Afrofuturismus: «Sklavenhandel? Du lernst nichts darüber»

Nr. 50 –

Wie kann man die Auslöschung auslöschen? Der afrofuturistische Denker Greg Tate über kulturelle Militanz und die ernüchternde Coolness von Barack Obama.

Was ist Afrofuturismus? Gewöhnlich wird er umschrieben als «künstlerische, musikalische und literarische Bewegung, die Elemente aus Science-Fiction, magischem Realismus und afrikanischer Geschichte verbindet», wie beim Hamburger Kulturforum Kampnagel kürzlich vor einem Referat von Greg Tate zu lesen war. Als kulturelle Ästhetik wird Afrofuturismus auf den kosmischen Jazz von Sun Ra zurückgeführt, den Begriff selber prägte erst Mark Dery in seinem Essay «Black to the Future» (1993). Greg Tate wurde darin als Pate dieser Schule schwarzen Denkens benannt, und er war es auch, der sich 2014 in einem Essay darüber lustig machte, dass er so oft nach Deutschland eingeladen wird, um über Afrofuturismus zu sprechen. Wie kommt es, so wunderte er sich, dass ausgerechnet die Deutschen sich so brennend für Black Futurism interessieren, wo doch der Futurismus als Kunstbewegung die Erinnerung an die schwarze Vergangenheit der Deutschen heraufbeschwört?

WOZ: Greg Tate, haben Sie inzwischen herausgefunden, warum die Deutschen sich so für Afrofuturismus interessieren?
Greg Tate: Ich finde die Umarmung des Futurismus in Deutschland fragwürdig, wenn man bedenkt, dass die Futuristen aus dem Faschistischen oder Präfaschistischen schöpften. Ausserdem ist es problematisch, Futurismus mit einer bestimmten ethnischen Zuschreibung zu identifizieren. Andererseits wurde Sun Ra ausserhalb der USA in den sechziger und siebziger Jahren zuerst in Deutschland zur Kenntnis genommen.

Afrofuturismus wird häufig als Bewegung bezeichnet. Trifft es das?
Ich würde nicht von einer Bewegung im politischen oder akademischen Sinn sprechen, sondern von einer Bewegung im nomadischen Sinn – nomadisch, weil afrofuturistische Motive in den verschiedensten Biografien auftauchen, auf verschiedenen Kontinenten, in verschiedenen Räumen, Zeiten und Kunstformen. Black Futurism bezeichnet eine Art, wie schwarze Menschen befreiende Impulse miteinander verknüpfen.

Sie schreiben, dass der Rassismus in den USA dem Afrofuturismus auch Chancen biete. Wie ist das zu verstehen?
Der Rassismus in Amerika wurde über Jahrhunderte im internationalen Kontext von Imperialismus und Kolonialismus intellektuell legitimiert. Die weisse Vorherrschaft in den USA zur Zeit der Sklaverei musste legitimiert werden, indem schwarze Menschen komplett entmenschlicht wurden. Sie wurden zu Objekten reduziert, zu Instrumenten in den Händen der Weissen. Diese Legitimation des Rassismus erfolgte auch akademisch und philosophisch durch die Verbreitung von Mythen über schwarze Menschen. Das hält sich bis ins 21. Jahrhundert, mit den Mythen über die intellektuellen Fähigkeiten von Schwarzen, ihre Sexualität, ihre Spiritualität. Der Mythos, dass die Versklavten von einem Ort ohne Geschichte kommen, geht auf Hegel zurück. Also ist vieles von dem, was wir Afroamerikaner kulturell entwickelt haben, ein Gegennarrativ, eine Gegenmythologie, eine Gegenmilitanz, um das ideologische Konstrukt der White Supremacy zu kritisieren und zu zerschlagen.

Ist das die Strategie, die Sie «Erasing the Erasure» nennen, die Auslöschung dieser Auslöschung als permanenter Prozess?
Ja, klar. Wenn du als Afroamerikaner eine öffentliche Schule besuchst oder an einer Universität studierst, die nicht gerade auf Black Studies spezialisiert ist, dann kannst du deine komplette Ausbildung absolvieren, ohne ein Wort über deine Herkunft zu hören, über schwarze Menschen in Amerika. Wie kamen Afrikaner nach Amerika? Sklavenhandel? Du lernst nichts darüber. Das ist die eine Seite des Ausradierens. Die andere betrifft die kulturellen Leistungen deines Volks. Jazz und Blues gingen um die Welt, aber in amerikanischen Bildungsstätten lernst du nichts über Duke Ellington, Charlie Parker oder Miles Davis. «Erasing the Erasure» heisst: Wir müssen die Auslöschung ersetzen durch eigene Erzählungen über unsere Traditionen und unsere Kulturleistungen.

Demnach wäre Afrofuturismus eine Strategie gegen die schlechte Gegenwart?
Unsere Geschichte ist eine Abfolge von schlechten Gegenwarten. Wir müssen sie zerstören, im Sport, in der Kunst, in der intellektuellen Arena.

Und in der politischen Arena? In Ihrer Besprechung des letzten Albums von Jay-Z schrieben Sie, Barack Obama habe als US-Präsident die Grenzen von Afropragmatismus aufgezeigt. Was heisst das?
Was ich am meisten an Obama bewundert habe, war sein Auftreten, sein «Black Cool». Allerdings gehört dazu auch die Fähigkeit, sich totzustellen, sich nicht reinziehen zu lassen in Konflikte, die Haltung oder Leidenschaft verlangen. In seiner ersten Amtszeit wollte Obama Kompromisse schliessen mit Leuten, die später verantwortlich waren für den Typen, den ich «Mein Trumpf» nenne – wie viele andere möchte ich seinen Namen nicht öffentlich aussprechen. Obama hatte Erfolg bei weissen Wählern, weil sie ihn nicht bedrohlich fanden. Dabei gibt es das im amerikanischen Kontext eigentlich gar nicht: einen nicht bedrohlichen «Black Man». Dennoch stiegen in den ersten drei Monaten seiner Präsidentschaft die Mitgliederzahlen weisser Hate Groups um 500 Prozent. Obama ist wahrscheinlich für mehr weisse Wut und Waffenkäufe verantwortlich als jeder andere Präsident. In die Geschichte wird er als Politiker des Pragmatismus eingehen: Er ist nie in Schlachten gezogen, die er nicht gewinnen konnte. Obama repräsentiert den Afropessimismus, die Negation der Idee, dass es je einen befreiten, emanzipatorischen Raum für Schwarze in Amerika geben wird.

In Ihrem Referat haben Sie zwei Videos des Musikers Thundercat gezeigt. In beiden ist der Protagonist ein grosser, kräftiger schwarzer Mann ohne Arme. Mein erster Gedanke war: Er ist «disarmed», also entwaffnet.
Diese Videos vereinen zwei widersprüchliche Facetten eines schwarzen Mannes. Einer ist der Superheld, der Samurai, und im selben Video wird er entlarvt als verwundet und verletzlich, ja «disarmed». Und es ist eine Frau, die den Helden entwaffnet, der vorher anscheinend ein versierter Musiker war. Das erinnert mich an drei wundervolle Musikerinnen: Cassandra Wilson, Meshell Ndegeocello und Tamar-kali. Alle haben mir dieselbe Geschichte erzählt: Sie sind durch ihre Väter zur Musik gekommen, die alle drei das Leben eines fahrenden Musikers aufgegeben haben, um ihre Familie zu ernähren. Wie im Thundercat-Video: der Exmusiker als Familienmensch, «disarmed by domesticity», entwaffnet durch Häuslichkeit.

Kritiker, Musiker, Aktivist

Der New Yorker Greg Tate ist seit gut drei Jahrzehnten einer der wichtigsten Chronisten und Kritiker der zeitgenössischen Popkultur, und zwar nicht nur der Black Culture. 1985 gründete er mit Vernon Reid von der Band Living Colour die Black Rock Coalition. 1999 war er Mitinitiator der Big Band Burnt Sugar, die auf den Spuren des Sun Ra Arkestra unterwegs ist.

Tate schrieb viel beachtete Bücher wie «Flyboy in the Buttermilk» (1992) oder «Midnight Lightning. Jimi Hendrix and the Black Experience» (2003). Nächstes Jahr soll sein neues Buch erscheinen: «James Brown’s Body and the Revolution of the Mind».