Asyl: Unter ständiger Kontrolle
Die Kritik am revidierten Bundesasylgesetz verstummt nicht: Betroffene beschreiben das neue System als «unmenschlich» und zeichnen ein Bild von Isolation und Überwachung.
«Die ersten Erfahrungen sind durchwegs positiv», bilanziert das Staatssekretariat für Migration (SEM) sieben Monate nach Inkrafttreten des revidierten Bundesasylgesetzes. «Das Wichtigste ist, dass wir es geschafft haben, die Verfahren zu beschleunigen und gleichzeitig der Rechtsstaatlichkeit Genüge tun», schreibt das SEM in einem E-Mail an die WOZ weiter.
Recherchen dieser Zeitung widersprechen dieser Selbstdarstellung jedoch diametral. Im Gespräch mit über einem Dutzend Personen in unterschiedlichen Funktionen entsteht ein Bild des SEM als Alleinherrscher im Asylwesen. Zu kurze Fristen sowie der isolierende Charakter der neuen Zentren werden beklagt. Die Berichte zeugen von einem System im Zeichen der Verwaltungseffizienz.
Leibesvisitationen am Eingang
Seit dem 1. März werden alle Personen, die in der Schweiz ein Asylgesuch stellen, in Bundesasylzentren (BAZ) untergebracht. Insgesamt 5000 Unterbringungsplätze stehen zur Verfügung, und das SEM betreibt gegenwärtig fünfzehn Zentren. Anfang November kommt ein neues auf dem Duttweiler-Areal in Zürich hinzu. Die Zentren sind Orte der Kontrolle: Die Asylsuchenden werden in der Regel bei jedem Eintritt einer Leibesvisitation unterzogen und müssen sich an ein striktes Regime halten. Privatsphäre gibt es kaum, und die medizinische und die psychologische Betreuung seien unzureichend, sagen KritikerInnen. Erhält eine Person einen negativen Asylentscheid, muss sie innert sieben Arbeitstagen eine ausführlich begründete schriftliche Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht einreichen. Im alten Verfahren standen dafür dreissig Arbeitstage zur Verfügung.
Der auf Asyl- und Migrationsrecht spezialisierte Jurist Shahryar Hemmaty begleitete verschiedene Personen im neuen Verfahren und sieht aufgrund der kürzeren Fristen keine «adäquate Chance, fundiert Rekurs zu ergreifen». Hemmaty betreute unter anderem Sahar Khan*, die zwischenzeitlich im Bundesasylzentrum Embrach untergebracht war. In ihrem Herkunftsland arbeitete Khan für internationale Organisationen und engagierte sich in Geschlechterfragen. Weil sie bedroht wurde, musste sie fliehen. Über ein anderes europäisches Land fand sie den Weg in die Schweiz. Als sie dachte, endlich am Ziel zu sein, stand der schlimmste Teil der Reise jedoch erst bevor.
Sie beschreibt die Situation in Embrach als schrecklich und erhebt schwere Anschuldigungen gegen die Leitung des BAZ. Khan fühlte sich als Mensch in einem System der Verwaltung verloren: «Ich wünschte mir, dass jemand von einer NGO die Zustände im Lager gesehen hätte.» Das Bundesasylzentrum sei wie ein Gefängnis, Asylsuchende stünden unter ständiger Kontrolle. Khan sagt, dass ihre gesundheitlichen Probleme nicht ernst genommen worden seien und es fast zwei Monate gedauert habe, bis sie psychologische Unterstützung erhalten habe. Ihre Depressionen hätten sich in dieser Zeit massiv verstärkt. Khan setzte sich zudem als Übersetzerin für die Anliegen anderer Asylsuchenden ein, worauf ihr die Leitung des BAZ mitgeteilt habe, dass sich das negativ auf ihr Verfahren auswirken könnte. Als sie sich wehrte, sei ihr die Verlegung in ein unterirdisches Camp, einen sogenannten Bunker, angedroht worden.
Das SEM schaffte Sahar Khan Anfang September in ein Nachbarland der Schweiz aus, obwohl das gemäss Hemmaty aufgrund ihrer Verfassung rechtlich fragwürdig war. Laut einem psychologischen Gutachten befand sie sich «in einer sehr starken Leidenssituation» und benötigte eine «längerfristige psychotherapeutische Behandlung». Bis heute hat sie von den Behörden an ihrem neuen Aufenthaltsort weder psychologische noch medizinische Hilfe erhalten.
Keine Privatsphäre
Die Geschichte von Sahar Khan deckt sich mit anderen Aussagen von Asylsuchenden, die das raue Klima unter dem neuen System bestätigen. Die Umgebung sei «menschenfeindlich» oder «gefängnisähnlich», Privatsphäre inexistent und die Behandlung durch die Sicherheitskräfte oft willkürlich und erniedrigend. Obwohl genügend Platz vorhanden wäre, müssten mehrere Familien in einem Raum schlafen, pro Zimmer zehn bis fünfzehn Personen. Sich umziehen, ohne dabei von fremden Augen beobachtet zu werden, sei unmöglich, Sexualität sowieso. Wegen der Abgeschiedenheit vieler Zentren und mangelnder Freizeitangebote sind die sogenannten gemeinnützigen Beschäftigungsprogramme oft die einzige Möglichkeit, diesem Alltag zu entkommen. Dabei erledigen Asylsuchende Waldarbeiten oder reinigen öffentliche Anlagen zum Prekaritätslohn: Der Verdienst beträgt fünf Franken pro Stunde und maximal dreissig Franken pro Tag.
Die Arbeiten seien im Interesse der lokalen Gemeinde, der Lohn ein «Anerkennungsbeitrag», rechtfertigt sich das SEM auf Anfrage der WOZ. Die Vorwürfe der Asylsuchenden streitet das SEM kategorisch ab, und es behauptet sogar, «im Zweifel immer zugunsten der Schutzsuchenden zu entscheiden». Auf die einzelnen Fälle und die Kritik geht das SEM nicht weiter ein und sagt lediglich, dass es ein zentrales Anliegen sei, «dass die Asylsuchenden würdevoll untergebracht sind und die Möglichkeit auf Privatsphäre und Bewegungsfreiheit haben».
BAZ-Mitarbeitende und BeobachterInnen erzählen derweil, dass das SEM enormen Druck auf sie ausübe und somit Kritik im Keim ersticke. In den Gesprächen mit verschiedenen AkteurInnen entsteht der Eindruck, dass eine latente Angst vor Konsequenzen herrscht: «Aber meinen Namen lese ich nicht in der Zeitung, oder?», heisst es verschiedentlich. Es scheint, als versuche das SEM krampfhaft, die Zügel in der Hand zu behalten.
Fragen der WOZ zu den im BAZ Embrach gemachten Erfahrungen an die Asylorganisation Zürich (AOZ), die für die Betreuung der Asylsuchenden zuständig ist, beantwortet grösstenteils SEM-Pressesprecher Lukas Rieder. Dem SEM obliege die Informationspflicht zu den Asylverfahren, heisst es rechtfertigend. Eine Anfrage für einen Besuch im Zentrum wird zuerst ohne Nennung von Gründen abgelehnt. Auf Nachfrage bietet Daniel Bach, SEM-Kommunikationschef, einen Besuchstermin nach Redaktionsschluss in seiner Begleitung an – eine Besichtigung nur mit der Zentrumsleitung der AOZ sei nicht möglich.
Über den Umgang mit Kritik schreibt Samuel Häberli, Geschäftsleiter der Rechtshilfeorganisation Freiplatzaktion Zürich: «Bundesasylzentren entgleiten der demokratischen Kontrolle! Während das SEM Einwände gegen das System von aussen ganz punktuell und nach Plan zulässt, unterbindet es grundlegende Kritik. Damit zementiert das SEM seine Macht.»
Freiwillige eingeschüchtert
In der Praxis sieht das folgendermassen aus: Dem Zürcher Solinetz wurde der Zugang zum Bundesasylzentrum in Embrach nach kritischen Äusserungen über die Bundesasylgesetzrevision und ihre Auswirkungen verwehrt. Am 1. März hatte das Solinetz in einem Newsletter über Durchsuchungen der Wohnräume durch die Securitas, Videoüberwachung, Zäune und mangelnde Privatsphäre in den Bundeslagern, in denen das neue Verfahren getestet wurde, berichtet und die getakteten Verfahren sowie den Mangel an Beschäftigungsprogrammen kritisiert. Das SEM hob daraufhin die bereits getroffene Besuchsvereinbarung mit der Zürcher Freiwilligenorganisation auf.
Mittlerweile fänden wieder Verhandlungen statt, sagt Hanna Gerig, Geschäftsführerin des Solinetzes: «Wir hoffen, dass sich durch die Gespräche mit dem SEM die Türen in Embrach doch noch öffnen.» Für das Projekt in Embrach orientierte sich das Solinetz an seinem Besuchskonzept im Ausschaffungsgefängnis am Flughafen, und dennoch bezeichnete das SEM den eingereichten Vorschlag als unspezifisch. Die Türen blieben bis heute zu.
In den einzelnen BAZ herrschen unterschiedliche Standards, dementsprechend unterscheiden sich auch die Erfahrungen an den verschiedenen Standorten. Die Berichte aus Basel, Bern oder Kreuzlingen seien nicht ganz so ernüchternd wie jene aus Embrach oder vom Glaubenberg OW, sagt Laura Tommila von der Plattform Zivilgesellschaft in Asyl-Bundeszentren (ZiAB). Ganz generell spricht aber auch sie davon, dass Freiwillige teilweise eingeschüchtert seien und «bewusst keine Kritik äussern oder auf Missstände hinweisen, weil sie befürchten müssen, dadurch den Zugang zum BAZ und zu den BewohnerInnen zu verlieren.»
* Name geändert.