Literatur: Der Kommunismus als Fieberwahn
Es sagt eigentlich alles über den Charakter des sowjetischen Sozialismus, dass die grossen Romane der postrevolutionären Zeit dort nicht erscheinen durften. Anatoli Rybakow kämpfte mehr als zwanzig Jahre, bis sein Roman «Kinder vom Arbat» 1987 endlich verlegt wurde. Boris Pasternaks «Doktor Schiwago» wurde vom italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli ausser Landes geschmuggelt, und Michail Bulgakows «Der Meister und Margarita» lag 25 Jahre in einer Schublade.
Das trifft auch auf Andrej Platonows grossartigen Roman «Tschewengur» aus den späten 1920er Jahren zu, der heute als Meilenstein russischer Literatur gilt. Erzählt wird von der Errichtung des Kommunismus in der kleinen südrussischen Ortschaft Tschewengur. Platonow war zwar als Bolschewist aktiv an der Revolution beteiligt, dennoch gleicht der Kommunismus bei ihm eher einem Fieberwahn. Wie die Jünger einer religiösen Sekte versuchen die Revolutionäre, die neue Welt zu errichten. Die Leute in der Stadt haben keine Beschäftigung mehr, nur «die einzigartige Sonne arbeitete noch, die zum Weltproletarier erklärt worden war». Häuser werden verrückt, Gärten «auf Händen fortgeschleppt». Auf den Höfen ermordeter Grossbauern siedelt man Hungerflüchtlinge an, die nur als «die Übrigen» bezeichnet werden.
Christliche Mystik, die Sprache bäuerlicher Landarmut und bürokratische Verlautbarungsprosa vermischen sich und erzeugen eine rätselhafte Atmosphäre. Ein Roman, so skurril wie ein windschiefes Gebäude: Maschinen, die leben, eine Natur, die handelt, Personen, deren Motive man nicht versteht. Doch eigenartigerweise bleibt Platonows Prosa dabei extrem körperlich und sinnlich. Dieselben Revolutionäre, die mit grosser Gefühlskälte töten, werden vom Verlangen getrieben, zusammen zu sein, sich im Schlaf aneinanderzuklammern. Ästhetisch war der Roman seiner Zeit um Jahrzehnte voraus. Von Renate Reschke fantastisch übersetzt, ist «Tschewengur» eine ernsthafte, politische Auseinandersetzung mit der Revolution in einer extrem religiösen bäuerlichen Gesellschaft.
Andrej Platonow: Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen. Roman. Aus dem Russischen von Renate Reschke. Suhrkamp Verlag. Berlin 2018. 582 Seiten. 47 Franken