Gentrifizierung: Verschobene Kräfteverhältnisse

Nr. 7 –

Ein Bezirk im Norden Londons ist zum Schauplatz einer Auseinandersetzung zwischen der Labour-Regierung und lokalen AktivistInnen geworden. Eine Geschichte über Basisdemokratie, Stadtaufwertung und erfolgreiche Kampagnen.

Gegen die «soziale Säuberung» des Quartiers: Demonstration im Gemeindebezirk Haringey im Norden von London. Foto: Mark Kerrison, Alamy

Die zwei jungen Männer reagieren überraschend gereizt, als sie um ein kurzes Gespräch gebeten werden: «Siehst du denn nicht, dass wir gerade miteinander reden?» Sie sind nicht die Einzigen an diesem Abend, die JournalistInnen gegenüber misstrauisch sind. Für die konservative Presse sind die rund 200 Protestierenden, die sich bei der U-Bahn-Station Turnpike Lane versammelt haben, nichts als hasserfüllte «linke Spinner». Solche Verunglimpfungen haben ihnen offensichtlich die Lust auf Interviews verdorben. Schliesslich geht es den AktivistInnen schlichtweg darum, die fortschreitende Gentrifizierung ihres Quartiers zu stoppen.

Der Gemeindebezirk Haringey im Norden Londons ist derzeit Schauplatz einer Auseinandersetzung zwischen der von Labour geführten Lokalregierung und einer Basisbewegung. Der Streit dreht sich um ein grosses Aufwertungsprojekt, das die Regierung gegen den Widerstand vieler AnwohnerInnen vorantreiben will. Die Art und Weise, wie sich der Zwist in den vergangenen Monaten entwickelt hat, spiegelt nicht nur die Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Kampf für eine gerechtere Wohnungspolitik wider. Sie zeigt auch, wie der linke Flügel der Labour-Partei mit Basisbewegungen zusammenspannt und so seinen Einfluss geltend machen kann.

Gesamtwert: Zwei Milliarden Pfund

Das Projekt heisst «Haringey Development Vehicle» (HDV) und ist im Kern eine umfassende Privatisierung: Zusammen mit dem Bauunternehmen Lendlease plant die Lokalbehörde, Wohnsiedlungen, öffentliche Plätze und Schulen zu bauen oder zu renovieren. Insgesamt sollen 6400 Wohnungen entstehen, der Gesamtwert des fertigen Projekts wird auf zwei Milliarden Pfund geschätzt. Es wäre der bislang grösste Verkauf von kommunalem Grundbesitz in Britannien. Der Bezirksrat sagt, die Zusammenarbeit mit Lendlease sei nötig, weil er das Geld für das Aufwertungsprojekt nicht selbst zusammenbringen könne: Seit 2010 ist der Zuschuss, den Haringey von der Zentralregierung erhält, um vierzig Prozent geschrumpft; heute hat die Behörde jährlich 160 Millionen Pfund weniger zur Verfügung als vor acht Jahren.

Die AktivistInnen befürchten, dass das HDV denselben Effekt haben wird wie zahllose andere Aufwertungsprojekte in London: Leute mit tiefen Einkommen werden sich die neuen Wohnungen nicht leisten können und müssen aus ihrem Quartier wegziehen (siehe WOZ Nr. 35/15). Immer wieder hielten sie Protestzüge ab. Mit dabei sind mehrere Gewerkschaftsgruppen, Mitglieder der Grünen Partei und der LiberaldemokratInnen – kaum der Haufen BolschewikInnen, von dem man in der Presse liest.

James Chiriyankandath, ein 58-jähriger Anwohner und Unidozent, machte von Beginn weg bei der Basiskampagne gegen das HDV mit: «Lendlease wird in dieser Partnerschaft den Ton angeben. Wie in jedem anderen Projekt dieser Art wird die Verpflichtung, billigen Wohnraum zu errichten, aufgeweicht werden.» Auch die Tatsache, dass die Lokalbehörde die AnwohnerInnen kaum konsultiert hat, stösst ihnen sauer auf. Selbst das Aufsichtsgremium des Bezirksrats forderte einen Stopp der Pläne.

Doch die Ratsvorsitzende Claire Kober, die am rechten Rand der Labour-Partei politisiert, setzte sich über alle Einsprüche hinweg und versuchte im Lauf des vergangenen Jahres, das Projekt durchzudrücken. Ihr Dogmatismus stärkte die Entschlossenheit der Anti-HDV-Kampagne, der Widerstand wurde breiter – auch innerhalb der lokalen Labour-Partei. Der Bezirksrat wird von Labour dominiert: Die Partei stellt derzeit 49 der insgesamt 57 Abgeordneten, und die meisten von ihnen unterstützen die Pläne. Als jedoch die Parteimitglieder vor drei Monaten die neuen KandidatInnen für die Lokalwahl im Mai auswählten, nominierten sie mit überwältigender Mehrheit PolitikerInnen, die das HDV-Projekt kippen wollen. Die meisten der neuen KandidatInnen geniessen auch die Unterstützung der Basisgruppe Momentum, deren Ziel darin besteht, die Labour-Partei auf Jeremy Corbyns linkem Kurs zu halten, und die sich ebenfalls an den Protesten beteiligte.

Umdenken beim Bürgermeister

Schliesslich schaltete sich in einem ungewöhnlichen Schritt auch das 39-köpfige Führungsgremium von Labour ein, in dem die Parteilinke seit Januar die Mehrheit stellt: Die Mitglieder baten die BezirksvertreterInnen von Haringey, das HDV zu begraben. Corbyn hatte bereits im September gefordert, dass Bezirksräte die Lokalbevölkerung über Aufwertungsprojekte abstimmen lassen sollten – ein Vorschlag, der vom Bezirksrat von Haringey zurückgewiesen wurde mit dem Argument, dies stelle eine «Vereinfachung einer komplexen Angelegenheit» dar. Mittlerweile ist der Bezirksrat so weit in die Defensive gedrängt worden, dass er den endgültigen Entscheid über das HDV auf die Zeit nach den Kommunalwahlen verschoben hat – womit das Projekt vom Tisch sein dürfte.

Die erfolgreiche Kampagne hat selbst den Londoner Bürgermeister Sadiq Khan – einst ein scharfer Kritiker Corbyns – zum Umdenken bewogen. Anfang Februar übernahm er den Vorschlag des Parteichefs: Er kündigte an, dass jedes Wohnungsprojekt, das von der Stadtbehörde unterstützt wird, zuerst durch eine Volksbefragung abgesegnet werden müsse.