Flüchtlinge und Suizid: Wie es zur Tragödie von Aarau kam
In Aarau wirft sich ein junger Afghane vor einen Güterzug. Ein Freund will ihn davon abhalten und wird mit in den Tod gerissen. Der Vorfall wirft ein Licht auf die unzureichende psychologische Versorgung von Asylsuchenden.
Am Abend des 7. Juni treffen sich junge Geflüchtete im «Casino», einer Poolbar im Hauptbahnhof Aarau. Wie so oft. Sie spielen Billard, albern herum, manche trinken Bier. Aminullah W. (18) greift oft zur Flasche. Auch an diesem Donnerstagabend ist der afghanische Flüchtling betrunken. Es geht ihm schlecht.
Gegen 22 Uhr verlassen die Männer das Lokal. Auf dem Weg an einen Platz hinter dem Bahnhof direkt an den Gleisen entbrennt eine hitzige Diskussion. Im Mittelpunkt: Aminullah W. Er äussert nicht zum ersten Mal Suizidgedanken. Erst drei Tage zuvor, so erinnert sich Mohammad R. (19), habe Aminullah gesagt, er werfe sich vor einen Zug. «Wir haben es zuerst nicht besonders ernst genommen, weil Aminullah gerne Sprüche machte. Aber ich habe ihm schon da angeboten, dass er jederzeit zu mir kommen und reden könne.»
Aber an diesem Abend spüren seine Freunde, dass es dem Achtzehnjährigen ernst sein könnte. Sie sprechen ihm Mut zu und bieten ihm ihre Hilfe an. Plötzlich sei Aminullah aufgesprungen, über den Drahtzaun geklettert und auf die Gleise gerannt – sein Kollege Iftikar Y. hinterher. Iftikar habe ihn zurückhalten wollen, sagt Mohammad R. Ein Güterzug brauste heran und erfasste beide Männer. Sie waren auf der Stelle tot.
Das mediale Bild
Die Polizei befragte auch Mohammad R. Doch mit der Berichterstattung, die darauf folgt, ist der junge Afghane nicht einverstanden. Sie vermittle ein falsches Bild. Nun will er es korrigieren. In den Berichten ist von einem Streit unter alkoholisierten Geflüchteten die Rede. «Das stimmt nicht, die zitierten Leute haben es vielleicht als Streit empfunden, weil sie unsere Sprache nicht verstehen», sagt Mohammad R. «Wir wollten Aminullah helfen und ihn ermutigen.» Mohammad R. kann seither nicht mehr gut schlafen. Die Bilder und Geräusche des Unfalls haben sich in seinem Kopf festgesetzt. «Naht ein Zug, halte ich mir die Ohren zu», sagt er. Mohammad R. spricht recht gut Deutsch. Er arbeitet auf Abruf für eine Imbisskette – und möchte eine Lehre anfangen. Mohammad R. sei ein Kämpfer, sagt Gabi Gratwohl. Sie arbeitet in der Schulleitung des Projekts «Leben und Lernen» für unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Und kennt daher ihre Lebensverhältnisse und Probleme.
Anders als sein Freund Mohammad R. kam Aminullah W. mit dem Leben in der Schweiz nicht zurecht. Als unbegleiteter Minderjähriger reiste er 2017 in die Schweiz ein. Bereits sein Leben in Afghanistan sei schwierig gewesen, sagt Gratwohl. Was er auf der Flucht erlebte, weiss niemand genau. Aminullah W. ritzte sich oft an den Armen, war verhaltensauffällig und wurde mit zahlreichen Verboten belegt. «Aminullah hatte sein Leben nicht im Griff, die seelische Belastung hat ihn lahmgelegt», sagt die Deutschlehrerin. Als er achtzehn Jahre alt wurde, galt er nicht mehr als unbegleiteter Minderjähriger. Nach zahlreichen Transfers rund um Aarau wurde er aus seiner gewohnten Umgebung gerissen und nach Würenlos in eine Zivilschutzanlage verlegt. Die Gemeinde liegt abseits, weit weg von seinen Freunden. Und Aminullah W. litt unter der Ungewissheit, die vielen vorläufig Aufgenommenen zu schaffen macht: Sie wissen nie, wann sie die Schweiz verlassen müssen.
Der Zufall entscheidet
Im Aargau sind die kantonalen Behörden für die Betreuung und Unterbringung von Asylsuchenden und ausreisepflichtigen Menschen verantwortlich; in die Zuständigkeit der Gemeinden fallen die vorläufig Aufgenommenen. Wie und wo sie diese unterbringen und betreuen, ist der jeweiligen Gemeinde überlassen. Einheitliche Standards gibt es nicht. Genau das fordern die SP und das Netzwerk Asyl Aargau. Netzwerk-Präsidentin Patrizia Bertschi sagt: «Ein absolutes No-Go ist die dauerhafte Unterbringung in Zivilschutzanlagen. Dort sind die Menschen weitgehend sich selbst überlassen.»
Besser haben es Geflüchtete, die in einer Wohngemeinschaft oder in einer Familie unterkommen. Heute entscheidet der Zufall, ob ein Geflüchteter eine angemessene Betreuung erhält. «In den urbanen Räumen um Baden oder Aarau ist das wohl eher der Fall, es gibt auch gute Beispiele», sagt Patrizia Bertschi. Das Netzwerk Asyl fordert daher, dass Flüchtlinge nach einem Jahr in der Schweiz ein Anrecht auf ein Einzelzimmer haben sollten. Oder dass junge Geflüchtete bei einer Familie unterkommen.
Die SP arbeitet ebenfalls in diese Richtung. Sie hat Mitte Juni im Kantonsparlament eine Reihe von parlamentarischen Vorstössen eingereicht. Die SP-Grossrätin Lea Schmidmeister sagt: «2015 kamen viele Flüchtlinge, der Kanton war in einer Notlage. Er musste bei der Unterbringung improvisieren. Doch mittlerweile hat sich die Lage entspannt.» Umso mehr sei die Unterbringung in Zivilschutzanlagen eine Zumutung – ohne Tageslicht, ohne wirkliche Betreuung. «Ein Problem ist auch die altersmässige Durchmischung», sagt Schmidmeister. Kommt hinzu: Wer einer Arbeit nachgeht oder eine Schule besucht, kann sich in diesen Anlagen nicht erholen – oder sich auf Schulaufgaben konzentrieren. Zum Glück, so Schmidmeister, gebe es viele Freiwillige, die sich in Vereinen wie im Netzwerk Asyl oder im Kafi Royal Baden engagierten: «Sie machen Arbeit, die eigentlich die öffentliche Hand leisten müsste.»
PsychologInnen werden aktiv
Das gilt auch für die psychologische Betreuung. Im März 2016 gründeten PsychologInnen die Fachgruppe Netzwerk Psy4Asyl. Sie entstand aus der Not. Denn die psychologische Betreuung von traumatisierten Flüchtlingen ist nicht nur im Aargau unzureichend, sondern schweizweit. Das heutige Staatssekretariat für Migration gab 2013 eine Studie in Auftrag. Diese kam zum Schluss, dass in der Schweiz rund 200 bis 500 spezialisierte Behandlungsplätze fehlen. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.
Der Tod der beiden jungen Flüchtlinge in Aarau ist kein Einzelfall. Bereits im vergangenen Jahr nahmen sich in Aarau und Baden zwei junge Asylsuchende das Leben. In Nidwalden brachte sich im November 2018 ein 22-jähriger Afghane um. Der vorläufig Aufgenommene galt als gut integriert und engagiert. Niemand ahnte etwas.
Die Psychotherapeutin Sara Michalik, Präsidentin des Netzwerks Psy4Asyl, sagt: «Mich beunruhigen diese Suizide. Sie sind ein Alarmzeichen dafür, dass wir als Gesellschaft Jugendliche und junge Erwachsene alleinlassen.» Asylsuchende müssten bereits bei ihrer Ankunft in der Schweiz besser begleitet und unterstützt werden. Kantone und Gemeinden seien mit der komplexen Situation dieser Menschen oft überfordert.
Die Fachgruppe kümmerte sich zunächst um minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, mittlerweile betreut sie alle Altersgruppen. Im vergangenen Jahr konnte sie fünfzig Therapieplätze vermitteln.
Das Netzwerk der TraumatherapeutInnen arbeitet aber auch mit niederschwelligen Angeboten. In Gruppenarbeit verfolgen die TherapeutInnen einen einfachen, aufklärenden Ansatz. Sie vermitteln den Flüchtlingen, was der Seele und dem Körper guttut. Junge männliche Flüchtlinge greifen oft zu Alkohol. So entspannen sie sich schnell und vergessen kurzfristig. Aber das ist bloss eine Art Notmedikation. «Wir zeigen ihnen, wie sie das mit Sport und Entspannungsübungen angehen können – und sie lernen, darüber zu reden, was sie belastet.»