Von oben herab: Total geil

Nr. 50 –

Stefan Gärtner war nicht an der «Extasia»

Wie lang ist das nun wieder her, dass ich mit dem «Titanic»-Fotografen Tom Hintner in Frankfurt auf der Erotikmesse war. Akkreditieren war nicht, also entrichteten wir einen bedenklich steilen Eintritt und liessen uns treiben. Die beiden eindrücklichsten Erinnerungen gehen so: Ein kleinbürgerliches Ehepaar in den besten Jahren vor einer Wand mit Hardcore-DVDs; eine Hantelbank ohne Hanteln, dafür mit einem Loch im Polster, aus dem ein Plastikpenis hochgefahren kommt. Wir sind dann wieder gegangen, und ein Artikel hat sich nicht ergeben, weil der vermutlich bloss so geklungen hätte wie der, den eine «Watson»-Kollegin von der Basler «Extasia» mitgebracht hat: «Ein paar Stände(r) weiter lässt sich die Luzerner Nacktkünstlerin Milo Moiré vom ‹Blick› ein heisses Halsband umlegen. Ich geh dann mal zu den Sextoys. An einem kleinen Stand sehen die Vibratoren aus, als hätten die Geschirrdesigner von Alessi den besten Tag ihres Lebens gehabt.» Usw.

Bzw. ist das halt die Sache mit Sex und Porno: Auf der phänomenologischen Ebene ist das «durch» (Guido Knopp in ähnlichem Zusammenhang), auserzählt, für keinen Skandal mehr gut, was zu der älteren Beobachtung zurückführt, bei Porno gehe es nicht um wilde, transgressive Lust, sondern um Hygiene. Porno (unter Erwachsenen) ist unter säkularen Umständen keine moralische Angelegenheit mehr, sondern eine politische: In einer Welt, in der man den eigenen Körper permanent zur Verfügung halten muss, möchte man über die Körper der anderen verfügen können und mag es kathartisch sein zu sehen, wie (gewaltsam, maschinell) über andere Körper verfügt wird. Die zumal weibliche Freiheit, mit dem eigenen Leib nach Gusto zu verfahren und auf Sexmessen so selbstverständlich Vibratoren zu kaufen wie andernorts Margarine oder eine Hose, ist die Kehrseite einer Unfreiheit, die als phallische ins Sinnbild findet: dass es ausser Ficken und Geficktwerden nichts gibt.

Anrüchig ist Porno nur mehr dann, wenn es scheinheilig wird. «SVP-Politiker flüchtet an Sex-Messe vor Kamera. – Der SVP-Kantonalvorstand (…) rannte an der Sexmesse Extasia vor einer Kamera davon. Im ‹Blick› erklärt er, warum.» Weil er weder dem bekannt sexkritischen «Blick» noch dem «Izzymag» (dem die Kamera gehörte) erklären wollte, warum auch SVP-Politiker auf Sexmessen gehen; als wäre gerade das eine Sensation und nicht, siehe oben, bloss plausibel. «Keine Frau wurde gezwungen, etwas zu zeigen, was sie nicht zeigen will», teilte der Kantonalvorstand dem «Blick» denn auch mit, wie ja sowieso niemand irgendwo zu irgendwas gezwungen wird und eine Sexmesse gleichsam die natürliche Heimat aller vorstellt, die das, was ist, für geil halten.

Jede Moral, die unterstellt, die Sexualisierung sei nicht längst universal, landet wie von selbst in der Heuchelei. Wenn das «Izzymag», das progressiv tut, aber aus demselben Hause Ringier stammt wie der «Blick», eine Messereporterin mit einer Handy-App losschickt, mittels deren Männer an einer virtuellen Vulva zeigen können, ob sie «Frauen befriedigen können» – die einen können, die anderen nicht, Überraschung –, ist das umgekehrt Ausdruck jener Indifferenz, die Pornografie und das, was sie zum Alltag (oder Terror) macht, bereits affirmiert, indem sie keinen Begriff von Kulturindustrie mehr hat: «Für mehr Videos wie dieses geh auf Facebook und like …»

Solche Zusammenhänge nennen wir dann totale.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.