Empörungsspirale: Eine neue Dimension
Die Polizei veröffentlicht Ende März das Video einer Schlägerei zwischen Fussballultras mitten in Zürich. Die Onlinemedien verlinken es euphorisch. Psychologen werden bemüht, die Medien sind «ratlos», «betroffen» und «schockiert».
Vermummte Männer, Ultras des FC Zürich, stürmen eine Treppe beim Bahnhof Hardbrücke hoch, stürmen am Prime Tower vorbei, drängen ihre Gegner zurück, die Ultras der Grasshoppers. Ein vermummter Angegriffener schmeisst eine Bierdose in die heranstürmende Gruppe. Will mit einem zweiten Mann in den Prime Tower flüchten.
Das Konzept der Drehtür kennt keine Eile. Er wird zurückgezogen, rein in den Pulk seiner Feinde, die ihn mit Faustschlägen und Fusstritten bearbeiten. Ein Sicherheitsmann geht dazwischen. Ein anderer Vermummter sprintet wie ein Footballspieler durch den Mob seiner Gegner. Im letzten Moment, bevor er dem Sichtfeld der Kameras entschwindet, rammt ihn einer mit einem frontalen Bodycheck zu Boden, traktiert ihn mit zwei Faustschlägen. Der andere bleibt bewusstlos liegen. Einer kommt hinzu, verpasst dem wehrlosen Mann einen Tritt gegen den Kopf. Wird einer zu Boden geschlagen, weichen die anderen Angreifer sofort zurück, konzentrieren sich auf andere Gegner. Irgendwann gehen die GC-Leute, bewaffnet mit Flaschen und Stühlen, zum Gegenangriff über.
Eine routiniert wirkende Schlägerei von zwei verfeindeten Gruppen, die sich in dieser Stadt seit Anfang der achtziger Jahre bekämpfen: gewaltsuchende Anhänger des FC Zürich und des Grasshopper Clubs Zürich. Sie formierten sich Anfang der achtziger Jahre unter Namen wie «City Boys» oder «Hardturmfront» erstmals, inspiriert von den Hooligans in England und Deutschland, die damals vornehmlich rechtsradikal waren.
Keine Gewalt gegen Unbeteiligte
«Eine neue Dimension der Gewalt», schrieb der «Tages-Anzeiger» nach der Veröffentlichung des jüngsten Videos, der Staatsanwalt sprach davon, es werde bald den ersten Toten geben. Früher hätten die Hooligans einen «gewissen Kodex» befolgt.
Tatsächlich könnte man wohl eher bei diesen Videobildern von einem «gewissen Kodex» sprechen. Im Gegensatz zu den brutalen Attacken von Hooligans gegen Unbeteiligte in der Vergangenheit – zum Beispiel 1985, als es in Belgien im Heysel-Stadion 39 Tote gab. Auf dem Video, das die Staatsanwaltschaft jetzt veröffentlicht hat, kann man sehen, wie sich Passanten unbehelligt durch die Schlägerei drängeln: Es kämpft ein Mob gegen einen anderen Mob.
Auch das ist keine «neue Dimension»: Das war schon vor einigen Jahren so, als ich bei meinen Recherchen zu einer grossen Reportage* Videos aufmerksam studierte: minutenlange Schlachten vor den Eingängen der Stadien Letzigrund oder Hardturm zwischen verfeindeten Zürcher Anhängern. Keine Unbeteiligten. Damals, bei einer Derbyschlägerei, war minutenlang auch keine Polizei zu sehen (was heute kaum mehr möglich wäre). Fliegende Fäuste und Absperrgitter. Schonungslose Gewalt. Das Klatschen, wenn Fäuste Gesichter treffen. Wirklich neu daran ist, dass die Staatsanwaltschaft solche Aufnahmen ins Netz stellt. Offenbar ist man dort der Meinung, ohne neuen politischen Druck der Problematik nicht beizukommen, weil diese Schlägereien nicht zu Anzeigen führen (dass vor zehn Jahren mit dem damals als Allerheilmittel angepriesenen sogenannten Hooligangesetz die Gesetze bereits massiv verschärft wurden, scheint bereits wieder vergessen). Ganz am Ende des veröffentlichten Videos, als sich die Angreifer des FC Zürich zurückziehen, tauchen einige GC-Ultras am unteren Bildrand auf und ziehen einen ihrer bewusstlos geschlagenen Kollegen aus dem Bild, entziehen ihn dem Zugriff der herannahenden Polizei, die später gegenüber der Presse von einem «Schweigekodex» spricht.
Accessoires für Journalisten
Nach der Veröffentlichung des Videos zog der «Tages-Anzeiger» einen Psychologen zurate. Die Bilder würden deshalb so betroffen machen, weil sie durch den Schauplatz Prime Tower nahe an der eigenen Realität der BetrachterInnen seien, sagte er. Der Staatsanwalt sprach von einer «Verrohung der Gesellschaft».
Gewalt in den Schluchten einer Retortenstadt: Anthony Burgess hat es in «Uhrwerk Orange» beschrieben, die Specials haben es im Stück «Ghost Town» besungen, der Journalist Bill Buford recherchierte acht Jahre lang für seinen Hooliganismusklassiker «Geil auf Gewalt». Hängen geblieben scheint einzig die bei Buford beschriebene Strassenästhetik, Fred Perrys Hooliganmode, auch als Accessoire für Werber oder Medienschaffende.
Neu ist der Zugang zu Subkulturen: Er geschieht vor allem vom Bürosessel aus. Oder man schaut für eine Kurzreportage rasch ein, zwei Stunden vorbei und vergewissert sich aus sicherer Distanz der eigenen Empörung. Der Chefredaktor von «Watson» verglich nach der Veröffentlichung des Videos alles mit allem: die Schlägerei der beiden Ultragruppen mit einer Protestaktion von Fussballfans gegen eine menschenverachtende «Blick»-Kampagne vor ein paar Jahren und mit den Taten islamistischer Extremisten. Er forderte den Staatsanwalt zum Durchhalten auf, als wären dem Mann die Hände gebunden, als wäre die Empörung in den Medien nicht eh schon riesig. Mit aufklärerischem Journalismus hat das jedenfalls nichts mehr zu tun. Die Medien fungieren in diesem Zusammenhang als Brandbeschleuniger und lassen sich als Fahndungsgehilfen der Behörden einbinden, indem sie das Video in ihre «Berichterstattung» einbetten. Diese Schlägerei mitten im wirtschaftlichen Machtzentrum korrumpiert die Sprache, entblösst die Ahnungslosigkeit. Wer? Was? Warum? Alles unscharf.
Zwölf Jahre nach dem 13. Mai 2006, als der FC Zürich in Basel in letzter Sekunde Schweizer Meister wurde und Fans aus der Basler Muttenzerkurve vor laufenden Kameras den Platz stürmten, besuchen JournalistInnen auf ReporterInnenmission nach wie vor Fussballkurven, als gingen sie in den Zoo. Und berichten wichtigtuerisch – wie vor ein paar Wochen geschehen –, dass man sie für Polizisten in Zivil gehalten habe. Dabei ist das vermutlich Teil des Problems der herrschenden Ahnungslosigkeit, der Einseitigkeit: Wo sind eigentlich die JournalistInnen, die für Hooligans gehalten werden?
Wer aber zum Beispiel Berichte über Subkulturen lesen will, die sich nicht an Recht und Ordnung orientieren, Geschichten, die mit demselben langen Atem, derselben Beharrlichkeit und demselben Grundrespekt recherchiert sind, mit derselben Präzision, Fairness und Schonungslosigkeit beobachtet und aufgeschrieben, mit denen die meisten JournalistInnen Recht und Ordnung begegnen, ohne einen Von-oben-herab-Blick, ohne reflexhafte Distanzierung und automatisierte PolizeireporterInnenlogik, der braucht die Schweizer Medien im Moment nicht zu konsumieren. Sprachlosigkeit und Dauerempörung sind, was geblieben ist. Und das ist eine Tragödie. Denn diese Stadt oder dieses Land besteht nicht nur aus gesetzestreuen NormalbürgerInnen.
Die grösste Subkultur
Gibt es in dieser Stadt nicht noch andere JournalistInnen, die Fussballultras zu ihren Bekannten zählen? Aber wenn ich Medien konsumiere, entdecke ich nur Fassungslosigkeit, Empörung, Verständnislosigkeit, ein wutbürgerliches Grundrauschen in den Kommentarspalten, Rufe nach totaler Sauberkeit, nach der Verwirklichung einer Welt ohne Brüche und Widersprüche.
Aber diese Leute, Ultras, die ich zu meinen Bekannten zähle, würden in meiner Funktion als Journalist nicht mit mir reden. Weil sie der Meinung sind, dass sie dadurch nur verlieren können. Der Zugang zu Quellen, die wirklich wissen, wovon sie reden, gestaltet sich heute als extrem schwierig. Das ist nicht verwunderlich: Wo Fans, die als Teil der grössten Subkultur dieses Landes in den Stadien Feuerwerk zünden, von der Justiz für ihr Handeln im Internet ausgestellt werden, und wo dieses fragwürdige Vorgehen der Behörden von den Medien meist unkritisch multipliziert wird, werden JournalistInnen nicht mehr als AufklärerInnen mit offenem Blick nach allen Seiten wahrgenommen, sondern als Teil des verhassten Systems. Und so verengt sich der Blick auf die Welt, die beschrieben werden sollte. Und damit auch der Blick auf die Gesellschaft als Ganzes.
Konstante Empörung
Es passiert nicht zum ersten Mal eine solche Massenschlägerei, und doch hat niemand nur den Ansatz einer Erklärung. Die einzige Konstante ist die Empörung auf allen Kanälen. Dabei ist das ja keine Welt, die weit entfernt liegt: Bei den Dutzenden Fussballspielen, die ich selbst im Letzigrund erlebt habe, wäre es schlicht gelogen, ich könne es nicht nachvollziehen. Das Adrenalin. Den Rausch. Den Kick. Selbst die Verachtung des Derbygegners in dieser zugrunde gerichteten Derbystadt – mit dem Abriss eines Fussballstadions auf Vorrat –, die unter den jungen Anhängern seit Jahrzehnten immer wieder punktuell eskaliert.
Als Folge der sportlichen Erfolge in den nuller Jahren scheinen jetzt die gewaltbereiten Fans des FC Zürich zahlenmässig im Vorteil zu sein. Vor fünfzehn Jahren waren es die Hooligans der Hardturmfront, die mit ihren Springerstiefeln am Albisriederplatz Anhängern des FC Zürich gegen Köpfe traten. Aber GC hat auf allen Ebenen bessere Zeiten gesehen. Und dort, an der Ausfallstrasse in Zürich West, wo einst der Hardturm stand, Heimstätte des Rekordmeisters, züchten jetzt Biomenschen Pflanzen und Blumen, und manchmal veranstaltet die Kunstschule tagsüber einen Rave, und einer trommelt auf Bongos. Am Tag, als der Hardturmneubau vom Stimmvolk abgelehnt wurde, entlud sich die Wut von Hooligans über den Entscheid auf dem Hardturmareal. Einer gärtnernden Freundin von mir, die sich von einer heranstürmenden Gruppe Vermummter nicht wegjagen lassen wollte, warf ein Vermummter einen Pflasterstein ans Bein. Zwanzig Vermummte demolierten ein Gartenhäuschen. Es begann zu regnen. Die Männer zogen wieder ab.
Härte als Ausdruck von Hilflosigkeit
Diese Stadt ist voll von «anderen» – von Menschen, die vielleicht nichts tun, ausser lange zu schlafen, von Leuten, die das Sozialamt bescheissen, von solchen, die laut mit der Luft schimpfen, von KneipenschlägerInnen, Prostituierten, Hooligans, SprayerInnen, HausbesetzerInnen, Illegalisierten, Kleinkriminellen; voll von Leuten, die sich absichtlich oder unabsichtlich Ärger mit dem Gesetz einhandeln, von Leuten, die, aus welchen Gründen auch immer, manchmal nicht klarkommen mit dem Leben.
Aber all das schieben wir weg von uns. Denunzieren es. Prangern es an. Wollen nichts mit irgendwas zu tun haben, was die allgemeine Ruhe stört. Wir wollen auch gar nicht wirklich wissen, was sich manifestiert. Ein offener Blick könnte als Verständnis ausgelegt werden und Verständnis als Schwäche, und schwach will niemand sein in Zeiten von Dauerrufen nach mehr Härte. Eine Härte, die nicht viel anderes ist als der Ausdruck einer Hilflosigkeit. Denn die Phänomene werden nicht verschwinden, egal wie hart wir uns geben. Egal wie sehr wir sie verdrängen, sie werden weiterhin in unseren immer reglementierteren und engmaschigeren Alltag einschlagen. Zum Beispiel mit einem Video. Je empörter wir reagieren, um uns zu versichern, dass wir die Guten sind, desto weniger verstehen wir, was passiert. Desto heftiger erschüttern uns die Einschläge.
* Daniel Ryser: «Feld-Wald-Wiese. Hooligans in Zürich». Echtzeit Verlag. Basel 2010. Das Buch ist auch im WOZ-Shop erhältlich.