«New Musical Express»: Farewell, beloved enemy!

Nr. 11 –

Kein Hochglanz, dafür legendäre Fehden: Das britische Musikmagazin «NME» war einst das Leibblatt der Punkbewegung. Jetzt wurde es eingeschläfert.

Ade, Zeit der wilden ­Unbeschwertheit: Der «New Musical Express» (1952–2018) hier mit David Bowie (1947–2016) auf dem Cover. Foto: Alamy

Der «New Musical Express» ist schon lange tot. Seit das Magazin in den neunziger Jahren die Rivalität zwischen Blur und Oasis zum Glaubenskrieg à la Stones versus Beatles hochgeschaukelt hatte, versank es in der Bedeutungslosigkeit (und im PR-Müll, den die Plattenfirmen anliefern). Dennoch verdrückten weltweit Popaficionados ein Tränchen, als vor ein paar Tagen die letzte Printausgabe des «New Musical Express» erschien.

Ganz in der Manier des coolen Punks, der die Hand, die ihn füttert, prinzipiell beisst, sang Johnny Rotten 1977 im Song «Anarchy in the UK»: «I use the enemy.» Mit dem Feind waren nicht etwa die Politik, der Staat, die Eltern oder andere SpielverderberInnen gemeint, sondern der «New Musical Express», genannt «NME». Das Musikmagazin brachte damals Punkrock ins Ohr einer breiteren Öffentlichkeit, zusammen mit John Peel, dem anderen Königsmacher des englischen Popjournalismus, und seiner Show auf Radio 1 der BBC.

Realitätsfern euphorisch

1976 hatte sich der damalige «NME»-Chefredaktor in einem Editorial gewissermassen selber angegriffen, als er erklärte, das Musikbusiness gehöre mal ordentlich revolutioniert. Dieses riskante Bekenntnis zu Punk sollte den «NME» für lange Zeit zur wichtigsten Musikzeitschrift machen, die andere Postillen über Jahrzehnte locker überrundete. Er bekam die absolute Deutungshoheit, die weit über England hinaus strahlte, und machte sich damit zum Leibblatt der InsiderInnen.

Wer Ende der siebziger Jahre etwas auf sich hielt, düste auch in der Schweiz wöchentlich zum einzigen Kiosk in der Umgebung, der den «NME» im Angebot hatte. Auf Hochglanz wurde verzichtet – der «NME» kam in mittelmässiger Druckqualität daher und brachte das Lebensgefühl der Punkjugend auf gewöhnliches Zeitungspapier; oft mit viel zu starken Rottönen, die den Popsternen Schweinchengesichter anzauberten.

Neu war aber nicht nur die Musik, sondern auch die Auffassung davon, was Journalismus kann und darf. Radikal subjektiv, selbstreflexiv und -referenziell, erfrischend widersprüchlich und emotionsgeladen, orientierten sich die AutorInnen des «NME» am amerikanischen Gonzojournalismus, der über sein jeweiliges Genre hinausdachte und die Grenzen zur Literatur verwischte. Meist waren die Artikel von beissendem Sarkasmus oder realitätsferner Euphorie geprägt. Das war bald weltweit Pflichtlektüre für PopmusikerInnen.

Nicht nur die LeserInnenschaft war auserlesen, sondern auch die AutorInnen, die journalistische Ehrenkodizes und stilistische Grenzen überschritten. Die Distanz zwischen Macherinnen, Beobachtern und Lesenden wurde aufgehoben. Es kam öfter vor, dass MusikerInnen wie Bob Geldof oder Chrissie Hynde Artikel schrieben, und regelmässige AutorInnen wie Nick Kent, Julie Burchill oder Tony Parsons wurden selber zu Popikonen.

Büro mit Stacheldrahtverhau

Tony Parsons beschreibt den Redaktionsalltag des «NME» in seinem 2005 erschienenen autobiografisch geprägten Roman «Als wir unsterblich waren» so: «Ein permanentes Kommen und Gehen alter und neuer Gesichter, freie Autoren, Musiker, PR-Leute auf der Suche nach einem Auftrag für ein Feature oder nach Öffentlichkeit, und oft arrangierte man sich mit Gratisdrogen, einem Essen oder dreihundert Wörtern über die Vibrators im Dingwalls.» Und weiter: «Es konnte vorkommen, dass man in irgendein Büro marschierte und Joan Jett sass auf einem Schreibtisch, tuschte sich die Wimpern und fragte dich nach Feuer (…)»

Von Julie Burchill, die später mit dem Roman «Die Waffen der Susan Street» (1991) den harten Stand der Frauen im Business thematisierte und eine der abgefeimtesten weiblichen Figuren der jüngeren Literatur kreierte, geht die Anekdote, dass sie ihr Büro im «NME» mit einem Stacheldrahtverhau versehen hatte. Möglicherweise sind sich Burchill und Parsons, die übrigens eine ganze Weile verheiratet waren, so nähergekommen, wie eine Passage aus Parsons’ Roman vermuten lässt:

«(…) sie war jetzt komplett nackt, ohne die halterlosen Strümpfe, und hielt ihm die mit rosa Nerzimitat umhüllten Handschellen hin.

‹Stehst du auf Submission?›, fragte sie.

‹Keine Ahnung›, sagte er. ‹Welche Plattenfirma?›»

Sicher ist: Popmusik war der Nabel der Welt, und nach mehreren Nächten, die unter Einbezug von allerhand Substanzen in Konzertlokalen und abgerockten Privathaushalten überstanden worden waren, geriet den Schreibenden des «NME» ein kleiner Hirnschwurbel schon mal zum grossen Rundumschlag oder zu einer Lobeshymne, die einen Popsong zur letzten Wahrheit hochstilisierte. In der Folge waren Handgreiflichkeiten in den Büros und schriftliche Fehden, die sich über mehrere Ausgaben hinzogen, keine Seltenheit – zum grossen Gaudi der LeserInnen. Die Tränchen über die Einstellung der Printausgabe gelten also weniger der Zeitung als der Zeit der wilden Unbeschwertheit.

Seither wurde der «New Musical Express» noch in vielen Songs mehr oder weniger charmant erwähnt. Zuletzt ausgerechnet von Ed Sheeran: «I’ve never had an enemy except the ‹NME› / But I’ll be selling twice as many copies as their magazine will ever be.» Der Junge hat natürlich recht, denn the times they’ve been a-changin’ a hell of a fucking lot seit den glorreichen Zeiten des Pop und seines Journalismus.