Invalidenversicherung: Die dreiste Integrationslüge
Eingliederung vor Rente: So lautet der Slogan der Invalidenversicherung. Was gut klingt, führt in der Praxis zu immer mehr Druck auf kranke Menschen. Nun wollen rechte Sozialpolitiker allen psychisch Kranken unter dreissig die Rente verweigern.
Einer wie Niklas Baer kommt den rechten SozialpolitikerInnen im Bundeshaus gerade sehr gelegen: Der Psychologe von der Psychiatrie Baselland kritisiert öfter die mangelnde Arbeitsmarktintegration von jungen Menschen mit psychischen Problemen. Baers Grundanalyse kann kein vernünftiger Mensch widersprechen: Man müsse die jungen Erwachsenen viel länger und intensiver begleiten, sagt er am Telefon. «Heute unterstützt man junge Menschen mit psychischen Problemen bei ein, zwei Integrationsversuchen, danach gibt man sie auf. Bei der grossen Gruppe der jungen Versicherten mit einer Schizophrenie vergehen zwischen IV-Anmeldung und Berentung gerade zwei Jahre. Ich plädiere dafür, dass man die Betroffenen mindestens bis dreissig intensiv bei der Arbeitsintegration unterstützt und erst danach einen Rentenentscheid fällt.» Baer will den jungen Betroffenen aber nicht grundsätzlich die Rente verweigern. «Es gibt natürlich Fälle, in denen Integrationsmassnahmen nicht möglich sind und eine IV-Rente die einzige Lösung ist.»
Diese Woche trifft sich in Bern die sozialpolitische Kommission des Nationalrats (SGK), um Alain Bersets Vorlage zur «Weiterentwicklung der IV» zu beraten. Die rechte Kommissionsmehrheit bezieht sich gerne auf den Fachmann Niklas Baer. Doch offenbar hat sie ihm nicht richtig zugehört: Sie plant in der laufenden IV-Revision einen tiefgreifenderen Einschnitt, als ihn Baer fordert: Unter Dreissigjährige sollen nur noch eine IV-Rente erhalten, wenn ein Geburtsgebrechen oder ein schweres körperliches Leiden vorliegt, psychisch Kranken soll der Anspruch komplett gestrichen werden. Die Kommission tagt noch diese Woche. Bis dahin erwartet sie vom Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) einen Bericht zu den Auswirkungen des Mindestalters sowie Vorschläge für konkrete Gesetzesformulierungen.
Damit droht die laufende IV-Revision zu einer weiteren Sparvorlage zu verkommen. Aber nicht nur das: Die Forderung zeugt von einem tiefen Misstrauen gegenüber psychisch Kranken. SP-Sozialpolitikerin Silvia Schenker sagt: «Es setzt sich in der Politik zunehmend die Auffassung durch, dass psychisch Kranke ihre Situation mit etwas gutem Willen ändern könnten. Ganz nach dem Motto: Die sind doch einfach etwas faul. Dagegen wehre ich mich dezidiert.»
Verschärfung! Abwehr! Sparen!
Unter dem Druck des Rechtsrutschs wurde die Sozialversicherungspolitik in den vergangenen Jahren zunehmend zu einer Politik der Abwehr. Davon zeugen auch die neusten Zahlen, die das BSV Anfang dieser Woche publiziert hat (vgl. «Massiv! Überwiegend! Korrekt!» ). Einmal mehr vermeldet das Amt einen «Erfolg»: stabile Zahlen auf tiefem Niveau. Anfang 2018 wurden in der Schweiz Invalidenrenten im Umfang von gut 217 000 Vollrenten bezogen, ähnlich viele wie im Vorjahr. Der Bestand hat damit seit 2006 um gut 38 000 dieser sogenannten gewichteten Renten abgenommen – obwohl die Bevölkerung in dieser Zeit um eine Million gewachsen ist.
Mit den abgeschlossenen IV-Revisionen 4, 5 und 6a hatte das Parlament der IV den Auftrag erteilt, elf Milliarden Schulden bei der AHV abzubezahlen. Unter dem Spardruck hat sich die Invalidenversicherung ein neues Image verpasst. «Wir haben uns zu einer Eingliederungsversicherung gewandelt», sagt Corinne Zbären-Lutz, stellvertretende Geschäftsfeldleiterin IV. Tatsächlich hat die IV in den vergangenen Jahren ihre Eingliederungsbemühungen erheblich verstärkt. Gleichzeitig kamen jedoch zahlreiche Verschärfungen. So wurden etwa die versicherungsmedizinischen Abklärungsstellen laufend ausgebaut. «Wir klären heute stärker ab», sagt Zbären-Lutz.
Auch die Rechtsprechung verschärfte sich: Seit einem Bundesgerichtsentscheid aus dem Jahr 2004 hatten PatientInnen mit einem sogenannten somatoformen, also psychisch verursachten Schmerzleiden faktisch keinen Zugang mehr zu einer IV-Rente. Mit der IV-Revision 6a beauftragte das Parlament die IV dann, auch die laufenden Renten von Betroffenen zu überprüfen. Auch Depressionskranken wurde nach mehreren vom Bundesgericht gestützten Praxisverschärfungen der Zugang zu einer IV-Rente faktisch verunmöglicht. Das Bundesgericht ist inzwischen zwar zurückgekrebst, der Schaden aber ist angerichtet. «Betroffene haben natürlich das Recht, einen neuen Antrag zu stellen», sagt Zbären-Lutz. «Grundsätzlich gilt aber die Rechtsprechung zum Zeitpunkt des Entscheids.»
Zahlen dazu hat das BSV nicht parat. Lieber unterstreicht man mit einem Monitoring den Erfolg bei der Arbeitsmarkteingliederung. 2017 profitierten gut 40 000 GesuchstellerInnen und IV-RentnerInnen von Eingliederungsmassnahmen. Das sind viermal mehr als noch 2008. Der langfristige Erfolg der Massnahmen ist nur schwer messbar. Gemäss dem aktuellen Monitoring des BSV waren ein Jahr nach den Massnahmen 28 Prozent der TeilnehmerInnen erfolgreich eingegliedert (mit einem Einkommen über 3000 Franken), nach vier Jahren sank die Zahl nur leicht. Ob die Berufseingliederung jedoch mit den IV-Massnahmen zusammenhängt, ist nicht klar. «Dazu müssten wir aufwendig jeden Einzelfall verfolgen», sagt Zbären-Lutz. «Wir können aber nur ein Abbild der gesamten Situation machen, das erlaubt keine eindeutige Aussage.» Klar ist: Zahlreiche Menschen erhalten nach der Abklärungsmühle weder eine Rente noch einen Job, sondern die versicherungsmedizinische Diagnose, dass ihre Krankheit nicht rentenbildend sei.
«Eingliederung vor Rente ist im Grundsatz richtig», sagt Silvia Schenker. Daraus dürfe aber nicht das Ziel abgeleitet werden, möglichst viele aus der IV zu drängen. «Das Problem ist nicht der Anreiz der IV, sondern die Situation auf dem Arbeitsmarkt: Das Gros der Menschen will arbeiten, aber es gibt keine Verpflichtungen für Unternehmen, entsprechende Stellen zu schaffen.» Die Städte beklagen seit langem, die schärfere Praxis bei der IV führe lediglich zu einem Anstieg bei den anderen Sozialversicherungen. Davon, dass die Folgen gravierend sind, zeugt etwa die steigende Quote von IV-Rentenbeziehenden, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind (von 28 Prozent 2003 auf 42,5 Prozent 2015).
Das Drama des sozialen Todes
Doris Brühlmeier Rosenthal spricht von sozialem Tod. «Das Drama ist grösser, als ich gemeint hatte», sagt die Psychiaterin, die in der Zürcher Agglomerationsgemeinde Schlieren eine Praxis betreibt. Ihre Erkenntnis zieht Brühlmeier aus einer Studie, die sie vor zwei Jahren durchführte – ohne wissenschaftlichen Anspruch, wie sie selbst einräumt. Immerhin aber hat die Therapeutin rund fünfzig BerufskollegInnen befragt. Brühlmeier Rosenthal wollte wissen, ob sie ihre Beobachtung bestätigen würden. Die KollegInnen meldeten 177 Fälle: alles PatientInnen, die gemäss ihren eigenen Gutachten psychisch stark angeschlagen sind, denen die IV aber entweder keine Rente zusprach – oder diese nach Jahren wieder aufhob.
Die Ergebnisse der kleinen Studie sind bemerkenswert: Das Gros der betroffenen Personen rutschte nach dem Negativentscheid in die Sozialhilfe. Bei den PatientInnen, denen der Rentenanspruch nach Jahren aberkannt wurde (43 Personen), waren es 93 Prozent. Bei den restlichen 134 PatientInnen, die von Beginn weg keine Rente zugesprochen bekamen, 60 Prozent. «Da wird ein riesiges Elend angerichtet», sagt die Psychotherapeutin. «Die Menschen verarmen, das verstärkt ihre psychischen Probleme, sie brauchen mehr Therapie.» Brühlmeier Rosenthal plädiert für einen Paradigmenwechsel. Die herrschende Auffassung, dass weniger IV-Renten zu Einsparungen führten, sei grundlegend falsch, sagt sie. «Es ist genau umgekehrt: Teilrenten wirken sich stabilisierend auf meine Patientinnen und Patienten aus, die allermeisten haben eine Arbeit, sie verursachen weniger Kosten für die Krankenkassen.»
Gegen die Verdachtshaltung
Wie Niklas Baer fordert auch Brühlmeier Rosenthal eine bessere Integration von psychisch Kranken unter dreissig. Es brauche mehr von allem, sagt sie. Mehr geschützte Arbeitsplätze, eine längere Bezahlung von Taggeldern, ausgedehntere Integrationsversuche, aber auch eine rechtzeitige Rentensprechung. Brühlmeier Rosenthal wehrt sich vehement gegen die Verdachtshaltung, die die rechte Mehrheit der nationalrätlichen Kommission gegenüber den Betroffenen einnimmt. Dass die Rentenquote bei den unter Dreissigjährigen als einziger Gruppe ansteige, dürfe nicht zu ihrer Diskriminierung führen. «Es ist wissenschaftlich erhärtet, dass gerade gewisse psychische Erkrankungen wie Schizophrenie vor dem 30. Lebensjahr gehäuft auftreten», sagt die Therapeutin. «Diese Tatsache löst man nicht mit Verschärfungen auf.»