Zum Beispiel Baden: Generalverdacht in der «sensiblen Zone»
Wie den Austausch zwischen Asylbewerbern und NachbarInnen fördern, wenn der dafür vorgesehene Treffpunkt von den Stadtbehörden zum Tabu erklärt wird? Bericht von absurden Vorgängen an einem Sonntag in Baden.
Jeder stellt sich vor mit seinem Namen, seinem Herkunftsland – und dem Wichtigsten: seinem Lieblingsessen. So beginnt die Begegnungsveranstaltung «Baden isst. Grenzenlos» der Organisation Jass (Just a simple scarf), die sich für eine diskriminierungsfreie Gesellschaft einsetzt. Schliesslich überschreitet das Lieblingsessen Länder- und Kulturgrenzen. Acht Gerichte werden an diesem Sonntag gekocht und gegessen, von AusländerInnen, SchweizerInnen und Asylsuchenden – darunter auch einige aus dem kantonalen Asylzentrum.
Etwa ein Drittel der rund sechzig Anwesenden ist zuvor gemeinsam durch den Schneeregen gegangen. Ein Spaziergang, keine Demo. Und doch ein Gang mit symbolischem Charakter. Seinen Anfang nahm er vor dem kantonalen Asylzentrum La Cappella im Badener Stadtrandquartier Kappelerhof – und führte hierhin, in die Grossküche auf dem Schulareal in Ennetbaden.
Vom Umgang mit Ängsten
Kappelerhof, «Kappi» genannt, ist ein Quartier, auf dessen kulturelle Vielfalt viele seiner BewohnerInnen stolz sind. Darunter auch die Quartiervereinspräsidentin, die sich in der aktuellen Ausgabe des Quartierblatts an ihre Kindheit und damit an die 1700 italienischen Gastarbeiter im Kappi erinnert. Fünfzig Jahre später reicht ein Asylzentrum für maximal hundert Bewohner, um einen Teil der QuartierbewohnerInnen aufzuwühlen. Vor allem Eltern von schulpflichtigen Kindern haben interveniert. Noch bevor Anfang September die ersten von mittlerweile 28 Asylsuchenden ins ehemalige Hotel La Cappella einzogen, waren die Schule und der Kindergarten Kappelerhof auf der anderen Strassenseite zur «sensiblen Zone» erklärt worden. Soll heissen: Die Bewohner – es sind alles Männer – des «La Cappella» werden angehalten, das Gebiet nicht zu betreten. Regula Dell’Anno-Doppler, SP-Stadträtin und just seit diesem Wahlsonntag Vizeammann, nennt das im Gespräch «einen pragmatischen Ansatz im Umgang mit den geäusserten Ängsten». Laut dem kantonalen Sozialdienst habe sich das auch schon an anderen Orten bewährt.
«Sensible Zonen» sind in der gesamten Schweiz schon seit längerem bekannt. Auch in Baden: Bis zur Schliessung des kantonalen Zentrums im unterirdischen Notspital Anfang dieses Jahres sollten die Bewohner gewisse Wege auf dem Spitalareal nur mit einer Begleitperson nutzen. Das Perfide an «sensiblen Zonen»: Sie sind meist über die Hausordnung des jeweiligen Zentrums geregelt. Jene Asylsuchenden, die gegenüber dem «La Cappella» in einer Wohnung leben, betrifft sie nicht.
2016 fand «Baden isst. Grenzenlos» noch auf dem Areal der Schule Kappelerhof statt. Auch dieses Jahr war der Anlass dort geplant – nun aber mit der Auflage, dass Jass die Bewohner des «La Cappella» auf dem Parkplatz vor der Unterkunft abholen und auch dahin zurückbringen müsse. Die VeranstalterInnen eines interreligiösen Friedensgebets hatten diese Auflage akzeptiert. Bei Jass hingegen wehrt man sich gegen solche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. «Wir wollen Begegnung unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsstatus ermöglichen», sagt Judith Bühler von Jass. «Es wäre absurd, einige Teilnehmer anders zu behandeln. Das ist eine Prinzipienfrage.»
Dass der Begriff «sensible Zone» keine offiziell verbindliche Definition hat, ändert nichts daran, dass er das Grundrecht der Bewegungsfreiheit beschneidet. Das hielten diesen Herbst auch die Wissenschaftlerinnen Regina Kiener und Gabriela Medici in einer Schrift der Eidgenössischen Migrationskommission fest: «Ob aber eine Person eine Gefahr für Sicherheit und Ordnung darstellt, hängt nicht von ihrem Aufenthaltsstatus ab. Der Aufenthaltsstatus von Asylsuchenden ist deshalb (…) kein sachlicher Grund für eine Ungleichbehandlung.»
Versteckter Hinweis
«Sensible Zonen» stellen die BewohnerInnen eines Asylzentrums unter Generalverdacht. Selbst wenn sie – wie im «La Cappella» – den Bewohnern weniger bewusst zu sein scheinen als Behörden und besorgten Eltern. Die Medienstelle des Sozialdiensts behauptet zwar, jedem Betroffenen werde eine Karte ausgehändigt und persönlich erklärt, dass er das besagte Areal nicht betreten dürfe. Bei einem abendlichen Besuch in Begleitung einer Übersetzerin allerdings scheint es, als würde keiner der anwesenden Bewohner wissen, dass das nur hundert Meter entfernte Schulareal für sie eine No-go-Area ist. Erst nach langer Suche mit einem Bewohner ist ein entsprechender Hinweis auffindbar: ein Plan auf laminiertem Papier in der Lobby – darauf ist das Schulareal mit rotem Filzstift markiert.
Am Kochsonntag in Ennetbaden ist die Zone nur anfangs ein Thema. Danach geht es kulinarisch grundiert darum, einen Nachmittag auf Augenhöhe zu verleben. Vielleicht wird dieser Einschnitt in die Bewegungsfreiheit bald keine Rolle mehr spielen. Vor kurzem hat die Begleitgruppe des «La Cappella» Ausnahmen für Fussballtrainings und Deutschstunden beschlossen. Stadträtin Dell’Anno-Doppler betont: «Im August ging es darum, den Eltern zu vermitteln, dass man ihre Ängste ernst nimmt. Ich hoffe, dass in drei Monaten niemand mehr fragt, wo sich die Bewohner aufhalten.» Darauf kann man hoffen, ebenso auf die Einsicht: Diskriminierung baut keine Ängste ab, in Baden wie anderswo.