Asylpolitik: «Wenn ihr Zahnweh habt: Kommt zu uns!»
Unbegleitete jugendliche Geflüchtete werden seit über zwei Jahren von ehrenamtlichen LehrerInnen im Aarauer Telliquartier unterrichtet. Was aber, wenn alle Beschwerdemöglichkeiten gegen einen negativen Asylbescheid ausgeschöpft sind?
«Mützen darf man bei uns anbehalten – muss man aber nicht», erklärt Projektleiter Werner Senn zwischen Töggelikasten und Schülerzeichnungen. Er holt weit aus in seiner Einführungsveranstaltung für die zwanzig neuen SchülerInnen im Projekt «UMA». UMA steht für unbegleitete minderjährige Asylsuchende, deshalb dringen auch unangenehme Themen ins familiäre Ambiente: «Ihr wisst, beim Zahnarzt zahlt man euch nur das Zähneziehen.»
«Leben & Lernen» lautet das Motto des Schulprojekts in einem ehemaligen Industriegebäude im Aarauer Telliquartier. Seinen Anfang genommen hat es vor drei Jahren mit einer journalistischen Recherche: In Begleitung eines Teams des Westschweizer Fernsehens besuchte Patrizia Bertschi, die Präsidentin des Netzwerks Asyl Aargau, Ende 2014 UMAs in ihren Unterkünften. Sie traf Fünfzehnjährige, die keinen Zugang zu Deutschkursen hatten und mangels Alternativen im Winter Flipflops trugen. «Was macht ihr so den ganzen Tag?», fragte Bertschi. Die Antwort: «Schlafen.»
Die Sendung brachte die minderjährigen Asylsuchenden in den Fokus des Netzwerks Asyl. Nachdem in der Folge auch «Schweiz aktuell» darüber berichtet hatte, meldete sich eine Privatperson beim Netzwerk – und bot 100 000 Franken als Anschub für ein Betreuungsprojekt. Nach einer Pilotphase startete schon im Oktober 2015 der reguläre Schulbetrieb. Ab Sommer 2018 wird nun der Swisslos-Fonds des Kantons Aargau alle Kosten übernehmen, vorerst bis Mitte 2020. Bis dann finanziert sich das Projekt auch aus Spenden und Stiftungsgeldern.
Vorfreude auf den Unterricht
An den Vormittagen Deutsch- und Mathematikunterricht, ein reiches Mittagessen, nachmittags Zeichnen und Werken: Das bietet das Projekt «UMA» seinen derzeit 45 SchülerInnen an. Gerade auch das Handwerkliche sei wichtig, erklärt Senn den SchülerInnen, die an diesem Tag erstmals am Unterricht teilnehmen. Er zeigt auf Fotos von Plastilinfiguren und auf die Besenhalterung: «Das alles haben Schülerinnen und Schüler gemacht!»
Einige von ihnen hat das Projekt «UMA» autonom «eingeschult»; die meisten jedoch werden direkt vom Kanton zugewiesen. So auch die zwei irakischen Schwestern, die schon lange im Asylverfahren und Anfang zwanzig sind. Um rechtzeitig zum Unterricht zu erscheinen, mussten sie früh aufstehen: eine Stunde Anfahrt mit dem ÖV, aber immerhin zahlt der Kanton die Tickets. Ihre Vorfreude auf den Unterricht sei gross gewesen, sagen sie; beim Mittagessen freuen sie sich bereits wieder auf den Nachmittag.
Wer bei der Ankunft in der Schweiz älter als fünfzehn Jahre ist, wird nicht mehr regulär eingeschult. Im Aargau kann, wer den Status F (vorläufig aufgenommen) oder gar B (anerkannt) hat, im Alter von 16 bis 21 während maximal zweier Jahre ein Brückenangebot der Kantonalen Schule für Berufsbildung (KSB) besuchen. Erst seit vergangenem Sommer nimmt die KSB auch Asylsuchende im Alter zwischen 16 und 18 Jahren auf. Die beiden Schwestern aus dem Irak sind dafür zu alt, und ihr Verfahren dauert über das 21. Lebensjahr hinaus. Das heisst: Ohne das Projekt «UMA» bekämen sie keine Schulbildung.
Familiärer Rahmen für Traumatisierte
«Heute ist Dienstag.» Im Alphabetisierungskurs lernen zwei Mädchen ohne Vorkenntnisse Deutsch. Die Betreuung ist intensiv: eine Lehrerin und zwei Kulturvermittlerinnen. Im Schulzimmer daneben liest eine fortgeschrittene Klasse kurze Texte über Glatteis, Hagel und sogar Aquaplaning. Niemand beachtet die Aussicht auf Kräne, Restschnee und die Telliüberbauung; alle folgen aufmerksam den Erläuterungen ihrer Lehrerin.
Überhaupt erst möglich macht das Projekt das Engagement von 54 ehrenamtlichen Lehrerinnen und Betreuern. Viele von ihnen sind pensionierte oder werdende PädagogInnen. Bezahlt wird nur die Arbeit des Leitungsteams. Dessen Pflichtenheft ist denn auch universell – «Leben & Lernen» eben. An diesem Nachmittag begleitet zum Beispiel jemand aus dem Leitungsteam einen Schüler zum Praktikumsgespräch, Werner Senn unterrichtet derweil eine von fünf «Kreativklassen», und Susanne Klaus diskutiert zwischen Bergen von Mathematikprüfungen mit einem jungen Zivildienstler die Einstufung eines neuen Schülers.
Susanne Klaus war zuerst ehrenamtlich dabei; seit einem Jahr ist sie angestellt und erst seit wenigen Tagen nicht mehr parallel dazu noch Leiterin einer Primarschule. Einige SchülerInnen nennen sie «Mama Susanne», erzählt sie: «Unsere Schule bildet einen familiären Rahmen. Denn auch wenn die KSB ihr Angebot inzwischen ausgebaut hat, kann sie traumatisierten Jugendlichen weniger gerecht werden.»
Unter Mitwirkung des Projekts «UMA» sind bisher etwa sechzig Praktika und Schnupperlehren zustande gekommen, drei ehemalige SchülerInnen konnten eine Lehre beginnen. Darüber hinaus gibt das Projekt auch Unterstützung bei Arztbesuchen und Rechtsberatungen. «Wenn ihr Briefe vom Kanton oder dem SEM bekommen habt und auch bei Bussen oder wenn ihr Zahnweh habt: Kommt zu uns!», sagte Senn in seiner Einführung.
Wenn aber alle Beschwerdemöglichkeiten gegen einen negativen Asylentscheid ausgeschöpft sind, kann auch das Projekt «UMA» nicht mehr helfen. Die Jugendlichen sind dann wieder auf sich allein gestellt.