Justiz in Ungarn: Der Mann, der ein Terrorist sein soll

Nr. 11 –

Ahmed H. sitzt seit zweieinhalb Jahren in einem Budapester Gefängnis, weil er 2015 an der Landesgrenze eine Menschenmenge zu Gewalt angestachelt haben soll. Eben hat ein Gericht seine mehrjährige Haftstrafe bestätigt, die Verteidigung legte umgehend Rekurs ein. Auf dem Spiel steht auch die Zukunft von Ungarns Rechtsstaat.

«Ich dachte mir: Wir sind in der Hölle gelandet!»: Ahmed H. am 16. September 2015 am serbisch-ungarischen Grenzübergang Horgos-Röszke.

Das Urteil war erst für kommenden Montag angekündigt gewesen, am Mittwoch, 14. März, ging am Bezirksgericht von Szeged aber plötzlich alles sehr schnell. Nach den Schlussplädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung sprach der Richter das Urteil gegen den Mann, den die Medien «Ahmed H.» getauft haben: sieben Jahre Gefängnis plus zehn Jahre Landesverweis, weil er im September 2015 illegal die Grenze nach Ungarn überschritten hat – und dabei zusätzlich einen terroristischen Akt begangen haben soll. Zweieinhalb Jahre der Haftstrafe hat der 41-jährige Syrer allerdings bereits abgesessen, in einem Gefängnis in einem Aussenbezirk von Budapest.

Genau eine Woche zuvor: Ahmed H. sitzt auf dem Rand eines schmalen Betts in einer engen Gefängniszelle. Fahl dringt die Frühlingssonne durch das vergitterte Fenster ins Innere. Der schmächtige Mann mit dem kurzen Haar und dem Stoppelbart sprudelt vor Energie, redet viel und schnell. Kein Wunder: Sein Kontakt zur Aussenwelt ist arg begrenzt. Kaum jemand von den WächterInnen spricht Englisch, Besuch erhält er selten. Rund zehn Minuten pro Tag darf er telefonieren, eine Stunde raus an die Luft. «Ich hoffe, dass ich endlich zu meinem Recht komme», sagt Ahmed H.

Zeitungsberichte über sich selbst schaue er sich nicht an, sagt Ahmed H. Darum kennt er auch die Bilder nicht, die in den ungarischen Medien kursieren: Fotos vom 16. September 2015, als es beim kleinen Grenzort Röszke im Süden des Landes zu einer Strassenschlacht zwischen ein paar Hundert Geflüchteten und der ungarischen Polizei gekommen war. Auf vielen Fotos ist Ahmed H. deutlich zu erkennen, energisch gestikulierend in Richtung der Polizeireihen, die vor ihm aufgebaut sind. Auch die Pressebilder vom Prozess, der seither gegen ihn geführt wird, habe er nicht gesehen. Auf einigen davon trägt er dieselbe verwaschene Trainerjacke wie heute. Bloss wirkt er auf diesen Bildern bedrohlicher: Die Arme und Füsse sind gefesselt, neben ihm stehen zwei vermummte Beamte. Fast schon grotesk wirkt zudem die Leine, an der ihn seine Bewacher führen.

Aus Sicht der ungarischen Justiz sind die Sicherheitsmassnahmen angebracht. Gemäss dem erstinstanzlichen Urteil vom Herbst 2016 ist Ahmed H. ein Terrorist, verurteilt zu zehn Jahren Gefängnis. In abgemilderter Form wurde es nun bestätigt. Das ist ganz im Sinne der rechtsautoritären Regierung von Premierminister Viktor Orban, die sich gerade im Wahlkampf befindet. Seine Verurteilung ist Futter für ihre migrationsfeindliche Agenda.

Ein Leben auf Zypern

Es ist ein langer Weg, der Ahmed H. nach Budapest ins Gefängnis führte. Aufgewachsen ist er in Binnisch, einem kleinen Ort bei Idlib im Norden Syriens. Später studierte er Innenarchitektur. Freunde hätten ihn dazu bewogen, sein Studium in Zypern fortzusetzen, sagt Ahmed H., zunächst an der Universität von Girne im türkischen Teil der Insel. Das sei vor etwa vierzehn Jahren gewesen. Bald darauf sei er in den griechischen Landesteil gezogen, wo er sich an der Universität der Hauptstadt Nikosia eingeschrieben habe. Schliesslich sei er einem Freund in die Küstenstadt Limassol gefolgt.

Dort arbeitete er für ein Bauunternehmen als Maler und Innensanierer, wurde später Mitinhaber des Geschäfts, bis er eine eigene Firma gründete. Es lief gut, Dutzende Angestellte hätten zeitweise für ihn gearbeitet. «Ich fing an, richtig viel Geld zu verdienen», sagt Ahmed H. Damals war er bereits um die dreissig Jahre alt, und seine Freunde hätten ihn dazu gedrängt zu heiraten. Ständig hätten sie ihm Frauen vorgestellt.

«Seit Anfang 2015 behauptet die Regierung, jeder Flüchtling und jeder Migrant sei ein Terrorist», sagt Aron Demeter von Amnesty International Ungarn, «jetzt konnten sie endlich einen vorführen»: Ahmed H. am 7. März in einem Gefängnis in Budapest.

Sie sei Anfang 2008 kurz davor gestanden, aus Limassol auszuwandern, sagt Nadia P., die Ehefrau von Ahmed H., am Telefon. Nach Australien, wo ihre Mutter lebt. Wenige Tage vor der Abreise sei sie an einer Kunstgalerie vorbeigeschlendert, und ein befreundeter Künstler habe sie hereingebeten: Er wollte ihr den Mann vorstellen, der seine Galerie renoviert hatte. «Wir verliebten uns sofort», sagt Nadia P. Ahmed H. habe sie davon überzeugt, die Auswanderungspläne zu verwerfen. Im April 2008 heirateten die beiden, im Oktober 2009 kam die erste Tochter zur Welt, 2011 die zweite. «In meiner Familie wollten einige nicht glauben, dass ich einen syrischen Muslim heiratete», sagt Nadia P. «Aber sie merkten schnell, dass er eine grossartige Person ist.» Sie hätten ein glückliches Leben geführt. Ahmed H. sei grosszügig, witzig und fürsorglich, schwärmt sie, und wie um das zu beweisen, reicht sie das Telefon an ihre Mutter weiter, die gerade aus Melbourne zu Besuch ist. «Er ist ein sehr guter Vater und Ehemann», sagt diese.

Mit dem Boot übers Mittelmeer

Seine Eltern, sagt Ahmed H., hätten noch lange nach Ausbruch des Krieges in Syrien in Idlib ausgeharrt. Täglich habe er mit ihnen telefoniert und erfahren, wie sich die Situation verschlimmerte. 2015 seien sein Cousin und dessen drei Kinder bei einem Bombenangriff getötet worden. Weil es zudem seiner heute 62-jährigen Mutter immer schwerer gefallen sei, Insulin für ihren Diabetes und Medikamente gegen den hohen Blutdruck aufzutreiben, sei die Flucht aus Syrien unausweichlich geworden. Sein Bruder und dessen Frau entschieden sich, mit ihren drei Kindern mitzugehen, und auch ein Sohn seiner Schwester schloss sich an. Als die bestellten Reisepässe aber endlich angekommen seien, habe die Türkei bereits die Grenze zu Syrien dichtgemacht gehabt.

Als Ahmed H. die Nachricht erhielt, dass es die Gruppe schliesslich über die Berge in die Türkei geschafft hatte, entschied er, sie auf der Weiterreise zu begleiten.

Ahmed H. verkaufte zwei Autos und sein Boot, um finanziell gewappnet zu sein. Seine Angestellten wies er an, die laufenden Aufträge weiterzuführen, solange er weg sei. In der zweiten Septemberwoche sei er nach Istanbul geflogen, wo er seine Familie traf. «Ich hatte gehört, dass Deutschland geflüchtete Syrer aus der Türkei holen würde», sagt Ahmed H. Auf der deutschen Botschaft sei er aber schnell eines Besseren belehrt worden. So hätten sie sich zur Flucht übers Mittelmeer entschieden. Ahmed H. besitzt eine dauerhafte Aufenthaltsberechtigung für Zypern, dürfte sich also uneingeschränkt im gesamten Schengenraum bewegen. «Aber mein Leben ist ja nicht mehr wert als das meiner Eltern», sagt er, «ausserdem kann ich ein Boot lenken. Also habe ich sie aufs Meer begleitet.»

Falls sie ein Boot nähmen, solle er ihr nichts davon sagen, hatte ihn seine Frau angewiesen. «Ich hätte nicht schlafen können», sagt sie. Eines Tages habe er sie aber nicht wie üblich angerufen. «Da wusste ich: Jetzt sind sie unterwegs.»

Der «lange Sommer der Migration» neigte sich dem Ende zu, als es am 16. September in Röszke zum Gewaltausbruch kam. Zwei Tage zuvor war der Zaun fertiggestellt worden, den die ungarische Regierung in Rekordzeit entlang der 175 Kilometer langen EU-Aussengrenze zu Serbien hatte aufbauen lassen. Am 15. September trat eine Gesetzesverschärfung in Kraft: Das illegale Überschreiten der ungarischen Grenze war nun nicht mehr bloss eine Ordnungswidrigkeit, sondern eine Straftat, die mit bis zu drei Jahren Haft oder Abschiebung geahndet werden konnte. Eine Autobahn, die bei Röszke nach Serbien führt, war nun mit massiven Stahlplatten abgeriegelt. Auf einer Landstrasse weiter östlich war die Grenze hingegen bloss mit einem einfachen Tor verschlossen. Dahinter standen Dutzende PolizistInnen in Kampfmontur.

Tränengas an der Grenze

Aron Demeter, Medienverantwortlicher von Amnesty International Ungarn, war vor Ort, als sich die Situation zuspitzte. «Immer mehr Geflüchtete fanden sich auf der serbischen Seite des Zauns ein», erzählt er. Sie hätten geglaubt, via Ungarn nach Westeuropa weiterreisen zu können. Stundenlang warteten die Leute in der Hitze, und viele seien unruhig geworden. «Nicht weil sie einen Krawall lostreten wollten – sondern weil sie auf Informationen warteten», sagt Demeter. Lange Zeit sei nicht einmal ein Arabisch sprechender Dolmetscher zugegen gewesen. Vereinzelt seien Plastikflaschen über den Zaun geflogen.

Eine Person stach aus der Menschenmenge auf der serbischen Seite ganz besonders hervor. «Ahmed H. war unübersehbar», sagt der Fotograf Martin Fejer, der die WOZ zu Ahmed H. ins Gefängnis begleitet; er hielt sich damals im Getümmel auf. Immer wieder sei Ahmed H. auf die PolizistInnen zugegangen, habe über das Gitter hinweg laut auf sie eingeredet, sagt Fejer. «Er sprach vor allem von seiner Familie, und immer wieder betonte er, in friedfertiger Absicht hergekommen zu sein.» Einige Leute hätten es auf eine Konfrontation mit der Polizei abgesehen gehabt. Andere wiederum hätten versucht zu vermitteln. «Zu ihnen gehörte Ahmed H.»

Am späteren Nachmittag sei es zum Gewaltausbruch gekommen. Die Polizei habe Tränengas eingesetzt, worauf Gewaltbereite auf den Plan getreten seien, die sich zuvor noch verdeckt gehalten hatten. Sie warfen Steine und alles, was gerade griffbereit war. Eine Zeit lang reagierte die Polizei mit Wasserwerfern – bis sie sich nach einer Weile zurückzog und sich mehrere Hundert Meter weiter hinten zu einer neuen Kette formierte. «Die wussten genau, dass das Tor nun aufgebrochen würde», sagt Fejer. Aber indem sie sich von der Grenzlinie entfernt hätten, hätten sie endlich Handlungsspielraum erhalten, um auf ungarischem Grund gegen die Menschenmenge vorzugehen, vermutet er. Bald strömten viele Leute durch das geöffnete Tor und füllten die frei gewordene Landstrasse, die auf beiden Seiten von Drahtzäunen gesäumt war.

Vor der neuen Polizeireihe bildete sich wieder eine Menschentraube. Und erneut machte sich zwischen den Fronten Ahmed H. mit Worten und Gesten bemerkbar. Diesmal fackelten die Sicherheitskräfte aber nicht lange: Aus der zweiten Reihe sei plötzlich die Antiterroreinheit TEK durchgebrochen, um auf die zusammengedrängte Menschenmenge loszugehen, sagt Fejer. Mit Schlägen und mit Tränengas hätten sie die Leute zurück in Richtung Serbien getrieben: «Panisch rannten alle die Strasse runter, und über die Seitenzäune prügelten die Polizisten mit ihren Stöcken auf uns ein.» Es gab eine Reihe von Verhaftungen und noch mehr Verletzte. Amnesty habe später die Frage nach der Verhältnismässigkeit des Polizeieinsatzes aufgeworfen, sagt Aron Demeter. «Eine Untersuchung fand aber nie statt.»

Er könne sich nicht mehr genau an die Strassenschlacht erinnern, sagt Ahmed H. Irgendwann sei er von Polizisten niedergeprügelt worden und habe das Bewusstsein verloren. In einem serbischen Krankenhaus habe er von seinem Bruder erfahren, dass die Eltern am Grenzübergang verhaftet worden waren. Zusammen mit seinem Bruder und dessen Familie sei er am nächsten Tag nach Kroatien gefahren und dann weiter nach Budapest. Dort warteten sie am Ostbahnhof lange auf einen Zug, der gestrandete Geflüchtete nach Österreich und Deutschland bringen sollte. Als ihn die Polizei am 19. September aufgriff, habe er gerade auf einem Fenstersims geschlafen, sagt Ahmed H.

Die Polizei hatte ihn wiedererkannt. In der Zwischenzeit hatten die Medien die Bilder aus Röszke um die ganze Welt verbreitet. Auf vielen war Ahmed H. zu sehen, wie er mit eindringlichem Blick und ausgestrecktem Finger auf die PolizistInnen einredet. Wer wollte, konnte in ihm leicht den Anführer einer revoltierenden Flüchtlingsmeute erkennen.

Die rechtsautoritäre Regierung von Premierminister Viktor Orban habe die Steilvorlage dankend angenommen, sagt Aron Demeter. «Orban und andere Regierungsvertreter bezeichneten Ahmed H. umgehend öffentlich als Terroristen.» Genauso schnell sei die Anklage durch die Staatsanwaltschaft erfolgt. «Seit Anfang 2015 behauptet die Regierung, jeder Flüchtling und jeder Migrant sei ein Terrorist», sagt Demeter. «Jetzt konnten sie endlich einen vorführen.» Und der Grossteil der Medien, der sich unter Kontrolle der Regierung befinde, habe eifrig am Zerrbild von Ahmed H. mitgesponnen. Da habe es keine Rolle gespielt, dass es in seinem Fall gar nicht um islamistischen Terrorismus geht: Gemäss ungarischem Gesetz ist es ein terroristischer Akt, eine Forderung an den ungarischen Staat zu richten, sofern diese mit einer Drohung verbunden ist. Und genau dies soll Ahmed H. am Grenzübergang getan haben. Gleichzeitig hätten die Medien mit dem Bild gespielt, das die ungarische Öffentlichkeit von einem Terroristen hat, sagt Demeter: «Ein Typ mit Bart, der arabisch aussieht.»

Scharfe Kritik am Gerichtsverfahren

Er habe lange nicht begriffen, was ihm vorgeworfen werde, sagt Ahmed H. «Ich hörte immer nur: ‹Terrorcselekmeny›.» Bis er plötzlich begriff. «Ich, ein Terrorist?!», fragt er, noch heute fassungslos. Dann erzählt er, wie er zusammen mit seinem Bruder und dessen Familie nach der Fahrt übers Mittelmeer innerhalb weniger Tage von Griechenland über Mazedonien und Serbien nach Röszke gekommen war. Dass Ungarn die Grenze geschlossen hatte, habe er erst bei der Ankunft erfahren. Vor dem Tor habe er viele Kinder gesehen und schwangere Frauen, auch einige kranke Leute. «Ich dachte mir: Wir sind in der Hölle gelandet!» Da habe er den PolizistInnen erklärt, dass er keine Probleme machen, sondern nur mit seiner Familie möglichst rasch durch Ungarn nach Westeuropa reisen wolle. Ahmed H. gibt zu, später ebenfalls ein paar Steine geworfen zu haben. «Ich war unter Druck und verlor die Beherrschung», sagt er. «Aber das richtete sich nicht gegen die Polizei», sagt er. «Mit denen habe ich ja gar kein Problem.»

Die Nachricht von der Verhaftung ihres Mannes erhielt Nadia P. noch am selben Tag per Telefon. Der Bruder von Ahmed H. rief sie an; er hatte es in der Zwischenzeit mit Frau und Kindern nach Österreich geschafft. Ende September reiste sie mit den beiden Töchtern nach Budapest, und nach neun Tagen Wartezeit erhielt sie endlich eine Besuchserlaubnis für das Gefängnis. «Ahmed hat geweint und gezittert», erzählt sie. «Es war schrecklich, ihn so hinter der Glasscheibe zu sehen.» Bis heute war dies das letzte Mal, dass sie ihren Mann vor sich hatte.

Im Juni 2016 begann am Bezirksgericht von Szeged der Prozess gegen Ahmed H. Im Gerichtssaal sass damals auch Barbara Hegedüs, eine junge Aktivistin aus Budapest. «Der Prozess war sehr theatralisch aufgezogen», sagt sie, «vor allem für die vielen Journalisten, die sich im vollen Saal aufhielten.» Zusammen mit einer wachsenden Anzahl AktivistInnen bildete sie die international vernetzte Gruppe «Free the Röszke 11». Mit «Röszke 11» waren neben Ahmed H. zehn weitere Personen gemeint, gegen die in erster Linie wegen illegalen Grenzübertritts vorgegangen wurde. Einer davon sei im Rollstuhl gewesen und einer mit einem Gehstock, sagt Hegedüs. Mittlerweile sind alle wieder freigekommen. Auch die Eltern von Ahmed H., die heute in Deutschland wohnen, gehörten zu ihnen, genau wie der Bruder mit seiner Familie.

Von Anfang an hätten sie versucht, für Ahmed H. eine Verteidigung zu finden, sagt Hegedüs. Das habe aber nicht geklappt: «Ich schätze, dass viele Juristen vom politischen Klima abgeschreckt wurden», sagt sie. Zwischenzeitlich habe Ahmed H. im erstinstanzlichen Verfahren zwar einen privaten Anwalt gehabt, der dann aber noch vor Prozessende abgesprungen sei. Ansonsten sei er von einem Pflichtverteidiger vertreten worden.

Ende November 2016 fiel das Urteil gegen Ahmed H.: zehn Jahre Gefängnis wegen eines «terroristischen Akts». Verschiedene Organisationen übten scharfe Kritik am Verfahren: Die Richterin habe verfügbare Videobeweise zu wenig sorgfältig geprüft, lautete einer der Vorwürfe. «Die Aussagen von etwa zwanzig Polizisten wurden viel höher gewichtet, und diese waren teils sogar widersprüchlich», sagt Aron Demeter. Er ist sich sicher, dass die Richterin auf politischen Druck entschied.

Über verschiedene Ecken fand Nadia P. schliesslich einen Anwalt, der den Fall übernehmen wollte: Peter Barandy, der zwischen 2002 und 2004 Justizminister für die damalige sozialistische Regierung gewesen war. Der neue Verteidiger legte umgehend Beschwerde ein. Aber nicht nur er: Auch die Staatsanwaltschaft zog das Urteil weiter – schliesslich hatte sie ein weit höheres Strafmass gefordert.

Ausgeliefert im Wahlkampf

«Jeder weiss, dass der Prozess gegen Ahmed H. politisch motiviert ist», sagt Daniel Tran. Der erst 28-jährige Jurist arbeitet für die Kanzlei von Peter Barandy an diesem Fall. «Es kann zwar sein, dass unser Klient in Röszke Gesetzesverstösse begangen hat», sagt er. «Aber er hat definitiv keinen terroristischen Akt begangen.» Die Anklage laute, dass Ahmed H. Forderungen an die Polizei gestellt und versucht habe, diese unter Androhung von Gewalt durchzusetzen. «Auf den Bildern, die vom Vorfall existieren, ist das aber nicht belegt.» Viel eher deuteten sie darauf hin, dass Ahmed H. als Vermittler aufgetreten sei.

Vor dem zweitinstanzlichen Gericht hatte die Verteidigung Erfolg: Wegen unvollständiger Beweisaufnahme wurde das Verfahren im Juni 2017 zur Neubeurteilung an die erste Instanz zurückgewiesen. Eine schwere Niederlage für alle, die Ahmed H. öffentlich vorverurteilt hatten, etwa der staatliche Fernsehsender M1, der damals live aus dem Gerichtssaal gesendet hatte. «Sobald sich abzeichnete, dass das Urteil nicht im Sinne der Regierung ausfallen würde, haben sie die Übertragung gestoppt», sagt Aron Demeter.

Seit Oktober lief in Szeged das Revisionsverfahren, seither wurden sämtliche vorliegende Beweismittel von einem neu eingesetzten Richter gesichtet. An zwei Prozesstagen war Annina Mullis von den Demokratischen Jurist_innen Schweiz als Beobachterin dabei. Es sei erfreulich, dass die Aussagen der PolizistInnen diesmal mit dem vorliegenden Video- und Tonmaterial abgeglichen würden, sagte sie kürzlich zur WOZ. Und doch lasse sich nicht ausschliessen, dass damit letztlich doch nur ein wasserfestes Urteil im Sinne der Anklage fabriziert werde – in einem Prozess, den es in ihren Augen gar nicht geben dürfte. Das Urteil vom Mittwoch scheint ihre Befürchtung zu bestätigen.

Am 8. April wird in Ungarn gewählt, Orbans Regierungspartei Fidesz strebt eine Zweidrittelmehrheit im Parlament an. Dabei setzt sie praktisch ausschliesslich auf das Thema Migration. Als ultimatives Feindbild hatte sie bis vor kurzem den ungarisch-amerikanischen Milliardär und liberalen Bürgerrechtsaktivisten George Soros auserkoren: Dieser wolle Europa mit muslimischen MigrantInnen überschwemmen, um den Kontinent zu destabilisieren, so die Erzählung. Im Februar präsentierte die Regierung das sogenannte Stop-Soros-Gesetzespaket, das NGOs in Existenznot bringt, die sich für Geflüchtete einsetzen. Auf Wahlplakaten des Fidesz sind die PräsidentInnen von vier Parteien zu sehen, die einen Grenzzaun durchschneiden – und in ihrer Mitte ein lachender George Soros. Die Kampagne wurde Ende Februar heruntergefahren, nachdem in der Stadt Hodmezövasarhely der Fidesz-Kandidat die Bürgermeisterwahl verloren hatte.

Auch Ahmed H. ist Teil dieses Wahlkampfs. So wurde er im Herbst in einer suggestiven Volksbefragung als verurteilter Terrorist bezeichnet, und im Januar veröffentlichte die Regierung auf ihrer offiziellen Facebook-Seite ein Fotoalbum mit dem Titel «Ahmed H. egy terrorista» (Ahmed H. ist ein Terrorist). Ein Freispruch wäre für die Regierung einem Gesichtsverlust gleichgekommen.

«Es gilt hier, einen Menschen zu verteidigen, gegen den das gesamte System arbeitet», sagt Anwalt Daniel Tran. Nun hat die Verteidigung denn auch umgehend Rekurs gegen das erneute Schuldurteil eingelegt. Nicht zuletzt deshalb, weil es sich dabei um einen Präzedenzfall im Umgang mit dem ungarischen Antiterrorgesetz handelt. Und für Aron Demeter hat das ganze Verfahren gegen Ahmed H. eine noch viel weiter reichende, staatspolitische Dimension: «Der Ausgang wird aufzeigen, wie unabhängig die Justiz in Ungarn heute tatsächlich noch ist.»

Nachtrag vom 27. September 2018 : Verurteilt – und doch bald frei

Vor einer Woche ist der unanfechtbare Entscheid gefallen: Der 41-jährige Syrer Ahmed H. wurde in Szeged im Süden Ungarns letztinstanzlich wegen «Mittäterschaft bei einem Terrorakt» und illegalen Grenzübertritts verurteilt. Allerdings wurde das Strafmass von zuvor sieben auf die Mindeststrafe von fünf Jahren Haft reduziert. Weil er bereits seit fast genau drei Jahren in Budapest in verschärfter Untersuchungshaft sitzt, dürfte Ahmed H. bei guter Führung bereits in vier Monaten auf Bewährung freikommen. Dann darf er zu seiner Frau und den beiden Töchtern zurückkehren, die er im Sommer 2015 zum letzten Mal in Freiheit gesehen hat – in Zypern, wo er seit Mitte der nuller Jahre gelebt hatte.

Im September 2015 begleitete Ahmed H. seine Eltern, die vor dem Krieg im Norden Syriens geflohen waren, über die «Balkanroute» in Richtung Westeuropa. Nachdem es am serbisch-ungarischen Grenzübergang bei Röszke zu einer gewaltsamen Auseinandersetzung zwischen Flüchtenden und der ungarischen Polizei gekommen war, wurde Ahmed H. als vermeintlicher Rädelsführer festgenommen und wegen eines «terroristischen Akts» angeklagt. Gemäss ungarischem Recht reicht es bereits aus, unter Androhung von Gewalt Forderungen an die Polizei zu richten, um diesen Tatbestand zu erfüllen. Der betreffende Artikel war zuvor aber noch nie angewandt worden, der Prozess gegen Ahmed H. war somit ein Präzedenzfall. Menschenrechtsorganisationen und ProzessbeobachterInnen kritisierten das Verfahren scharf: Der Angeklagte sei von Politik und regierungshörigen Medien gezielt als Terrorist dargestellt worden, um der migrationsfeindlichen Agenda der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban in die Hände zu spielen. Entsprechend wurde der Prozess auch als Gradmesser der Unabhängigkeit der Justiz in Ungarn betrachtet. Wegen mangelhafter Beweisführung war das erste Urteil im Frühjahr bereits einmal abgeschwächt worden.

Während Ahmed H. durch die Verkürzung der Haftdauer nun zwar bald frei sein wird, bleibt er nach ungarischem Gesetz aber dennoch als Terrorist stigmatisiert – wodurch die Regierung einem Gesichtsverlust entgeht.

Raphael Albisser

Nachtrag vom 19. September 2019 : Ahmed H. wartet noch immer

Vor genau vier Jahren – am 19. September 2015 – wurde Ahmed H. in Ungarn verhaftet. Und seit genau acht Monaten – seit dem 19. Januar 2019 – sollte der 42-jährige Syrer eigentlich frei sein. Er sollte nach Zypern zurückgekehrt sein, zu seiner Frau und den beiden Töchtern. Stattdessen sitzt er in einem Ausschaffungsgefängnis.

Ahmed H. wurde in Ungarn der Prozess gemacht, nachdem es im Sommer 2015 an der serbischen Grenze eine Auseinandersetzung zwischen Geflüchteten und ungarischen Polizeieinheiten gegeben hatte. Er hatte seine Eltern auf der «Balkanroute» begleitet, als beim kleinen Ort Röszke unvermittelt die Grenze geschlossen wurde. Gemäss Anklage soll er die Polizei bedroht und damit einen «terroristischen Akt» begangen haben. Die rechte Regierungspartei Fidesz inszenierte den Fall als Beweis für die Notwendigkeit einer migrationsfeindlichen Politik, die Justiz bestätigte die Vorverurteilung letztlich: Nachdem das Verfahren wegen fehlerhafter Beweisführung der Staatsanwaltschaft an die erste Instanz zurückgewiesen worden war, wurde Ahmed H. im September 2018 wegen «Mittäterschaft bei einem Terrorakt» zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Wegen guter Führung und weil er den Grossteil der Strafe bereits in Untersuchungshaft abgesessen hatte, kam Ahmed H. im Januar aus dem Gefängnis – und wurde direkt ins nächste verlegt: in ein Ausschaffungsgefängnis im Osten des Landes. Denn weil seine Aufenthaltsbewilligung abgelaufen ist, darf er nicht nach Zypern reisen. Anfragen Ungarns an Deutschland, Grossbritannien und Serbien, den Syrer einreisen zu lassen, blieben unbeantwortet. Und einen «Terroristen» werden die Behörden auf ungarischem Boden nicht freilassen. Wenigstens scheint es unwahrscheinlich, dass Ahmed H. gar nach Syrien abgeschoben werden könnte.

Menschenrechtsgruppen haben die zyprische Regierung dazu aufgerufen, die Rückkehr von Ahmed H. zu seiner Familie rasch zu ermöglichen. Tausende unterstützen diese Forderung, allein aus der Schweiz trafen mehrere Hundert Briefe bei Präsident Nikos Anastasiadis ein. Bislang ohne Reaktion.

Raphael Albisser