Ein Jahr Trump: Flucht in die Realitätsverweigerung

Nr. 3 –

Die Welt scheint sich weitgehend einig: Das Weisse Haus ist unter dem neuen US-Präsidenten zum Tollhaus geworden. Aber die selbstgefällige Medienhysterie ist fatal. Denn daneben schreitet der rechte Umbau der USA rasant voran.

Das US-Internetmagazin «Salon» versuchte im Juni 2017 ein Experiment: 24 Stunden lang sollte weder der Name Donald Trump noch ein Foto des US-Präsidenten auf der Website veröffentlicht werden. «Wir sind ihn satt», erklärte die Chefredaktion und definierte das Ziel des Trump-freien Tages: «Wir werden versuchen, uns auf politische Sachverhalte zu konzentrieren und darauf, wie die Leben unserer Leser davon betroffen sind.»

Die Aktion liess sich auf unterschiedliche Weise interpretieren – als origineller Ansatz, die Trump-Hyperventilation zu durchbrechen; als oberflächliches Alibi, um anschliessend wieder in Clickbait-Routine verfallen zu können; oder schlicht als PR-Gag. In jedem Fall offenbarte sie eine starre Medienmechanik: Im Alltag, so gestand es «Salon» ja selbst, gewinnen Personenkult und Skandalisierung gegen Themen, von denen US-AmerikanerInnen tatsächlich betroffen sind. «Die amerikanischen Medien sind in einer endlosen Rückkopplungsschleife gefangen», konstatierte das Magazin.

Antrieb dieser endlosen Rückkopplungsschleife ist der Umstand, dass die Regierung Trumps selbst so viel Stoff direkt liefert, dass sich Zeitungen, Websites, Radioprogramme und Fernsehsendungen quasi von alleine füllen. Theoretische Aufgaben des Journalismus – Filtern, Einordnen, Abstrahieren, Analysieren – scheinen gar nicht nötig, allein Trumps Twitter-Account liefert ja jeden Tag die befriedigende Dosis Drama.

Beispiele für diese Dynamik finden sich zur Genüge: In welcher Ausführlichkeit wurde über Trumps Geisteszustand gerätselt, als könnte eine psychiatrische Ferndiagnose den Präsidenten auch nur ansatzweise aufhalten. Wie viele Hitler-Vergleiche wurden gezogen, so oberflächlich und keulenartig, dass bald niemand mehr geschockt war. «Impeachment! Impeachment!», hiess es bei jeder Gelegenheit, als liesse sich ein Amtsenthebungsverfahren herbeischreien. Neue Skandale aus dem Weissen Haus werden laufend enthüllt und als finale Beweise für den Wahnsinn präsentiert, als wäre dieser nicht schon längst offensichtlich. Exemplarisch dafür ist auch der neue Bestseller «Fire and Fury», in dem der Klatschkolumnist Michael Wolff den US-Präsidenten als narzisstischen Trottel beschreibt. Wem das vorher noch nicht klar war, den wird auch dieses Buch nicht erreichen.

Die Frage ist, ob der Regierung eine Berichterstattung dieser Sorte schadet – oder ob sie ihr vielleicht sogar behilflich ist. «Mir ist es recht, wenn Trump all den Beschuss abbekommt. So kann ich meine Arbeit erledigen», sagte US-Wohnungsbauminister Ben Carson in einem Interview im Sommer.

Tatsächlich ist es dem Trump-Apparat im vergangenen Jahr gelungen, «Arbeit zu erledigen», Chaos und Ruf zum Trotz. So verwirrt Trump oft erscheint, so beständig treibt er bestimmte Ideologien voran: Rassismus, Sexismus und Nationalismus. Etliche neue Gesetze wurden erlassen und über fünfzig Executive Orders (Verfügungen des Präsidenten) unterschrieben. Fast alle Ministerien haben Sparvorgaben von bis zu dreissig Prozent ihres Budgets erhalten, deren Umsetzung längst spürbar ist – in Form gekürzter Sozialprogramme und entlassener BeamtInnen. Parallel wurde eine billionenschwere Steuerreform zugunsten von Reichen und Unternehmen durchgesetzt.

Erzkonservative RichterInnen

Ihre nachhaltigsten Erfolge, da sind sich viele ExpertInnen einig, verbuchte die Regierung auf Justizebene. Bisher hat der US-Senat 23 BundesrichterInnen bestätigt, die Trump vorgeschlagen hatte. 43 weitere Nominierte warten noch auf grünes Licht. Darüber hinaus sind über 160 RichterInnenstellen im ganzen Land unbesetzt, für die der Präsident in den kommenden drei Jahren KandidatInnen finden darf. Mediale Aufmerksamkeit bekam zumindest die Personalie Neil Gorsuch: Der Jurist wurde im April 2017 als neuntes Mitglied des Obersten Gerichtshofs vereidigt. Gorsuch selbst bezeichnet sich als «Originalist», was bedeutet, dass er die 230 Jahre alte Verfassung wortgenau auslegt und sie nicht auf zeitgenössische Weise interpretiert. Für viele andere ist er ein rechter Hardliner mit zu viel Einfluss.

«Trumps neues Team von Richtern wird die amerikanische Gesellschaft radikal verändern», schrieb die ehemalige US-Bundesrichterin Shira A. Scheindlin vor einigen Wochen im britischen «Guardian». Die installierten RichterInnen – hauptsächlich weiss, männlich, erzkonservativ – fällen nun Urteile zu Themen wie Abtreibung, Waffenbesitz, LGBTQ-Rechte und Immigration. Und zwar auf Lebenszeit. Wie entscheidend die politische Orientierung der BundesrichterInnen sein kann, zeigten zuletzt Urteile, die das von Trump angeordnete Verbot für Transmenschen im US-Militär kassierten. Solche juristischen Schlappen will der Präsident mit seiner Personalpolitik künftig verhindern.

Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen wirken sich Trumps Dekrete und die von den Republikanern durchgeboxten Gesetze bereits aus. Seit dem Frühjahr 2017 dürfen konservativ regierte Bundesstaaten Kliniken, die Abtreibungen anbieten, ihre Fördermittel streichen. Besonders stark betroffen ist die gemeinnützige Organisation Planned Parenthood, die Abtreibungen, medizinische Tests und Verhütungsmittel anbietet. Zahlreiche ihrer Einrichtungen mussten schliessen.

Mehr Macht gibt es dagegen für kommunale Polizeibehörden, die sich wieder mit Panzern, Granatwerfern und Armeegewehren ausstatten dürfen. Obama hatte militärische Aufrüstung dieser Art untersagt. Justizminister Jeff Sessions hat ausserdem ein härteres Vorgehen gegen Drogenkriminelle angeordnet. Schon der Besitz von ein paar Gramm Marihuana kann unter Umständen zu jahrelangen Haftstrafen führen. Auch die Immigrationsbehörde ICE wurde offiziell angewiesen, Gesetze konsequenter und härter durchzusetzen. So hat diese bereits 2017 deutlich mehr Razzien durchgeführt als noch zuvor. Über 10 000 neue ICE-Beamte sollen insgesamt eingestellt werden, um undokumentierte ImmigrantInnen aufzuspüren und die Landesgrenzen zu sichern. Auch Trumps «Muslim Ban» – das Einreiseverbot für Menschen aus mehreren überwiegend muslimischen Ländern – wurde im Dezember vom Supreme Court, wenn auch in etwas abgeschwächter Version, freigegeben.

Für Aufsehen sorgte im Sommer wenigstens Trumps Ankündigung, das Pariser Klimaschutzabkommen aufzukündigen. Ob das nur Muskelspiel war, weiss der Präsident offenbar selbst noch nicht; seine Aussagen sind widersprüchlich. Weniger beachtet wurden hingegen andere Regierungsentscheidungen, die Klima und Umwelt betreffen: In Teilen der Arktis und des Atlantiks soll bald wieder das Fördern von Öl und Gas erlaubt sein. Zudem werden umstrittene Pipelineprojekte wiederbelebt, die Obama blockiert hatte.

Russland ist schuld?

Dass trockene Gesetzestexte, Behördenabbau oder einzelne Personalentscheidungen in der Justiz nicht den öffentlichen Massendiskurs bestimmen, ist weder überraschend noch neu. Das war unter Obama so und wäre es auch unter Hillary Clinton gewesen. Und dennoch fällt auf, wie stur sich viele Medien im ersten Trump-Jahr an schrillen Nebensächlichkeiten, Charaktereigenschaften und Politikinszenierungen abarbeiteten. Die Zahl der Anwesenden bei der Amtseinweihung; Trumps Rechtschreibung; die White-House-Soap um Sean Spicer, Anthony Scaramucci und Stephen Bannon; Trumps Handshakes mit Merkel und Macron. Politik ist nicht erst seit Trump Theater. Doch die aktuelle Regierung spielt in diesem Theater besonders gross auf, ob gewollt oder nicht. Dabei stehen in vielen Debatten die substanziellen Konsequenzen schon mit einem Bein in der Tür – werden dann aber doch ignoriert beziehungsweise umgehend wieder ausgeblendet. Die USA führen Debatten, um andere nicht führen zu müssen.

Das wohl beste Beispiel für eine solche Stellvertreterdebatte ist die «Russlandaffäre», die faktisch schon lange vor Trumps Wahl zum Präsidenten begonnen hat. Seit dem Sommer 2017 untersucht nun der ehemalige FBI-Direktor Robert Mueller in seiner neuen Rolle als Sonderermittler mögliche Verbindungen zwischen Trumps Stab und russischen ExponentInnen. Seine Ergebnisse werden sehnsüchtig erwartet; «Hat Russland die US-Wahl gedreht?», fragte etwa die «Huffington Post» vor ein paar Wochen.

Problematisch ist nicht die Ermittlung an sich: Sie ist absolut notwendig. Problematisch ist hingegen die Rolle, die die «Russlandaffäre» im öffentlichen Diskurs spielt. Gesucht wird nämlich nach einem Beweis, dass nicht die USA an Trump schuld sind, sondern eine externe, böse, fremde Kraft. Die «Russlandverschwörung» ist bequemer als die Frage, warum sechzig Millionen Menschen ein inkompetentes, sexistisches, rassistisches Grossmaul zu ihrem Präsidenten gewählt haben.

Es überrascht kaum, dass die Demokratische Partei die Spekulationen um russische Manipulationen vorantreibt. Sie versucht damit, ihre bittere Wahlniederlage vom November 2016 zu erklären. Und gleichzeitig soll Obamas Amtszeit verteidigt werden. Denn es passt nicht zum Selbstbild der Demokraten, dass ihre neoliberale Politik der vergangenen Jahre für Millionen von US-AmerikanerInnen ganz einfach nicht funktioniert.

Bis gestern war alles okay

So bleibt Trumps Wahl ein Objekt der Verklärung und die «Schuld»-Frage eine Obsession vieler Linker und Liberaler. Dass es ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren war, die Trumps Wahl ermöglicht haben, scheint schwer aushaltbar. «Nicht Russland hat die Wahl entschieden. Facebook war es», schrieb etwa der «Boston Globe» im November. Simple Antworten für eine komplexe Katastrophe.

Tatsächlich wirkt es so, als würden die USA bis heute nicht glauben können – oder wollen –, dass Donald Trump im Weissen Haus sitzt. Entsprechend empfänglich waren seine KritikerInnen auch für ein ganz bestimmtes Detail in «Fire and Fury»: Trump, heisst es dort, habe die Wahl gar nicht gewinnen wollen. Regelrecht «entsetzt» sei er in der Wahlnacht gewesen. Sollte das wahr sein, hat sich Trump nach der Wahlnacht sehr schnell vom Schock erholt: Umgehend wechselte er zurück in seinen bekannten Modus. Anders als ein grosser Teil der Gesellschaft, dem das Entsetzen blieb. Wer kann, rettet sich in die Realitätsverweigerung. Perfekt persifliert dies die Komikerin Megan Amram, indem sie seit Monaten täglich den immerselben Tweet verfasst: «Heute war der Tag, an dem Donald Trump endgültig zum Präsidenten wurde.» Heisst jeden Morgen von neuem: Bis gestern war eigentlich alles okay.