Abschiebekette aus Ungarn: Ein falscher Zug
Ein Geflüchteter besteigt in Wien aus Versehen den Zug nach Budapest – und wird über die EU-Grenze abgeschoben. Ungarns rechtswidrige Flüchtlingspolitik wird von der EU gestützt.
«In dem Raum roch es so scharf, als wäre da Chilis drin gewesen», beschreibt Dschamal Ahmed* die Zelle, in die ihn die ungarische Polizei gesperrt hat. Ihm und den anderen hätten die Augen getränt, sie mussten unentwegt husten, hatten Durst – typische Folgen eines Pfeffersprayeinsatzes. «Es war wie Folter», sagt Ahmed. Seine Bitte um Wasser beantwortete ein Beamter mit einem Schlag ins Genick mit der Pistole. «Da habe ich gedacht, hier ist es zu Ende.»
Wenige Stunden zuvor, am 9. April 2022, hatte Ahmed der ungarischen Polizei wiederholt zu erklären versucht, dass er in Österreich wohne. Erfolglos. Der Mann wurde mit einem Gefangenentransport ans andere Ende des Landes gebracht, wo er mit sieben weiteren Geflüchteten in besagter Zelle eingesperrt wurde. Dabei hatte der 32-jährige Ahmed grosse Pläne. Der gebürtige Syrer wollte nicht nur in Österreich Jura studieren, er wollte auch seine Frau nach Graz holen, in die steirische Hauptstadt, wo er seit kurzem wohnte.
Im Winter 2021 war Ahmed nach Österreich gekommen, er stellte einen Asylantrag, sein Verfahren lief. Vier Monate nach seiner Ankunft, an jenem schicksalhaften Apriltag, besuchte er einen Freund in Wien. Auf dem Rückweg in die Steiermark stieg er in den falschen Zug. Nach zwei Stunden, kurz vor der Ankunft in der ungarischen Hauptstadt Budapest, bemerkte er seinen Fehler. «Ich wollte in Budapest schauen, wie ich zurückkomme, wann der nächste Zug nach Graz fährt», erzählt der Mann im Videotelefonat. Er sitzt im weissen Pulli vor einer grau lackierten Wand.
71 000 Pushbacks pro Jahr
Stattdessen wird Ahmed am Budapester Bahnhof von der ungarischen Polizei angehalten. Schnell hätten sie ihm sein Handy abgenommen. Ahmeds Erzählungen sind daher kaum nachzuprüfen. NGOs aber halten sie für glaubhaft. Seine Zugangskarte für die Bundesbetreuungsstelle Ost in Traiskirchen, das grösste Erstaufnahmezentrum für Geflüchtete in Österreich, interessierte die ungarische Polizei nicht. Sie nahmen den Asylbewerber mit, und Ahmed wurde zu einer Nummer auf der Website des ungarischen Innenministeriums. Unter der Überschrift «Entwicklungen der illegalen Migration» veröffentlicht es dort die Zahl erfolgter Rückschiebungen. In der Kalenderwoche 14 des vergangenen Jahres waren es 2043 Menschen. Einer davon muss Dschamal Ahmed sein. Da es in Ungarn fast unmöglich ist, einen Asylantrag zu stellen, handelt es sich bei den Rückschiebungen um illegale Pushbacks. Laut Amnesty International soll es in Ungarn im Jahr 2021 rund 71 000 Pushbacks nach Serbien gegeben haben. Asyl zugesprochen hat Ungarn im Jahr 2022 gerade einmal zehn Menschen.
An der Südgrenze, wenige Meter vom Grenzzaun zu Serbien entfernt, befindet sich ein aufwendig eingezäuntes Areal mit blauen Containern. Die Transitzone Röszke liegt gegenüber dem Grenzübergang Horgoš auf ungarischem Staatsgebiet. Hier werden die meisten Geflüchteten, die von Ungarn nach Serbien abgeschoben werden, eingesperrt und abgefertigt. Auch Ahmed erkennt die Transitzone auf einem Foto als seinen vorübergehenden Aufenthaltsort.
Milica Švabić kennt die Transitzone gut. Švabić ist Anwältin bei der Menschenrechtsorganisation Klikaktiv in Serbien. Mit ihren Kolleg:innen beobachtet sie die Vorgänge an der ungarisch-serbischen Grenze genau. Jede Woche fährt sie an die Grenze, informiert Geflüchtete über ihre Rechte und sammelt Erfahrungsberichte von Pushbacks. «Ich mache diese Arbeit seit neun Jahren. Die Situation derzeit ist bei weitem die schlimmste, die wir hier jemals hatten.»
Švabić berichtet von Menschen mit gebrochenen Gliedmassen, von exzessiver Gewalt seitens ungarischer Beamt:innen mit Schlagstöcken, mit Polizeihunden, sogar gegen Kinder. Dazu komme die psychische Gewalt: Drohungen, Entkleiden, sogar uriniert haben sollen ungarische Beamte auf Geflüchtete. «Alles mit dem Ziel, sie davon abzubringen, noch mal über die Grenze nach Ungarn zu kommen», sagt die Anwältin. Médecins Sans Frontières habe in der Grenzregion 500 durch ungarische Beamt:innen Verletzte behandelt, heisst es in einer Mitteilung dieser NGO.
Ahmed berichtet, dass nach zwei Stunden in der Transitzone Röszke Fotos von ihm gemacht worden seien. Anschliessend hätten ihn ungarische Beamte unter Prügel über die Grenze nach Serbien gejagt. «Das waren keine Menschen», sagt er, «das waren Barbaren.» Auf der anderen Seite warteten schon serbische Grenzer:innen. Sie seien korrekt und freundlich gewesen, sagt Ahmed, hätten ihm zu trinken und eine Mahlzeit gegeben. Doch seine unfreiwillige Reise war in Serbien nicht zu Ende. Ahmed wurde innerhalb weniger Tage von Grenze zu Grenze weitergeschoben, von Serbien nach Mazedonien, von dort nach Griechenland. «Was ich in Griechenland erlebt habe, werde ich bis zu meinem Tod nicht vergessen», erzählt Ahmed. Er berichtet von Tritten mit schweren Stiefeln; von einem Gefängnis für Geflüchtete, in dem griechische Soldaten die Gefangenen mit Müll bewarfen; wo der einzige Wasserzugang auf einer Toilette war. «Wir hatten einfach nur Angst», sagt Ahmed. Und wieder habe er gedacht: «Das ist unser Ende.»
Nach zwei Tagen wurde Dschamal Ahmed mit Wasser aus einem Schlauch geweckt und mit neun weiteren Männern zum türkisch-griechischen Grenzfluss Evros gebracht. Mit Schlägen wurde er gezwungen, nackt auf die andere Seite zu schwimmen, in die Türkei. Später schickt Ahmed noch ein Foto von sich nach der Ankunft in der Türkei: Sein breiter Rücken ist mit tiefen Striemen von den Schlägen übersät.
Operation Fox
Ungarn verstösst mit seiner Flüchtlingspolitik systematisch gegen die europäische EU-Grundrechtecharta. Etwa gegen das geflüchteten Menschen garantierte Recht auf ein faires Asylverfahren, gegen das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung und der Abschiebung in einen Staat, «in dem das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen Behandlung besteht». Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat Ungarn in den vergangenen Jahren rund ein Dutzend Mal verurteilt, weil das Land im Umgang mit Geflüchteten gegen internationales Recht verstösst. Doch das hat Ungarn nicht zu einer Abkehr von seiner rechtswidrigen Praxis bewegt – und die restlichen EU-Staaten üben kaum Druck aus, im Gegenteil.
Das Nachbarland Österreich und auch andere EU-Staaten arbeiten Ungarn bei der Flüchtlingsabwehr sogar zu. Unbestätigten Berichten des Border Violence Monitoring Network zufolge sind etwa immer wieder Polizist:innen aus Tschechien und Frankreich an Operationen in Ungarn beteiligt. Österreich startete 2022 offiziell eine Kooperation mit der ungarischen Polizei unter dem Namen «Operation Fox». Der österreichische Innenminister Gerhard Karner beschrieb die Operation als «konsequentes Vorgehen gegen Asylmissbrauch und die Schleppermafia». Seit Beginn der «Operation Fox» sind täglich rund dreissig österreichische Polizist:innen auf der ungarischen Seite der Staatsgrenze im Einsatz, mit Drohnen und Wärmebildkameras. Dutzende Schleuser habe man bereits festgenommen, und «620 geschleppte Personen» seien aufgegriffen worden, brüsten sich die Verantwortlichen. Österreichs Polizist:innen übergeben die Geflüchteten stets an die ungarischen Kolleg:innen – ohne Fragen zu stellen. Aber achten Letztere die Rechte der Geflüchteten, zum Beispiel, einen Asylantrag zu stellen? «Zu Tätigkeiten anderer EU-Staaten müssten sie bitte dort anfragen», teilt das österreichische Innenministerium mit.
Faris Hussein*, ein junger Mann, der ebenfalls aus Syrien stammt, versuchte letzten Winter, mit einem Dutzend weiterer Geflüchteter von Ungarn nach Österreich einzureisen. Aus seinem Versteck im Lieferwagen eines Schleusers sah er, noch auf ungarischem Staatsgebiet, dass ihnen mehrere österreichische Polizeiautos folgten. Da sei der Schleuser am Steuer in Panik geraten, habe beschleunigt, das Lenkrad verrissen. Die Fahrt endete an einem Baum, der Lenker konnte flüchten. Hussein blieb unverletzt und wurde von den österreichischen Beamt:innen aufgegriffen. «Ich habe sie an der österreichischen Flagge auf ihren dunkelblauen Uniformen erkannt», sagt er. Sie hätten ihn korrekt behandelt und ihn und die übrigen Passagiere in ein Krankenhaus gebracht, erzählt er. Es habe keine Gewalt gegeben. Doch nachdem Hussein an die ungarischen Behörden übergeben worden war, wurde auch er umgehend abtransportiert und über die Transitzone Röszke nach Serbien zurückgeschickt.
Bis 2021 war auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex in Ungarn aktiv. Frontex ist nicht gerade bekannt dafür, die Rechte von Migrant:innen allzu ernst zu nehmen. In der Ägäis etwa habe Frontex «schwere Menschenrechtsverletzungen gebilligt», befand letzten Sommer die EU-Antibetrugsbehörde. Aus Ungarn aber hat sich Frontex zurückgezogen, nachdem der EGMR festgestellt hatte, dass dieser Staat Geflüchteten keinen internationalen Schutz garantiere. Frontex wollte dem Vorwurf entgehen, Unterstützung für rechtswidriges Verhalten zu leisten. Aktuell ist die Agentur noch im ungarisch-serbischen Grenzbereich aktiv. Welche Aufgaben sie dort genau übernimmt, will sie auf Anfrage nicht mitteilen.
Keine Chance auf Rückkehr
In Österreich ist der Polizeieinsatz in Ungarn nicht unumstritten. Stephanie Krisper, Parlamentarierin der liberalen Partei NEOS, findet, die «Operation Fox» gehöre sofort beendet. Auch Ewa Ernst-Dziedzic sagt: «Österreichische Polizist:innen dürfen nicht an dieser Kette von Rechtsbrüchen in Ungarn beteiligt sein – und das können wir derzeit nicht ausschliessen.» Ernst-Dziedzic ist Parlamentarierin der Grünen, die selbst in der österreichischen Regierung sitzen. Für den Sprecher der NGO Asylkoordination Österreich, Lukas Gahleitner-Gertz, ist der Einsatz der österreichischen Polizei in Ungarn ein Skandal: «Wahrscheinlich sogar völkerrechtswidrig», sagt der Jurist, weil Österreich der ungarischen Polizei beim Rechtsbruch assistiere.
Dschamal Ahmed besitzt seine Zugangskarte für das Geflüchtetenzentrum Traiskirchen in Österreich bis heute. Ausgestellt am 8. Dezember 2021, um 1.52 Uhr, zeigt sie ein schwarzweisses Profilbild des Mannes, sein Geburtsdatum, seine österreichische Sozialversicherungsnummer, eine personalisierte Laufnummer für das System der österreichischen Asylbehörden. Doch sie nützt Ahmed nichts mehr. Für ihn gebe es keine Chance auf eine legale Rückkehr nach Österreich, teilte ihm die Rechtsberatung der Diakonie Österreich vor wenigen Wochen mit. Sämtliche Fristen seien verstrichen.
Österreichs Innenminister Karner will künftig derweil noch enger mit Ungarn kooperieren. Demnächst sollen zusätzliche Polizist:innen nach Ungarn entsandt werden.
* Name geändert.
Mitarbeit: Najat Gaston