Verdruss über Labour: Eine neue Linke für das Königreich?

Nr. 13 –

Der Rechtskurs von Keir Starmer sorgt für Frust an der Basis. Ist eine neue, progressive Partei die Lösung?

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Portraitfoto von Pamela Fitzpatrick
«Wir trafen so viele Leute, die sich nach einem wirklichen Wandel sehnten»: Pamela Fitzpatrick war mal bei Labour, kandidierte zuletzt aber als Unabhängige.

Pamela Fitzpatrick ist sich ihrer Sache sicher. «Die Leute haben die Schnauze voll. Für viele sind Labour und Konservative nichts als Gauner in Anzügen», sagt die britische Linkspolitikerin. Dieser Frust sei es, der in Grossbritannien die radikale Rechte befeuere. Fitzpatrick will dem etwas entgegensetzen: eine neue linke Partei. «Wenn wir diese Gelegenheit verpassen, fürchte ich die Konsequenzen», sagt sie.

Es ist ein riskantes Unterfangen. Denn die Geschichte der linken Wahlalternativen ist in Grossbritannien geprägt von Fehlschlägen. Viele Vorhaben lösten kurzzeitig Enthusiasmus aus, nur um dann unaufdringlich vor sich hin zu dümpeln. Andere wurden ausserhalb der linken Kreise kaum wahrgenommen, etwa Left Unity, die Breakthrough Party oder die Northern Independence Party. Erfolge stellten sich bloss vereinzelt und auf lokaler Ebene ein. Dass etwa die 2004 gegründete Respect Party ein Jahr später einen Unterhaussitz im Osten Londons gewann, war dem verbreiteten Zorn über den Irakkrieg geschuldet. Keine der Neuparteien kam einem landesweiten Durchbruch je auch nur nahe.

«Der Ausschluss war lächerlich»

Diesmal aber werde es anders sein, ist Pamela Fitzpatrick überzeugt. Sie war einst eine treue Labour-Parteigängerin. Seit ihren Teenagerjahren war sie Mitglied, von 2014 bis 2021 vertrat sie die sozialdemokratische Partei als Gemeinderätin in Harrow, einer Vorstadt im Nordwesten Londons. 2019 trat sie als Parlamentskandidatin für den Sitz von Harrow East an. Ihr politisches Engagement entspringt ihren beruflichen Erfahrungen. Lange Zeit arbeitete Fitzpatrick für Kampagnen zur Armutsbekämpfung, 2010 gründete sie das Harrow Law Centre. Es bietet Rechtsberatung für Leute, die Probleme mit Mieten, Sozialleistungen oder dem Asylsystem haben. «Wir können zwar einzelnen Menschen helfen. Aber ich will das System ändern, das überhaupt erst für diese Probleme verantwortlich ist.»

Unter dem Vorsitz des Parteilinken Jeremy Corbyn (2015–2020) sah Fitzpatrick die Labour-Partei als perfektes Vehikel, um dies zu erreichen. Aber die Corbyn-Jahre endeten mit einer bitteren Niederlage bei den Parlamentswahlen im Dezember 2019 – auch Fitzpatrick unterlag in Harrow East ihrem konservativen Rivalen. Keir Starmer übernahm im Frühjahr 2020 den Labour-Vorsitz und begann, die Partei umzukrempeln. Er verabschiedete sich von der Umverteilungspolitik und signalisierte stattdessen Zurückhaltung bei den Staatsausgaben; an die Stelle von Solidarität mit Geflüchteten trat die harte Rhetorik über Asylbewerber:innen; die einst versprochenen Investitionen in den grünen Umbau der Wirtschaft wurden bald dezimiert.

Starmer machte sich zudem daran, den linken Parteiflügel kaltzustellen. Hunderte Basisaktivist:innen und Gemeinderät:innen wurden ausgeschlossen, Fitzpatrick war im November 2021 an der Reihe. Die Parteiführung warf ihr vor, zugleich Mitglied einer kleinen sozialistischen Organisation zu sein, was nicht stimmte. «Es war lächerlich», sagt Fitzpatrick.

Mut geschöpft im Wahlkampf

Aus Keir Starmers Sicht erfüllte der Rechtsschwenk seinen Zweck. «Wir haben es geschafft!», sagte er am 5. Juli 2024, als Labour die Parlamentswahl haushoch gewann, mit 411 der 650 Sitze. «Viereinhalb Jahre lang haben wir daran gearbeitet, die Partei zu verändern, und hierfür haben wir es getan.» Aber die Sitzgewinne, auf dem Papier zweifelsohne beeindruckend, erzählen nur die halbe Geschichte. Wie viele Analysen zeigen, war der Labour-Sieg vor allem der Schwäche der konservativen Tories geschuldet. Enthusiasmus für Starmers Partei gab es kaum – in absoluten Zahlen verlor Labour im Vergleich zu 2019 sogar eine halbe Million Stimmen.

Viele progressive Wähler:innen wählten eher die Grünen, die 6,7 Prozent der Stimmen und vier Sitze gewannen, oder sie stimmten für unabhängige Kandidat:innen. Die Ereignisse in Nahost spielten eine wichtige Rolle: Starmers Unterstützung für den israelischen Angriff auf den Gazastreifen veranlasste Zehntausende, der Labour-Partei den Rücken zu kehren und Kandidat:innen zu wählen, die Israels Vorgehen verurteilten. Fünf von diesen zogen ins Unterhaus ein, unter anderem der Exvorsitzende Jeremy Corbyn, der ebenfalls aus der Partei gedrängt worden war. Pamela Fitzpatrick trat als Unabhängige diesmal in Harrow West an, allerdings kam sie mit 4000 Stimmen nur auf den dritten Platz, hinter Labour und Tories.

Aber der Wahlkampf machte ihr Mut. «Es war fantastisch. Wir trafen während der Kampagne so viele Leute, die sich nach einem wirklichen Wandel sehnten.» Noch nie zuvor habe sie eine so tiefe und verbreitete Enttäuschung über die etablierten Parteien erlebt. Darauf will sie jetzt aufbauen.

Die ersten acht Monate der Labour-Regierung haben die Befürchtungen vieler Linker bestätigt: Starmer hat zwar «change» versprochen, aber zu sehen war davon bislang wenig. Etliche seiner Vorstösse hätte man eher von einer Tory-Regierung erwartet, etwa die Einsparungen beim Heizzuschuss für Rentner:innen oder beim Kindergeld für arme Haushalte. Vergangene Woche kündigte die Regierung zudem an, die Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderung und Arbeitsunfähige um fünf Milliarden Pfund zu kürzen.

Abgesehen von einer Erhöhung des Mindestlohns und einer Stärkung der Rechte der Lohnabhängigen hat die Labour-Regierung kaum etwas unternommen, um die Lebensumstände der Normalbürger:innen zu verbessern – ob bei den hohen Mieten, den exorbitanten Energiekosten oder dem abgewirtschafteten Service public. Dass Starmer in den vergangenen Wochen im diplomatischen Ringen um einen Waffenstillstand in der Ukraine auf europäischer Ebene eine Führungsrolle übernommen hat, hat ihm zwar auch zu Hause Zuspruch beschert, aber nur in bescheidenem Ausmass – für viele Wähler:innen überwiegt die Enttäuschung über den innenpolitischen Kurs. «Die Unzufriedenheit der Leute nimmt von Tag zu Tag zu», sagt Fitzpatrick.

Von unten her aufbauen

Die Debatte um eine neue Linkspartei ist in den vergangenen Monaten konkreter geworden, wenn die Lage auch eher unübersichtlich ist, mit verschiedenen, sich teils personell überlappenden Initiativen. Fitzpatrick ist Mitgründerin einer Organisation namens Collective. Bei der Parlamentswahl 2024 hat diese bereits unabhängige Kandidat:innen unterstützt. Nun soll Collective zu einer eigenen Partei werden. Derzeit sind Fitzpatrick und ihre Mitstreiter:innen im Austausch mit zahlreichen lokalen und landesweiten Basisgruppen und Kampagnen, um deren Unterstützung zu gewinnen und der geplanten Partei schärfere Konturen zu geben. Viele sind schon an Bord gekommen, darunter die Trade Unionist and Socialist Coalition, die Kampagne The Muslim Vote und die Lokalpartei Liverpool Community Independents.

Diese Graswurzelarbeit sei entscheidend, sagt Fitzpatrick. «Die Partei muss von unten her aufgebaut werden. Wir können nicht einfach eine neue Partei ankündigen und sagen: Dies ist unser Programm.» Wenn nicht von Anfang an die Zusammenarbeit an der Basis im Zentrum stehe, fehle der Partei die gesellschaftliche Verankerung.

Der zweite Punkt, den Fitzpatrick für entscheidend hält, ist politische Radikalität. «Die Probleme der Leute können nicht mit minimalen Reformen gelöst werden – das reicht längst nicht mehr.» Stattdessen müsse sich die neue Partei gegen den politischen und wirtschaftlichen Konsens stellen, der in den Machtzentren vorherrsche.

Das heisst zum Beispiel: eine Verstaatlichung von Wasser- und Energieversorgung; die Einführung einer Vermögenssteuer; einen Ausschluss des Privatsektors vom staatlichen Gesundheitsdienst; die Vergesellschaftung der Bauindustrie, damit erschwingliche Wohnungen gebaut werden können; ein Ende der hetzerischen Rhetorik gegen Migrant:innen. «Es muss alles darauf ausgerichtet sein, das Leben der Menschen konkret zu verbessern. Und wir brauchen eine rebellische Energie und Rhetorik, um die Leute zu mobilisieren.» Andernfalls werde bloss die radikale Rechte stärker, sagt Fitzpatrick.

Wandel von innen

Doch nicht alle sind von diesem Vorhaben überzeugt. Rachel Godfrey Wood würde Fitzpatricks Analyse der Labour-Regierung und der politischen Grosswetterlage im Land zwar zustimmen – sie hält eine neue Linkspartei aber für die falsche Antwort. Godfrey Wood, vierzig Jahre alt, trat der Labour-Partei im September 2015 bei, zwei Wochen nachdem Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden gewählt worden war. Als Corbyns Anhänger:innen die Organisation Momentum gründeten, um der Linken innerhalb der Parteistrukturen und der Wähler:innenschaft eine dauerhafte Basis zu geben, war Godfrey Wood von Beginn an dabei. Heute ist sie die nationale Koordinatorin von Momentum – und noch immer der Meinung, dass sich die Linke innerhalb von Labour organisieren sollte. «Das bietet die beste Chance, eine transformative Regierung zu bilden», sagt sie.

Zwar räumt Godfrey Wood ein, dass die Position der Labour-Linken derzeit sehr schwach sei. Zählte Momentum mal 35 000 Mitglieder, sind es mittlerweile weniger als 10 000. «Es wird sehr lange dauern, den Schaden, den Starmer in den vergangenen fünf Jahren angerichtet hat, zu beheben.» Aber es sei besser, langfristig auf dieses Ziel hinzuarbeiten – also die Labour-Partei wieder zu einer linken Politik zu verpflichten –, als die Hoffnung in eine neue Partei zu stecken, «die vielleicht ein paar Sitze gewinnt, aber niemals regieren wird».

Das britische Mehrheitswahlsystem mache es sehr schwierig für eine neue Partei, auf kurze oder mittlere Frist den parlamentarischen Durchbruch zu erreichen, sagt Godfrey Wood. Zudem – und dies sei entscheidend – profitiere Labour von der Beziehung zu den Gewerkschaften. Die Partei wurde Ende des 19. Jahrhunderts mit dem expliziten Zweck gegründet, die organisierte Arbeiter:innenschaft im Parlament zu vertreten. Noch heute ist die Unterstützung durch die Gewerkschaften zentral. Elf von ihnen, darunter die drei grössten, sind sogenannte «affiliated trade unions», also der Labour-Partei angegliederte Gewerkschaften, die sie auch finanziell unterstützen. «Es ist unwahrscheinlich, dass sie diese historische Beziehung aufgeben und sich einer anderen Partei anschliessen werden», sagt Godfrey Wood.

Sie glaubt, dass sich früher oder später eine Möglichkeit für die Linke eröffnen werde, ihren Einfluss innerhalb der Labour-Partei wieder geltend zu machen. Der Grund dafür – und diese Ansicht teilt auch Pamela Fitzpatrick: Keir Starmer sei sehr verwundbar. «Er hat kaum Rückhalt in der Bevölkerung und ist fast völlig abhängig von der Unterstützung der Medien», sagt Godfrey Wood. «Sobald ihm diese entzogen wird, wird das ganze Projekt zerbröckeln.» Es sei auch denkbar, dass ein bedeutender Block der Partei beginnen werde, sich dem Premierminister zu widersetzen.

In den vergangenen Wochen hat sich innerhalb der Labour-Fraktion verstärkt Unmut breitgemacht. Die verbissene Sparpolitik, die Starmers Regierung vorantreibt, stösst zunehmend auf Widerstand. Gut möglich also, dass es in den kommenden Wochen oder Monaten zu einer grösseren parlamentarischen Rebellion kommt.