Literatur: Mit der Superwaffe in den ultimativen Befreiungskampf
«Oreo» ist eine grandiose Wiederentdeckung: Fran Ross demonstriert, wie man sich mit Humor aus identitätspolitischen Sackgassen befreien kann.
Was für eine krasse Geschichte: Fran Ross schrieb nur ein einziges Buch, das bei seiner Veröffentlichung 1974 auf keinerlei Echo stiess. Die Neuauflage 2015 hingegen schlug in den USA ein wie eine Bombe. Da war Ross schon dreissig Jahre tot. Und Quentin Tarantino, der es irgendwann vor «Pulp Fiction» (1994) ziemlich sicher gelesen hatte, ein gefeierter Filmregisseur. Doch dazu später.
Dass «Oreo» damals, auf dem Höhepunkt der Black-Power-Bewegung, so völlig aus dem Rahmen fiel, erstaunt rückblickend nicht: Wo schwarze Identitätspolitik das Gebot der Stunde war, kam eine schwarze Heldin mit dem bezeichnenden Namen Oreo (wie das Guetsli: aussen schwarz, innen weiss), die sich dazu noch auf die Suche nach ihrem weissen Vater macht, schlecht an. Auch wenn Oreo ganz im Stil von Pam Grier in «Coffy» (1973) oder «Foxy Brown» (1974) als ausgebuffte Superwoman agiert. Doch diese unglaublich intelligente, geistreiche und (durchaus auch im Wortsinn) schlagfertige Vierzehnjährige fiel nicht nur aus dem Rahmen, sie sprengte ihn.
Ihre schärfste Waffe: WITZ – der «Weg des Interstitiell Treffsicheren Zorns». Eine kickboxinspirierte Selbstverteidigungsmethode, bestehend aus einer Reihe selbst entwickelter «blos» (englisch: «blows», deutsch: «Bumse»), darunter der «shu-kik», der «hed-brac» oder der «i-bop». Das dazu passende Motto von Oreo: «Nemo me impune lacessit» (Niemand reizt mich ungestraft). Zum Motto, das sinnbildlich für Oreos feministische Wende steht, hat sie ein Brief ihrer Mutter bewogen, in dem diese 33 Aspekte der Unterdrückung der Frau aufzählt. Und damit in Oreos Augen ein für alle Mal mit dem Mythos vom schwarzen Matriarchat aufräumt.
«Farbklassen von Schwarzen»
Es ist nur eine von zahlreichen kleinen Episoden und Zusatzschlaufen, über die sich das vermeintliche Heldinnenepos entfaltet, das sich sogar auf die griechische Sage des Theseus beruft. Doch die Episode spiegelt en miniature, was «Oreo» im Grossen auszeichnet: Humor, ein äusserst kreativer Umgang mit Sprache und ein subversives Spiel mit damals (und heute noch) aktuellen Befreiungskämpfen rund um Sexualität und Geschlecht, Hautfarbe und kulturelle Identität. Die Suche nach dem Vater, der Oreo «das Geheimnis ihrer Geburt» verraten soll, dient dabei bloss als Vorwand.
Das macht sie gleich zu Beginn klar. «Mischpoke» heisst das erste Kapitel – jiddisch für Familie – und beginnt mit einer Serie kurzer Abschnitte, die da lauten: «Die schlechte Nachricht zuerst», «Betr. einige Figuren; ein, zwei Aperçus» oder «Die Geburt der Heldin». Dazwischen, in Tabellenform, die «Farbklassen von Schwarzen» von 1 (weiss) bis 10 (schwarz). Natürlich wird diese Kategorisierung am Beispiel von Oreos Familie postwendend ad absurdum geführt: Grossmutter Louise Clark ist eine –1 (spricht dafür mit einem schwarzen Südstaatenslang, «zäh wie Maisgrütze»), Oreo eine 7, obwohl ihre Mutter Helen nur eine 4 (hellhäutig) und ihr Vater ein Weisser ist.
Und da hätten wir den Salat: Papa Samuel entstammt nämlich einer jüdischen Familie namens Schwartz (ausgerechnet!). Seine Ankündigung, er werde eine Schwarze heiraten, lässt seine Mutter mit «ein geschrei sondergleichen» ableben (die schlechte Nachricht). Während umgekehrt Helens Vater (Farbskala: 10), seines Zeichens bekennender Antisemit, der mit dem Abzocken von Juden als Businessmodell reich geworden ist, ob der Aussicht auf einen jüdischen Schwiegersohn auf seinem Stuhl sitzend zu einem halben Hakenkreuz erstarrt. Oreo hat ihre «krausen Haare und die zarte dunkle Haut» übrigens «vom jüdischen Teil der Familie». Und auch sprachlich ist sie höchst versiert im Codeswitching zwischen Jiddisch, schwarzem Slang und akademisch-abgehobenem Duktus.
Fran Ross stattet auch andere Figuren mit einer je eigenen, charakteristischen Sprache aus – egal ob sie nur in einer kleinen Nebenrolle auftreten oder so prägend sind wie Oma Louise, deren Duktus sogar in einem separaten ethnografisch-lexikalischen Exkurs («Randbemerkungen zu Louises Sprechweise») gewürdigt wird. Ironisch gebrochen, wie überhaupt alles in «Oreo». Wobei Ross virtuos zu changieren weiss zwischen scheinbar banalem Kalauer und einem subtilen Spiel mit kulturspezifisch gefärbten Ausprägungen von jüdischem oder schwarzem Humor. Auch wenn Lust und Begehren verhandelt werden – von penisgesteuert bis kulinarisch sublimiert –, rutscht dieser Humor nie zu tief unter die Gürtellinie. Genauso wenig nimmt er beim Umgang mit Stereotypen und Klischees je sarkastische oder gar zynische Formen an.
Der Witz hinter dem Witz hinter …
WITZ als Waffe funktioniert also nicht nur für die Protagonistin, sondern im übertragenen Sinn auch für die Autorin von «Oreo», die übrigens selber von einer schwarzen Mutter und einem jüdischen Vater abstammt. Und wo Oreo ihr WITZ-Repertoire praktisch einsetzt, da kommt Quentin Tarantino ins Spiel. Denn es steckt viel von Oreo in Uma Thurman als «Black Mamba», dem in asiatischer Kampfsporttechnik versierten Racheengel im Zweiteiler «Kill Bill» (2003, 2004). Oder in «Pulp Fiction», wo die Sadomaso-Figur des «Gimp» respektive die Vergewaltigungsszene im Keller bis ins Detail eine Episode aus «Oreo» nachzeichnet. Und die Tendenz zu pointierten Ansagen und bedeutungsschwangeren Monologen, die viele Figuren im Tarantino-Universum auszeichnet? In «Oreo» stösst man immer wieder auf sie. Nicht zuletzt in der Gestalt von Oreo selbst.
Man könnte es positiv formulieren und sagen: Tarantino war einer der wenigen, die das emanzipatorische Potenzial erkannt haben, das sich aus dem kreativ-subversiven Spiel mit identitätspolitisch aufgeladenen Fragen entwickeln kann. Auch wenn er es in seinen Filmen nicht allzu tief auslotete. Fran Ross hat die Latte aber auch extrem hoch gelegt: Am überbordenden Anspielungsreichtum des englischen Originals scheitert mitunter selbst die in vielem gelungene deutsche Übersetzung. Vor allem, wo es um schwarze Kultur geht.
Wenn Oreo zum Beispiel in einem Abzählreim «cracker» durch «honkey» ersetzt, so funktioniert das mit «Knäcke» und «Quarkarsch» im Deutschen gleich doppelt nicht. Denn die beiden englischen Begriffe aus der schwarzen Umgangssprache sind beides abwertende Bezeichnungen für Weisse, und der Witz besteht darin, dass Oreo sich korrigiert, weil sie «cracker» als «unfair» empfindet – und nicht als «zu kinderreimig», wie es in der Übersetzung heisst. Hier hätte ein Anhang zur schwarzen Umgangssprache zumindest ein bisschen Abhilfe schaffen können. Wo der deutsche Verlag doch «für den grösseren Lese- und Assoziationsspass» bereits ein jiddisches Glossar angehängt hat.
Fran Ross: Oreo. Aus dem amerikanischen Englisch von Pieke Biermann. dtv. München 2019. 288 Seiten. 32 Franken