzwischen weiss: Rund zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. «Das stützt die aktuell plausibelste These, dass Post-Covid die Züge einer Autoimmunerkrankung trägt», sagt Fretz. Das Immunsystem von Frauen sei grundsätzlich anfälliger für diese Art von Erkrankung.
Für Post-Covid gibt es inzwischen Fragebögen und Methoden, mit denen eine verlässliche Diagnose erstellt werden kann. «Doch in den allermeisten Fällen kann man die Diagnose nicht zu hundert Prozent beweisen», sagt Fretz. Das legen die Versicherungen oft zuungunsten der Betroffenen aus. Im Fall von Maruja Erni, die aufgrund ihrer Erkrankung nur noch zwanzig Prozent arbeiten konnte, klingt das dann seitens der IV so: «Die subjektiv empfundene Atemnot konnte nicht objektiviert werden. Auch das Herzecho und die Augenabklärung […] waren unauffällig.» Es sei deshalb «kein Gesundheitsschaden erkennbar». Das Fazit der Versicherung: «Eine Invalidität im Sinne des Gesetzes ist daher nicht ausgewiesen.» Seit vielen Jahren pflege sie Menschen, sie mache das gerne und mit viel Elan und Engagement, sagt Erni. Sie sei früher immer eingesprungen, wenn jemand ausgefallen sei. «Nun werde ich selber krank und werde einfach entlassen.» Und obwohl sie klare Belege und Atteste für ihre Krankheit habe, glaube ihr auch die IV nicht. Noch bis Anfang 2023 erhält sie voraussichtlich Geld von ihrer Taggeldversicherung. Gegen den Entscheid der IV hat sie Rekurs eingelegt.
Wenn die Versicherung krank macht
Während Maruja Erni vor allem an Herz- und Lungenproblemen leidet, stehe bei der Mehrheit der Betroffenen eine Belastungsintoleranz im Vordergrund, sagt Chantal Britt von der Patient:innenorganisation Long Covid Schweiz, in der sich Betroffene selbst organisieren. Belastungsintoleranz bedeutet, dass Überanstrengung zu einer Verschlechterung und Chronifizierung von Symptomen führen kann. Bereits ein zusätzlicher halber Arbeitstag kann reichen oder der Weg vom Briefkasten über eine Treppe zur Wohnung oder ein einziges kurzes Telefongespräch.
«Das Einzige, was gegen die Erkrankung hilft, ist, mit ganz kleiner Belastung zu beginnen und diese dann ganz langsam zu steigern», sagt der Churer Spitalarzt Gregory Fretz. Am Anfang sei es oft sinnvoll, nur wenig zu arbeiten, vielleicht zweimal zwei Stunden pro Woche. Sonst drohe es zu Rückfällen zu kommen, sogenannten Crashs, die auch die Prognose für die Betroffenen insgesamt verschlechtere. «Doch häufig sind die Versicherungen mit einem langsamen Steigern der Arbeitsbelastung nicht einverstanden», sagt Fretz. Mehrere Betroffene sagen gegenüber der WOZ, bei ihnen sei genau das passiert.
Diese Haltung der Versicherungen sei hochproblematisch, findet Chantal Britt. Denn damit mache man die Menschen nur kränker. «Ungerecht ist das auch, weil Personen mit einer körperlichen Arbeit gefährdeter sind, chronische Long-Covid-Verläufe zu entwickeln.» Wer im Spital, im Detailhandel oder handwerklich arbeite, könne sich oft viel weniger gut schonen als jemand im Homeoffice, sagt die Akademikerin Britt. «Und während sich Menschen mit hohem Einkommen und Erspartem eine Auszeit nehmen können, kann man sich das mit tiefem Einkommen nicht leisten.» Viele fürchteten sich zudem vor einer Entlassung. «Ich kenne viele Fälle, in denen Personen mit leichteren Verläufen weiterhin voll arbeiten gehen – und ihre ganze Freizeit für die nötige Erholung opfern.» Als Folge könnten die Personen ihren Haushalt nicht mehr führen und hätten keine Zeit und Energie für soziale Kontakte.
Ihr Leben bestehe aktuell einzig aus Arbeiten und dem Erholen von der Arbeit, sagt Andrea Liniger, die derzeit in einem Fünfzig-Prozent-Pensum arbeitet. Auch Liniger, die eigentlich anders heisst, hat sich bei der Arbeit in einer Gesundheitsinstitution angesteckt. «Man hat für uns geklatscht – doch dann hat man mich und alle Post-Covid-Betroffenen so richtig im Stich gelassen.» Sie glaubt, dass sie schon lange gesund sein könnte, wenn sie mehr Zeit bekommen hätte, um sich auf sich selbst zu konzentrieren. «Von allen Seiten wird Druck gemacht», sagt Liniger. Ihre Versicherung habe die Taggelder eingestellt mit dem Verweis auf ein angeborenes Ohrenleiden. Dieses habe sie zuvor ja auch nie eingeschränkt. Auch im privaten Umfeld hätten nicht alle gut reagiert. «Ich kenne so viele, die Covid hatten, aber nur du tust so», habe ihr jemand gesagt. Das sei schmerzhaft. Wie Liniger und Erni schildern auch andere Betroffene dieses Unverständnis, dieses Misstrauen, das sie von allen Seiten verspüren.
2021 hat die IV in der Schweiz nur bei gut drei Prozent der rund 1800 Anmeldungen in Zusammenhang mit Long Covid eine Rente gesprochen. Zwar dürfte sich die Zahl noch erhöhen, weil manche der Verfahren noch laufen. Gleichwohl ist das Bild klar: 59 Berentungen stehen 1081 Leistungsverweigerungen gegenüber. Bei den restlichen Fällen wurde meist eine sogenannte Eingliederungsmassnahme verfügt. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schreibt auf Anfrage dazu, die Erfahrung zeige, «dass in vielen Fällen die schweren Symptome mit geeigneter Behandlung weitgehend behoben werden können». Die IV-Stellen müssten daher «über einen längeren Zeitraum genau prüfen, ob das schwere Leiden voraussichtlich dauerhaft» sei. «Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Menschen, die stark gesundheitlich betroffen sind und ganz klar nicht mehr arbeiten können, sich in dieser Situation nicht ernst genommen fühlen», so das BSV. Das Bundesamt betont zudem, dass grundsätzlich Eingliederungsmassnahmen im Vordergrund stünden. Eine betroffene Person sagt gegenüber der WOZ, die IV habe von ihr eine zu starke Leistungssteigerung erwartet. Der IV-Berater habe dies mit internen Vorgaben begründet.
Taskforce gefordert
Durch die Covid-19-Pandemie rücken chronische Erkrankungen stärker in den Fokus. Dabei wird sichtbar, wie die Schweiz grundsätzlich mit vielen chronisch Erkrankten umgeht. Firmen entlassen diese teilweise bei der ersten Gelegenheit – und bei privaten Krankentaggeldversicherungen steht oft der finanzielle Gewinn im Vordergrund. Auch die IV wurde mit jeder Revision noch stärker auf einen aktivierenden Sozialstaat und Sparkurs getrimmt. Die Folgen sind nicht erst jetzt zu sehen: Eine Studie des Bundes zeigt, dass der Anteil jener, die nach einem negativen IV-Entscheid in der Sozialhilfe landen, zwischen 2005 und 2020 um 25 Prozent zugenommen hat.
«Auch bei den Taggeldversicherungen stellen wir in letzter Zeit vermehrt Probleme fest», sagt Petra Kern von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen. Die Versicherungen liessen immer häufiger bereits nach sechs bis zwölf Monaten vertrauensärztliche Abklärungen durchführen, die in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit zu anderen Ergebnissen kommen als die behandelnden Ärzte und Ärztinnen. Daraufhin würden häufig die Leistungen eingestellt. «Das ist eine grosse Belastung für die Versicherten.» Die darauffolgenden Verfahren mit den Versicherungen verlangten ihnen in einer schwierigen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Situation viel Geduld ab – speziell wenn der gerichtliche Weg eingeschlagen werden müsse.
Inclusion Handicap bietet eine Rechtsberatung an und vertritt Betroffene auch gegenüber den Sozialversicherungen. Bislang seien zwar weniger Anfragen von Post-Covid-Betroffenen eingegangen, als man erwartet habe, sagt Kern. «Doch wir kennen die Probleme, mit denen Post-Covid-Betroffene konfrontiert sind, von anderen Schmerz- und Erschöpfungskrankheiten wie ME/CFS und von psychischen Beeinträchtigungen.» Bei all diesen Erkrankungen seien die Symptome oft auch nicht abschliessend objektivierbar, was häufig zu Problemen mit Taggeldversicherungen und IV führe. «Wir beobachten, dass die IV in vielen Fällen Leistungen ganz ablehnt oder nur eine tiefe Rente zuspricht.» Oft werde der Lebensunterhalt der Betroffenen dann von Familienangehörigen getragen, sagt Kern. Viele müssten aber auch Sozialhilfe beantragen.
Kern hofft, dass die Post-Covid-Forschung neue Erkenntnisse bringt, die versicherungsrechtliche Verbesserungen nach sich ziehen. «Im besten Fall können nicht nur Long-Covid-Betroffene davon profitieren.» Zwar konstatierten auch Post-Covid-Betroffene, dass ihre Forderungen nicht gehört würden, doch fehle die Öffentlichkeit bei anderen chronischen Erkrankungen leider oft gänzlich.
Das Bundesparlament hat den Bund Ende 2021 immerhin verpflichtet, Post-Covid-Forschungsprojekte zu finanzieren. Mediziner Gregory Fretz, der vor Covid-19 die einzige Schweizer ME/CFS-Sprechstunde anbot, sieht die Schweiz im Forschungsbereich grundsätzlich gut aufgestellt. Bald starte eine grosse Studie zu einer Antikörpertherapie, mit der die Schweiz eine Pionierrolle einnehme. Fretz äussert Verständnis für Betroffene, die sich in der aktuellen Situation mehr Forschung und zeitnahere Ergebnisse wünschten. Für die Betroffenen eilt es. Sie fordern deshalb das Einsetzen einer nationalen Post-Covid-Taskforce – bisher vergeblich.