Das System Putin: Russland hat keine Wahl

Nr. 11 –

Der Wahlkampf verlief nach Drehbuch: Die acht AnwärterInnen auf das höchste politische Amt des Landes simulierten eifrig einen Wettstreit, während die staatlichen Umfrageinstitute ihre Resultate an die gewünschten Ergebnisse «anpassten». Am Sonntag geht in Russland das Spektakel namens Präsidentschaftswahl über die Bühne. Um zu wissen, dass Wladimir Putin gewinnt, bedarf es keiner Glaskugel.

Nach der letzten Wahl waren Tausende Unzufriedene für Demokratie auf die Strasse gegangen. Damals, in diesem magischen Winter vor sechs Jahren, lag ein Hauch von revolutionärer Freiheit in der Luft. Diesmal wird es wohl keinen nennenswerten Widerstand gegen die Staatsmacht geben. In den achtzehn Jahren von Putins Herrschaft ist eine Generation herangewachsen, die niemand anderen an der Spitze erlebt hat. Ob Russlands Jugend tatsächlich aufbegehrt, wie viele KommentatorInnen im Westen es sich wünschen, ist ungewiss.

In seiner dritten Amtszeit hat Putin das System endgültig auf seine Person ausgerichtet – auch um die steigende Inflation und den sinkenden Lebensstandard zu kaschieren. Es gelang ihm, ein Bild von Russland als belagerter Festung zu zeichnen, von Feinden umzingelt. Sich selbst machte er als Beschützer der Burg unverzichtbar. Der Gang an die Urne wurde so zur Loyalitätsbekundung, zum Ausdruck für den Glauben an Russland: ein Kreuz für Putin als BürgerInnenpflicht. In Putins «gelenkter Demokratie» war die Mitbestimmung schon immer nur Fassade. Doch seit dem Protestwinter hat die Repression weiter zugenommen, immer härter geht das Regime gegen Kritikerinnen und Gegner vor.

Den progressiven Kräften bleiben Alternativen, die keine sind: die Wahl zu boykottieren, weil jede Teilnahme das System legitimiert, oder die Stimme einem oder einer der anderen KandidatInnen zu geben. Der verhinderte Präsidentschaftskandidat Alexei Nawalny hat seine meist jungen AnhängerInnen zum «WählerInnenstreik» aufgerufen. Teile der Linken wiederum wollen für den Kandidaten der Kommunistischen Partei stimmen: «Erdbeerkönig» Pawel Grudinin, einen schwerreichen Agrarunternehmer, der gemäss kremlnahen Medien Konten in der Schweiz haben soll. Die Eidgenössische Steuerverwaltung will sich dazu nicht äussern. Klar ist, dass eine niedrige Wahlbeteiligung ein Rückschlag für das Regime wäre. Dieses versucht fast schon verzweifelt, mit Gratiskonzerten und alarmistischen Youtube-Clips WählerInnen an die Urne zu bringen.

«Es ist keine Richtung erkennbar, aus der ein Wandel zu erwarten wäre, und es sind keine Kräfte in Sicht, die etwas ändern könnten», konstatierte einmal der oppositionelle Soziologe Lew Gudkow. Er prognostizierte eine «Phase chronischer Stagnation oder eine schleichende permanente Krise» – soziale Spannungen, die Zugeständnisse erzwingen, die Grundlagen des Regimes jedoch unangetastet lassen.

Die politische Diskussion bestimmen wird in den kommenden Jahren jedoch ein anderes Thema: Was geschieht im Wahljahr 2024, wenn Putin – zumindest laut aktueller Gesetzgebung – nicht mehr antreten darf? Nicht nur die Führung hat in dieser Frage keine Visionen, auch die Opposition wirkt ratlos. Zwar richtet Nawalny seine Kampagne bereits auf diese Zeit aus. Doch die fragmentierte Linke stürzt der Hoffnungsträger des Westens ins Dilemma: weil der charismatische Politiker zurzeit die einzige Antwort auf das System ist – und doch keine Alternative zu Putins neoliberaler Ordnung darstellt. Sein Programm beinhaltet ein paar soziale Forderungen wie den Kampf gegen Korruption, doch im Grunde steht er für wirtschaftliche Deregulierung, garniert mit aggressivem Nationalismus. Seine Bewegung ist ganz auf die Person Nawalny ausgerichtet und damit letztlich antidemokratisch.

In Zukunft wird der Lebensstandard vieler RussInnen weiter sinken. Und weil die Einnahmen aus dem Ölhandel ausbleiben, wird der Staat die Steuern erhöhen müssen. Damit steigt auch das Potenzial für grössere soziale Proteste. Eine Alternative zum Putin-Regime und Nawalnys Populismus kann es aber nur geben, wenn sich die progressiven Kräfte bündeln.