Literatur: «Sie unfähiger Blindgänger»

Nr. 8 –

Sheriff Lucian Wing muss auf dem Sofa in seinem Büro schlafen: Seine Frau hat einen Liebhaber. Ungemach droht auch vom übereifrigen Gemeinderatsvorsitzenden. Dieser hockt Wing auf der Pelle, weil ein «Teilzeitkleinkrimineller» mit abgehackter Hand und später auch noch ein gewalttätiger Zeitgenosse mit ausgestochenem Auge kurz im örtlichen Spital auftauchen und alsbald das Weite suchen. Und in gewisser Weise holt Wing auch noch seine Vergangenheit ein – nicht nur in Gestalt seines pensionierten Vorgängers Wingate. Viel Anlass für philosophische Betrachtungen also, selbstverständlich in gewohnt lakonischer Form.

Castle Freeman läuft mit seinem dritten Roman aus dem Vermonter Kosmos erneut zu literarischer Hochform auf. Nicht nur wegen der philosophischen Miniaturen über das korrekte Zerlegen eines halb gestürzten Baumes mit einer Motorsäge oder der grossartigen Passagen, in denen Wing über die Alzheimererkrankung seiner Mutter sinniert. Die Handlungsstränge und Figuren sind diesmal noch überraschender miteinander verflochten. Mitunter fühlt man sich wie in einem Film, bei dem Quentin Tarantino abwechselnd mit den Gebrüdern Coen die Regiefäden zieht. Dabei spielen eine Jagdhütte, «der gute alte Knipser» (eine Kastrationszange) und ein urwüchsiges Männertrio eine wichtige Rolle. Und auch Sheriff Wing offenbart ganz neue Facetten: «Sie sind vielleicht kein Verbrecher», blafft ihn «der Vorsitzende» an, nachdem er ihn falsch verdächtigt hat, «aber Sie sind ein fauler, dummer, verantwortungsloser, unfähiger Blindgänger.» Was Wing natürlich mit einem Schulterzucken quittiert – so ein zugezogener Flatlander, der glaubt, den Einheimischen den Takt vorgeben zu können, hat ja keine Ahnung.

Ein bisschen stehen am Schluss auch wir LeserInnen wie Flatlander da. Wollten wir wirklich so tief in die Seele der Vermonter blicken? Natürlich wollten wir – und freuen uns schon darauf, wie sich die Zusammenarbeit zwischen Wing und seinem neuen Deputy in der hoffentlich bald erscheinenden Fortsetzung entwickelt.

Castle Freeman: Der Klügere lädt nach. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Nagel & Kimche. München 2018. 208 Seiten. 29 Franken