Grossbritanniens Linke: Wie eine Fahne im Wind
Die Labour-Partei hat sich von der Bewegungspolitik verabschiedet. Ein Jahr nach Keir Starmers Antritt als Vorsitzender dümpelt die Partei vor sich hin. Eine fatale Entwicklung angesichts des zunehmenden Autoritarismus in Grossbritannien.
Von hundert auf null in zwölf Monaten. Von 2015 bis 2020, unter dem Vorsitz von Jeremy Corbyn, war Labour eine Partei, die einen grossen ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel versprach, von der Verstaatlichung etlicher Industrien bis zum Gratisinternet für alle. Heute hingegen kann sich die Labour-Führung kaum dazu durchringen, eine Steuererhöhung für grosse Konzerne – ein Vorschlag der Tories – zu unterstützen.
Als der heutige Parteichef Keir Starmer vor einem Jahr für den Vorsitz kandidierte, versprach er die Weiterführung der Corbyn-Ära. Er werde die «radikalen Werte» Labours beibehalten, sagte er, und die Partei zusammenbringen. Die Basis, die unter dem Vorsitz Corbyns auf rund eine halbe Million Mitglieder angewachsen war, konnte er damit offensichtlich überzeugen: Sein Sieg über die zwei Herausforderinnen, darunter Rebecca Long-Bailey vom linken Flügel, war überwältigend.
Gaya Sriskanthan stimmte damals nicht für Starmer, aber sie war aufgeschlossen: «Er sagte viele Dinge, die uns gefielen, und er machte Zugeständnisse an die Linke. Wir waren offen für eine Zusammenarbeit mit ihm.» Sriskanthan, 43 Jahre alt und im Solarenergiesektor tätig, war 2016 Labour beigetreten. «Meine Geschichte ist recht typisch: Ich sah in Corbyn einen prinzipienfesten Politiker, der in seiner Karriere stets auf der richtigen Seite stand und mit dem ich mich identifizieren konnte.» Sie wurde bald aktiv und schloss sich der Organisation Momentum an, die sich als Basiskampagne für das Corbyn-Projekt verstand. Auch nach der schweren Wahlniederlage Labours im Dezember 2019 gab sie nicht auf: Seit Mai 2020 ist Sriskanthan Kovorsitzende des Führungsgremiums von Momentum.
Am liebsten im Fernsehstudio
Ihre anfängliche Zuversicht, dass Starmer auf den vorangehenden vier Jahren aufbauen werde, verpuffte bald. «Innerhalb von wenigen Monaten sahen wir eine komplette Kehrtwende», sagt Sriskanthan. Linke Mitglieder des Schattenkabinetts wurden geschasst, und im Oktober suspendierte Starmer seinen Vorgänger von der Partei – der Grund war Corbyns laue Reaktion auf den Bericht der Gleichheits- und Menschenrechtskommission über Antisemitismus in der Labour-Partei. Die Kommission hatte die Partei scharf kritisiert, weil sie antisemitische Vorfälle nicht mit der nötigen Sorgfalt und Dringlichkeit behandelt hatte.
«Das war schon sehr aussergewöhnlich», sagt Sriskanthan. «Es kommt nicht oft vor, dass eine Partei den abgetretenen Vorsitzenden nach einem halben Jahr rausschmeisst.» Und es kam noch dicker für die linken Mitglieder: Die Parteiführung verfügte, dass die lokalen Labour-Verbände die Suspendierung nicht debattieren dürften. Manche taten es trotzdem – und wurden ebenfalls aus der Partei geworfen. «Die Atmosphäre innerhalb Labours ist derzeit vergiftet», sagt Sriskanthan. Ein Teil der Arbeit Momentums bestehe darin, suspendierten Mitgliedern zu helfen, ihre Parteimitgliedschaft wiederzuerlangen. «In vielen Fällen waren sie erfolgreich, denn oft scheint der Rausschmiss auf rechtlich dubioser Grundlage erfolgt zu sein.»
Mit der Kaltstellung des linken Flügels verliert Labour auch den Kontakt zu den sozialen Bewegungen. Die Partei beschränkt sich zunehmend auf das Politisieren in Westminster. Hatte sein Vorgänger stets den Brückenschlag zu den sozialen und ArbeiterInnenbewegungen gesucht, fühlt sich Starmer viel wohler im herkömmlichen Politbetrieb: beim Schlagabtausch im Unterhaus oder im Fernsehstudio der BBC. Im vergangenen Sommer ging er auf Distanz zu den Black-Lives-Matter-Demos, und als die LehrerInnengewerkschaft im Februar mit einem Streik drohte, weil sie die frühzeitige Rückkehr ins Klassenzimmer für gefährlich hielt, meinte Starmer: «Ein Streik wäre falsch.» Die unter Corbyn gegründete Community Organising Unit, mit der die Partei versuchte, Labour fester in der Gesellschaft zu verankern, ist aufgelöst worden.
Das wäre alles weniger schlimm, wenn Labour wenigstens bei den WählerInnen auf wachsende Zustimmung stossen würde. Aber genau das ist der Haken: Die Umfragewerte der Partei sind mies. Trotz der unzähligen Fehltritte der Regierung in der Pandemiebekämpfung und der erschreckenden Zahl an Todesopfern schaffte es die Opposition im vergangenen Jahr gerade einmal, mit den Tories etwa gleichzuziehen. Der Beginn des erfolgreichen Impfprogramms hat die Popularität der Regierung jedoch in die Höhe getrieben, und die Opposition ist weit zurückgefallen. Laut einer jüngeren Erhebung beträgt der Vorsprung der Regierungspartei rund zehn Prozentpunkte.
Jeremy Corbyns Erfolg
«Die Probleme begannen im September», sagt James Meadway. Als Berater von Schattenfinanzminister John McDonnell von 2015 bis 2019 war der 41-jährige Ökonom eine prägende Figur der «Corbynomics», also der wirtschaftspolitischen Strategie des linken Labour-Flügels. «Starmer setzte darauf, dass die Coronakrise ein kurzer, scharfer Schock bleiben würde.» Das mag anfangs eine verständliche Annahme gewesen sein, aber mittlerweile ist klar, dass die Pandemie nicht so schnell verschwinden wird. «Labour hat sich noch nicht mit dieser Tatsache abgefunden», sagt Meadway. «Die Tories hingegen schon: Sie haben eine politische Gelegenheit erblickt und sich vom früheren Fokus auf Sparmassnahmen abgewandt. Sie sprechen von grossen Investitionen im englischen Norden, von einer grünen industriellen Revolution.»
Paradoxerweise zeigt sich in diesen Forderungen der eigentliche Erfolg von Corbyn: Er konnte den ökonomischen Konsens nach links verschieben. «Es gibt derzeit eine breite Akzeptanz für die Idee, dass der Staat mehr in die Wirtschaft eingreifen soll», sagt Meadway. Anfang März kündigte Finanzminister Rishi Sunak einen Anstieg der Körperschaftssteuer von 19 auf 25 Prozent an, um einen Teil der staatlichen Ausgaben zu finanzieren. Starmer sagte zunächst, dass «jetzt nicht die Zeit ist», Steuern zu erhöhen. Erst nach starkem Druck aus der eigenen Partei sprach er sich für einen sukzessiven Anstieg aus, um sich nicht von den Tories links überholen zu lassen.
Wie viel Geld die Regierung tatsächlich ausgeben wird – und für was –, ist eine andere Frage. Aber wenn Starmer noch immer so tut, als sei es Labours wichtigste Aufgabe, das Austeritätsprogramm der Tories zu bekämpfen, so redet er laut Meadway am eigentlichen Thema vorbei. Stattdessen sollte die Opposition ihren Fokus vielmehr auf die zunehmend repressive Politik der Regierung verschieben. «Die wirkliche Gefahr geht von einem wachsenden staatlichen Autoritarismus aus. Das war schon vor der Coronakrise offensichtlich, seither hat diese Tendenz zugenommen.»
Das zeigt sich zum Beispiel in neuen Gesetzen, die Undercover-AgentInnen sowie britische SoldatInnen im Auslandeinsatz vor der strafrechtlichen Verfolgung schützen sollen. Oder in der Behandlung von Geflüchteten, die zu Hunderten in ehemaligen Kasernen eingesperrt werden – unter Bedingungen, die Amnesty International als «völlig unzumutbar» bezeichnet. Oder auch in der Weisung des Bildungsministeriums im Herbst, dass in den Schulen kein «antikapitalistisches Material» gelehrt werden dürfe, weil dies eine «extreme politische Haltung» zum Ausdruck bringe.
Zu diesen Themen hat die Labour-Führung kaum etwas zu sagen, der Widerstand gegen die Gesetzesvorlagen war minimal. Meadway sagt: «Dieser wachsende Autoritarismus ist derzeit die dringendste politische Frage – und Labour muss dem etwas entgegensetzen. Wir müssen unsere Opposition auf der Verteidigung der Bürgerfreiheiten und der Demokratie aufbauen – dem Recht zu protestieren, zu widersprechen, frei zu reden. Das muss unser politischer Schwerpunkt sein.»
Das wirft die Frage auf, welche Möglichkeiten die Parteilinke überhaupt noch hat, die Führung zu beeinflussen. Sriskanthan und ihre MitstreiterInnen setzen auf die Strategie der Corbyn-Jahre: Einbindung der Basis. Einerseits geschieht das innerhalb der Parteistrukturen: «Wir kämpfen auf jeder Ebene für die Repräsentation sozialistischer Ideen», sagt Sriskanthan. Verglichen mit 2015, als Corbyn antrat, ist die Linke da in einer weit besseren Position: In den lokalen Parteiverbänden ist sie zahlreich vertreten und kann bei der Auswahl von KandidatInnen für Gemeinderäte oder landesweite Wahlen mitreden. Laut Sriskanthan umfasst Momentum noch immer mehrere Zehntausend Mitglieder; ein Grossteil der fast 500 000 ParteigängerInnen steht links der Mitte.
Ideen besser verankern
Ein zweiter Schwerpunkt ist die Zusammenarbeit mit bestehenden Kampagnen und Organisationen ausserhalb Labours – Gewerkschaften, Antirassismus- und Bürgerrechtsgruppen. «In der Pandemie haben wir zum Beispiel den Kampf von Mieterverbänden unterstützt, die gegen Zwangsräumungen protestiert haben», sagt Sriskanthan. «Wir wollen uns in allen Bereichen engagieren, in denen Lohnabhängige für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen kämpfen.» Zudem legt Momentum Wert auf politische Bildung. Das war eine der Schwächen der vergangenen Jahre: «Wir waren richtig gut darin, Leute für Wahlen und Demos zu mobilisieren. Aber die Ideen der Parteiführung waren nicht so gut verankert in den Köpfen der Mitglieder, dass sie selbst dafür kämpfen – auch ohne Führungsperson. Ich denke an Ideen wie die demokratische Eigentümerschaft von Betrieben, die Viertagewoche oder an Strategien des Antirassismus.»
Besonderes Augenmerk gilt derzeit dem Polizeigesetz, das die Regierung durchs Parlament paukt. Es ist der jüngste Schritt auf dem autoritären Weg: Das Innenministerium will der Polizei mehr Befugnisse geben, friedliche Proteste zu unterbinden – zum Beispiel, wenn sie zu laut sind. In einem offenen Brief haben über hundert Bürgerrechtsorganisationen gewarnt, dass die Vorlage einen «Angriff auf unsere grundlegenden Rechte als Bürger» darstelle. «Viele Leute sind sich nicht bewusst, was für schwere Konsequenzen dieses Gesetz haben wird», sagt Sriskanthan.
Die Proteste gegen die Vorlage haben bereits Wirkung gezeigt. Erst wollte sich die Labour-Fraktion in der entsprechenden Unterhausabstimmung enthalten. Aber nach der öffentlichen Empörung über das brutale Vorgehen der Polizei gegen eine Mahnwache nach einem Femizid in London kündigte Starmer an, Labour werde dagegen stimmen. Aufgrund der grossen Tory-Mehrheit wird Labour das Gesetz zwar nicht allein stoppen können – aber die Kehrtwende Starmers ist ein wichtiges Signal. «Die Labour-Führung änderte ihre Position, weil die öffentliche Meinung sie dazu gezwungen hat», sagt James Meadway. Das werde ein wichtiger Teil der linken Strategie sein: «Starmer ist wie eine Wetterfahne – wenn die öffentliche Meinung in eine bestimmte Richtung weht, wird sich Labour anpassen müssen.»