Ein Jahr ohne Recht auf Abtreibung: Gegen den konservativen Wahn

Nr. 25 –

Seit das Leiturteil im Fall «Roe v. Wade» gekippt wurde und mit ihm das landesweite Recht auf Abbruch einer Schwangerschaft, hat sich die Situation für Betroffene in vielen US-Bundesstaaten extrem verschärft. Von der Politik können sie kaum effektive Hilfe erwarten – dafür von unzähligen Aktivist:innen.

«Reproductive Justice for Every Damn Body»: weibliche Geschlechtsorgane nachgebildet aus Blumen, ein für eine Demo vor dem Obersten Gericht geschaffenes Werk
Durch die Blume ausgedrückt: «Reproductive Justice for Every Damn Body» heisst dieses für eine Demo geschaffene Werk vor dem Obersten Gericht. Foto: Kent Nishimura, Getty

In den autoritärsten Momenten zeigt sich manchmal eine seltsame Klarheit. Darüber, wohin rechte Bewegungen in Wahrheit steuern, wo die Grenzen liberaler Politik liegen, wie schwach die Linke unter dem Strich ist. So war es auch im Juni 2022, als der Supreme Court, der oberste Gerichtshof der USA, das landesweite Abtreibungsrecht (siehe WOZ Nr. 19/22) nach fünfzig Jahren kippte. Es war, als hätte jemand das Bild scharf gestellt.

Ein Jahr ist seither vergangen, und die Situation ist verheerend. In vierzehn Bundesstaaten sind Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich verboten, vielerorts selbst in Fällen von Vergewaltigung und Inzest. In anderen Bundesstaaten gibt es massive Restriktionen, die einem kompletten Verbot nahekommen. Etliche Abtreibungskliniken mussten schliessen, progressive Aktivist:innen werden kriminalisiert und Bürger:innen dazu aufgefordert, sich gegenseitig an die Polizei zu verraten. Umfragen bezeugen immer wieder, dass eigentlich eine Mehrheit der US-Amerikaner:innen Abtreibungsrechte befürworten – und gerade deshalb versucht die Rechte, zwecks patriarchaler Kontrolle eine Bürgerwehrkultur zu etablieren.

Wirkung auf Corporate America

In den von der Republikanischen Partei regierten Bundesstaaten bleibt ungewollt Schwangeren oft nichts anderes übrig, als Hunderte Kilometer zu fahren und grosse Summen auszugeben, um abtreiben zu können. Im April stellte Idaho als erster Staat aber sogar den Transport Schwangerer zu einem Abtreibungsort unter Strafe: Konkret geht es im betreffenden Gesetz darum, zu verhindern, dass Minderjährigen ohne Zustimmung ihrer Eltern beim Schwangerschaftsabbruch geholfen wird. Repressive Regelungen dieser Art sind auch anderswo in Vorbereitung. Expert:innen gehen davon aus, dass längst Zigtausende Menschen in eine Elternschaft gezwungen werden – nicht selten trotz gesundheitlicher Risiken. Überproportional betroffen sind arme und nichtweisse Menschen.

«Der Zugang zu Abtreibung war schon vor dem Ende von ‹Roe v. Wade› sehr, sehr schwierig. Jetzt ist es ein echter Albtraum», sagt Gesundheitswissenschaftlerin Hayley McMahon, die in Atlanta im Bundesstaat Georgia lebt und dort an der Emory-Universität zum Thema forscht. Selbst in Bundesstaaten, in denen Abtreibungen legal sind, könne es mehrere Wochen dauern, bis man einen Termin bekomme, weil die Kliniken so überlastet seien. «Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie quälend es für viele Menschen sein muss», so McMahon.

Auch Bildungsarbeit und Aufklärung seien schwieriger geworden, erklärt die 28-Jährige. Das musste sie auch selbst schon erfahren: Im vergangenen November sperrte Twitter ihren Account für mehrere Tage, nachdem sie Informationen der Weltgesundheitsorganisation WHO zu medikamentösen Abtreibungen geteilt hatte. Angesichts der Gesamtlage mag das ein läppischer Vorfall sein. Er macht aber deutlich, dass längst nicht nur republikanische Abgeordnete, erzkonservative Richterinnen oder evangelikale Pastoren das repressive Klima erzeugen und aufrechterhalten. Die christliche Rechte wirkt mit ihrem Weltbild zuweilen in Corporate America hinein, in die Welt der grossen US-Firmen.

Mobile Kliniken

Wenn es in dieser dystopischen Lage Hoffnung gibt, dann entspringt sie progressiver Selbstorganisierung. Zahlreiche Graswurzelgruppen machen in den «red states», also in den republikanisch regierten Bundesstaaten, trotz aller Verbote weiter. Sie unterstützen Abtreibungswillige finanziell, logistisch und emotional. Mehr und mehr geschieht ihre Arbeit jedoch im Verborgenen. Ebenfalls existenziell ist der Aktivismus in den demokratisch dominierten «blue states». Die Organisation Just The Pill beispielsweise ist entlang der US-Binnengrenzen mit mobilen Abtreibungskliniken präsent und macht Medikamente zugänglich. Der Online Abortion Resource Squad wiederum hat auf der Onlineplattform Reddit eine Anlaufstelle für Hilfesuchende eingerichtet. Wissenschaftlerinnen, medizinische Fachleute und Anwälte beantworten dort rund um die Uhr Fragen, die oft auch deshalb aufkommen, weil es so viele legale Grauzonen und hängige Gerichtsverfahren gibt.

Allein der hohe Grad an Unsicherheit in der Bevölkerung ist ein Erfolg für die Rechten. Ohne die aktivistischen Infrastrukturen wären in den USA unzählige Menschen in schwierigsten Lebenslagen auf sich allein gestellt.

Dass medizinische Institutionen in vielen Regionen der USA keine Hilfe mehr anbieten, hat den grundsätzlichen Effekt, dass selbstdurchgeführte Abtreibungen häufiger werden. Gemäss ersten Studien ist die Nachfrage nach den zwei entscheidenden Medikamenten Mifepriston und Misoprostol, die für einen Schwangerschaftsabbruch zusammen eingenommen werden, seit Juni 2022 deutlich gestiegen. Auch Forscherin McMahon beobachtet, dass immer mehr Menschen von den Möglichkeiten und der gewachsenen Sicherheit medikamentöser Schwangerschaftsabbrüche zu Hause wissen und diese Methode anwenden. Bei mehr als der Hälfte aller Abtreibungen in den USA kommen Mifepriston und Misoprostol mittlerweile zum Einsatz. Wo es legal ist, können die Pillen in Apotheken bezogen werden. Verschickt werden sie aber auch durch internationale Organisationen wie Aid Access und Las Libres sowie regionale Gruppen wie Red State Access. Laut «New York Times» ist dieser Markt im vergangenen Jahr erheblich gewachsen.

Das Versagen der Partei

Weniger bekannt, aber umso bemerkenswerter ist, dass eigenständig durchgeführte Abtreibungen bislang in nur ganz wenigen Bundesstaaten explizit verboten sind. Die aktuell gültigen Restriktionen, die in vielen Bundesstaaten auf uralten Gesetzen aus der Ära vor «Roe v. Wade» beruhen, richten sich nämlich in der Regel an Kliniken und Ärzt:innen.

Doch auch in diesem Bereich arbeitet die Rechte an Verschärfungen. Von grosser Bedeutung ist diesbezüglich ein laufendes Verfahren in Texas, wo ein von Expräsident Donald Trump ernannter Richter im Frühjahr die Zulassung von Mifepriston ausgesetzt hat. Das demokratisch geführte Justizministerium ging gegen dieses Urteil vor, weshalb der Fall schliesslich beim Supreme Court landete. Etwas überraschend entschied das Oberste Gericht im April zugunsten von Joe Bidens Regierung. Das bedeutet: Abtreibungspillen müssen zugänglich sein, solange der besagte Rechtsstreit anhält. Fast alles läuft hier auf eine weitere Grundsatzentscheidung des Supreme Court hinaus. Im schlechtesten Fall ist Mifepriston danach nicht mehr zugänglich.

Demokratische Politiker:innen gehen zwar punktuell gegen die Abtreibungsverbote vor. So unterschrieb etwa der Gouverneur von Connecticut bereits im Mai 2022 ein Gesetz, das Abtreibungsärzt:innen explizit erlaubt, Schwangere aus anderen Bundesstaaten zu behandeln. Unter dem Strich hat die Partei in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten aber so oft versagt, wenn es darum ging, das Abtreibungsrecht parlamentarisch in Gesetzesform zu bringen, dass sich viele progressive Aktivist:innen inzwischen von ihr abgewendet haben. «Um ehrlich zu sein, erwarte ich nicht viel vom Kongress oder vom Weissen Haus», sagt auch Wissenschaftlerin McMahon. «Die Demokrat:innen haben ihre Spendenmails verschickt und während des Wahlkampfs viel darüber geredet – nichts davon führt jedoch dazu, dass Leute an Abtreibungen kommen.»

Nochmals bestätigt hat sich in diesem ersten Jahr nach «Roe v. Wade» also, dass die Bewegung für Abtreibungsrechte weder von der Demokratischen Partei noch von NGOs wie Planned Parenthood angeführt wird. Es sind allermeist linke «Abtreibungsfonds», die in konservativ regierten Bundesstaaten wie Alabama, Missouri oder Mississippi Schwangere bei Abtreibungen unterstützen. Es sind oftmals nichtweisse Aktivistinnen, Akademiker und Politikerinnen, die sich für wirklich transformative Gesetzesänderungen einsetzen. Und es sind vor allem unbezahlte Aktivist:innen, die das grösste Risiko eingehen.

Um dem erzkonservativen Powerplay etwas entgegensetzen zu können, müsse der Kampf für reproduktive Gerechtigkeit auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig geführt werden, sagt Hayley McMahon. Also in Form von praktischer Unterstützung vor Ort, richterlichen Interventionen, politischem Druck und mit Informationskampagnen für die betroffenen Menschen. Und genau darin sieht McMahon aktuell auch die grösste Stärke dieser Bewegung: in ihrer Vielschichtigkeit.