Berlinale: Abstraktion oder Action? Geht beides!
An der Berlinale zeigen Christian Petzold und José Padilha mit ihren neuen Filmen, warum Irritation manchmal besser ist als Einfühlung.

Am Anfang ist man irritiert: Deutsche sitzen in Pariser Cafés von heute, aber TouristInnen sind das nicht. Ihre Gesten sind fahrig, ihre Mienen gehetzt, sie zucken zusammen, wenn Polizeisirenen aufheulen. Sie sprechen darüber, wie man Marseille erreichen könnte, von «Passagen» nach Mexiko, Transitvisen für die USA und davon, wen «sie» diesmal erwischt haben. Der eine oder andere erwägt Selbstmord.
Man muss Anna Seghers’ Roman «Transit» (1944), die Vorlage für den neuen Film von Christian Petzold, nicht gelesen haben, um zu verstehen, dass es sich hier um Flüchtende vor dem Faschismus in den vierziger Jahren handelt. Nur dass Petzold seinen Film nicht in historischen Kulissen spielen lässt, sondern in einer von digitalen Gadgets bereinigten Gegenwart. Der Verfremdungseffekt ist bestechend: Die anfängliche Irritation wandelt sich in eine erhöhte Aufmerksamkeit für die beunruhigenden Ähnlichkeiten zwischen der Situation damals und der Flüchtlingskrise heute.
Dabei gilt Petzolds Hauptinteresse wie immer dem Kino als Ort der Sehnsuchtsdarstellung. Das geisterhafte Liebesdreieck aus Seghers’ Roman übernimmt er unverändert: Ein Mann (Franz Rogowski) hat die Identität und die Visumpapiere eines Bekannten übernommen. In Marseille trifft er immer wieder dessen Frau (Paula Beer), die nach ihrem Gatten sucht – ohne zu wissen, dass er verstorben ist. Die Figuren sind auf fast quälende Weise in ihren Einzelschicksalen gefangen, zudem vernebelt Petzold mit Zitaten und Anspielungen immer wieder die historische Zeitfolie. «Transit» ist ein hochgradig konstruierter Film, der in seiner ganzen Abstraktion die Fantasie herausfordert und beflügelt.
Falke gegen Taube
Um einiges direkter geht dagegen der Norweger Erik Poppe in seinem Spielfilm über das Breivik-Attentat von 2011 vor. Vorgeblich auf Einfühlung bedacht, versetzt er uns in «Utöya 22. Juli» auf die Opferseite eines Ego-Shooter-Spiels. Vorhersehbar spaltet sich das Publikum dabei in solche, die diese schockierende Perspektive für produktiv und provokant halten, und jene, die darin nur eine Exploitation-Masche sehen können: Schreckensbilder für den Thrill.
Dass es auch anders geht, beweist an der Berlinale ausgerechnet der Brasilianer José Padilha, als Regisseur von «Tropa de elite» auch nicht eben unumstritten: Der Film zeigte die Gewalt in den Favelas aus Sicht der Polizei. Statt die Heldentat einer israelischen Eingreiftruppe zu preisen, lässt sich sein neuer Actionfilm «7 Days in Entebbe» auf die Vielfalt der Konflikte auf allen Seiten ein. Da streiten der «Falke» Schimon Peres (Eddie Marsan) und die «Taube» Yitzhak Rabin (Lior Ashkenazi) über die Frage des richtigen Umgangs mit Terroristen, während im Terminal von Entebbe selbsternannte deutsche Revolutionäre und palästinensische Freiheitskämpfer ihre Gegensätze entdecken: «Du hasst deine Heimat, ich liebe meine», bringt es ein Palästinenser gegenüber dem von Daniel Brühl gespielten Deutschen auf den Punkt.
Auf den grossartigen Shootout wartet man hier vergeblich: An die Stelle einer martialischen Choreografie der Geiselbefreiung setzt Padilha eine Tanzperformance, die die atemlose Action abstrahiert und überhöht. «Wir müssen in Zukunft aber auch verhandeln können mit diesen Leuten», sagt Rabin am Ende zu Peres – ein Satz der Hoffnung, deren Erfüllung heute utopischer scheint als damals 1976.
Im Hotel der Geschichte
Die Hoffnungen von einst einer neuen Betrachtung unterziehen: Das wagt auch der Schweizer Nicolas Wagnières, der in Berlin seinen Essayfilm «Hotel Jugoslavija» zeigt. Das titelgebende Belgrader Gasthaus, einst das grösste Hotel des Balkans, war in den sechziger Jahren ein Symbol des jugoslawischen dritten Wegs zwischen Ostblock und kapitalistischem Westen. Heute ist es eine Ruine, in der Wagnières sprechende Bilder von Untergang und Verwahrlosung findet, während er aus dem Off über die eigene Herkunft reflektiert (seine Mutter ist in Belgrad aufgewachsen). In wenigen Interviews mit ehemaligen Angestellten wirft er Fragen auf, die nachhallen. Woran ist dieser «Mitbestimmungssozialismus» gescheitert? Und verdecken die Verbrechen des Jugoslawienkriegs vielleicht Dinge, die mit dem Sozialismus untergegangen sind, aber gut waren?
Ob und wie man aus der Vergangenheit lernen kann, fragt auf andere Weise auch Ruth Beckermann in ihrem Dokumentarfilm «Waldheims Walzer». Anhand von Archivmaterial zeichnet die Österreicherin den Skandal nach, der den einstigen Uno-Generalsekretär Kurt Waldheim einholte, als er 1986 als Bundespräsident kandidierte. Da lagen die Taten, die er vergessen, verschwiegen und verleugnet hat, schon über vierzig Jahre zurück. Wieder und wieder hört man Waldheims Rechtfertigung: «Ich habe doch nur meine Pflicht getan wie Hunderttausende andere Österreicher auch!» Beckermann gelingt ein messerscharfes Porträt des österreichischen Schuld/Unschuld-Komplexes, der Waldheim schliesslich zum Wahlsieg verhalf.