Migration: Solidarische Delikte in den Alpen

Nr. 23 –

Die einen unterstützen Geflüchtete auf dem beschwerlichen Weg durch die Berge, die anderen sind gekommen, um Grenzschutz zu spielen. Die staatliche Repression trifft aber nur die HelferInnen. Was geht in den französischen Alpen vor sich?

Théo und Bastien winken, als sie zwischen den Reihen von PolizistInnen in Kampfmontur hervortreten. Die beiden Aktivisten aus Genf, 24 und 26 Jahre alt, werden vor dem Palais de Justice in Gap mit Applaus und Sprechchören begrüsst. Mehrere Hundert MitstreiterInnen, Freunde und Studienkolleginnen haben sich auf dem Vorplatz des Gerichts versammelt, um den Prozess gegen die «drei von Briançon» – neben Théo und Bastien auch Eleonora, eine 27-jährige Italienerin – mitzuverfolgen.

Mutmasslich haben die drei AktivistInnen an einer Solidaritätsdemonstration für Geflüchtete über die italienische Grenze bis in die französische Alpenstadt Briançon teilgenommen. Ihnen drohen je bis zu zehn Jahre Gefängnis, 750 000 Euro Busse und ein Einreiseverbot in Frankreich. Sie sind angeklagt wegen «bandenmässig organisierter Beihilfe zur illegalen Einreise».

Achtzigjähriges Gesetz

«Solidaritätsdelikt» nennen KritikerInnen diesen Straftatbestand, der die Unterstützung von Geflüchteten in Frankreich kriminalisiert. 1938 wurde er als Teil des Ausländer- und Asylgesetzes erlassen und nach dem Zweiten Weltkrieg unverändert übernommen. Der Artikel verbietet neben der «Beihilfe zur illegalen Einreise» auch den Transport und die Unterstützung beim «unerlaubten Aufenthalt illegaler Personen» innerhalb Frankreichs. So wurden 2009 in Calais AktivistInnen festgenommen, weil sie das Smartphone eines Geflüchteten aufgeladen oder Sprachkurse organisiert hatten. Oder 2016 ein Lehrer in Nizza, der drei verletzte Eritreerinnen ins Krankenhaus nach Marseille gefahren hatte. Insbesondere der Fall von Cédric Herrou hat in den letzten Jahren für mediale Aufmerksamkeit gesorgt: Der bald vierzigjährige Olivenbauer wurde mehrmals festgenommen, weil er Geflüchtete unterstützt und beherbergt hatte. Sein Fall liegt derzeit beim Verfassungsgericht. «Dieses Gesetz wurde in der Vorkriegszeit erfunden», sagte Henri Leclerc, einer der AnwältInnen der «drei von Briançon» in den Gerichtsverhandlungen in Gap. «In einer Zeit, die als ausländerfeindliche und antisemitische Epoche bekannt ist.»

Gap ist die Hauptstadt des französischen Départements Hautes-Alpes. Eineinhalb Autostunden von Gap entfernt liegt das Alpenstädtchen Briançon, mit gut 12 000 EinwohnerInnen und rund 1300 Metern über Meer die letzte französische Gemeinde vor der italienischen Grenze. Weil weiter südlich bei Nizza die grüne Grenze abgeriegelt wurde, kommen seit knapp einem Jahr zahlreiche Geflüchtete von Turin über Claviere nach Briançon. Zu Fuss, in tage- und nächtelangen Märschen über Alpenpässe, auf denen noch immer Schnee liegt. Werden sie von der Grenzpolizei aufgegriffen, schickt sie die Gendarmerie ausnahmslos zurück.

Doch Briançon zeigt sich solidarisch mit den Geflüchteten. Italienische und französische AktivistInnen tauschen sich darüber aus, wie viele Leute sich jeweils auf den Weg gemacht haben, um die Grenze zu überqueren. Regelmässig fahren HelferInnen den Alpenpass ab, um nach vermissten Personen zu suchen und sie sicher nach Briançon zu bringen.

Staatliche Flüchtlingsunterkünfte gibt es in der Alpenstadt nicht. AktivistInnen haben gemeinsam mit Geflüchteten zwei leer stehende Häuser renoviert und eingerichtet, um den Neuankommenden dort warme Betten, Mahlzeiten und Erste Hilfe anzubieten. Eines davon ist das «Refuge solidaire»: Es liegt mitten in Briançon, in einem ehemaligen Gebäude der CRS, der französischen Bereitschaftspolizei. Die Hauswand ziert das Bild einer in die Luft gereckten Faust, dahinter ein kaputter Stacheldraht.

Einfall der Identitären

Vor dem Eingang stehen junge Männer und rauchen. Drinnen spielen Kinder am Küchentisch. «Die Polizei und die Behörden tolerieren uns», sagt die 23-jährige Pauline, die nebenan in einem Büro sitzt. Sie ist aufgebracht und redet schnell: «Man kann die Leute ja nicht auf der Strasse schlafen lassen. Das ist unmenschlich.» Seit das «Refuge solidaire» vor einem knappen Jahr geöffnet hat, beherbergte die Unterkunft bereits über 3000 Personen.

Heute helfen im Haus zwischen 100 und 200 UnterstützerInnen ehrenamtlich mit, doch insgesamt schätzt Pauline, dass gut 400 Personen regelmässig Lebensmittel, Kleidung und Hygieneartikel vorbeibringen. Finanzielle Unterstützung von offizieller Seite erhält das Projekt hingegen keine. «Wir machen hier eigentlich die Arbeit des Staats», sagt Pauline. «Aber niemand kann uns sagen, ob wir dafür morgen oder in ein oder zwei Jahren ins Gefängnis kommen.»

Vor sechs Wochen geriet die beschauliche Stadt mit einem Schlag in die internationale Presse, als die rechtsextreme Génération Identitaire eine PR-Aktion in den französischen Alpen startete. Nachdem die Gruppe im Sommer 2017 unter dem Slogan «Defend Europe» ein Schiff gechartert hatte, um Flüchtlingsboote an der Überfahrt über das Mittelmeer zu hindern, wollte sie diesmal eigenhändig die italienisch-französische Grenze schliessen.

Die Génération Identitaire wurde bereits 2003 in Frankreich gegründet. Inzwischen hat sie unter dem Namen Identitäre Bewegung Ableger in weiteren EU-Ländern, etwa in Deutschland und Österreich. Die Organisation will rechtsextremes Gedankengut hip vermarkten. Dafür lanciert sie online Hashtags und verbreitet professionell aufbereitete Bilder von ihren Aktionen. Diese sollen Grösse und Stärke demonstrieren und zugleich für einen möglichst grossen medialen Aufschrei sorgen. Weil die Gruppe «organisierten Hass» verbreite, liessen Facebook und Instagram erst letzte Woche zahlreiche Social-Media-Konten der Identitären sperren.

Um die Grenze bei Briançon vermeintlich zu schliessen, wanderten Ende April neunzig Identitäre auf den Alpenpass Col de l’Echelle, bauten Zelte und Zäune auf, mieteten Hubschrauber und Geländewagen. Sie breiteten ein überdimensionales Transparent aus, zündeten Pyros, posierten heroisch mit Fernglas auf dem Berggipfel. Noch immer würden sie gruppenweise in den Bergen bei Briançon patrouillieren, sagt Pauline. Dabei träten sie gewalttätig auf, erzählt sie, und lieferten Geflüchtete der Polizei aus.

Vom Bürgermeister von Briançon erhält man keine Antwort auf die Frage, ob die Identitären noch immer in den Bergen präsent seien. Seine Behörde schickt stattdessen mehrere Presseerklärungen, in einer heisst es: «Wir bitten die Vereine, die Freiwilligen und alle an der Notaufnahme von Migranten Beteiligten, nicht auf die Provokationen der Identitären zu antworten und auch nicht auf die widerliche Polemik, die von einigen Politikern zusätzlich angeheizt wird.»

Die AktivistInnen aus und um Briançon wollten die rechtsextreme Aktion aber nicht unbeantwortet lassen. Spontan mobilisierten sie Ende April für eine Gegendemonstration: von Italien über die Grenze bis nach Briançon. Geflüchtete sollten sich anschliessen können, um gemeinsam mit dem Umzug über die Grenze zu gelangen. Rund 200 Personen folgten dem Aufruf.

Drei Tote im Mai

Eine der DemonstrantInnen war Rebecca. Die 22-Jährige ist in Briançon aufgewachsen. «Die Demonstration ging durch die Polizeireihen nahe der Grenze hindurch», erzählt sie, «aber es blieb friedlich.» Der Umzug legte die elf Kilometer bis nach Briançon zurück. Dort aber habe die Polizei angefangen, DemonstrantInnen zu verhaften, sechs Personen insgesamt, drei davon AusländerInnen: Théo, Bastien und Eleonora. Wegen Fluchtgefahr kamen sie für rund drei Wochen in Untersuchungshaft. Anschliessend unterstanden sie strengen Auflagen mit Meldepflicht und Ausreisesperren. Es war ihnen auch verboten, sich auf Social Media oder gegenüber der Presse zu äussern. Wie viele weitere UnterstützerInnen ist Rebecca extra für den Prozesstag nach Gap gefahren. «Vielleicht gibt es in Briançon mehr Solidarität als anderswo, weil die Leute wissen, wie gefährlich die Berge sein können», sagt sie. Allein im Mai wurden im Umland des Städtchens die Leichen von drei Personen gefunden, die beim Versuch, über die Grenze zu gelangen, ums Leben gekommen waren.

Für die «drei von Briançon» entschied das Gericht letzte Woche in Gap, dass der Fall ans französische Verfassungsgericht in Lyon weitergeht. Bis dahin sind sie von allen Auflagen befreit und dürfen zurück nach Hause fahren. Für den Ausgang ihres Prozesses dürfte das Urteil im Fall von Olivenbauer Herrou ausschlaggebend sein, das im August erwartet wird.

Sämtliche AktivistInnen wollen nur mit Vornamen zitiert werden.

Nachtrag vom 12. Juli 2018 : Fraternité heisst Fluchthilfe

Cédric Herrou ist in Frankreich bekannt geworden, weil er mehrmals von der Polizei festgenommen worden ist. Sein Vergehen: Er soll mehr als 250 Geflüchteten geholfen haben, die italienisch-französische Grenze zu überqueren. Zudem habe der bald vierzigjährige Olivenbauer auf seiner Farm im Südosten Frankreichs Geflüchtete beherbergt.

Der Fall von Herrou landete beim französischen Verfassungsgericht, denn das Gesetz verbietet neben der «Beihilfe zur illegalen Einreise» auch den Transport und die Unterstützung beim «unerlaubten Aufenthalt illegaler Personen» innerhalb des Landes. Es drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von bis zu 30 000 Euro. Immer wieder wurden freiwillige HelferInnen wegen dieses sogenannten Solidaritätsdelikts verhaftet. So wurden 2009 in Calais AktivistInnen festgenommen, weil sie das Smartphone eines Geflüchteten aufgeladen oder Sprachkurse organisiert hatten, oder 2016 ein Lehrer in Nizza, der drei verletzte Eritreerinnen ins Krankenhaus nach Marseille gefahren hatte.

Am Freitag hat das Verfassungsgericht entschieden: Cédric Herrou ist nicht schuldig. Er habe dem Prinzip der «fraternité» entsprechend gehandelt – aus Brüderlichkeit, die als Teil des nationalen Wahlspruchs «liberté, égalité, fraternité» einen Grundwert der Verfassung darstelle.

Das Urteil im Fall Herrou könnte wegweisend sein. Denn Ende Mai hatte ein Gericht im Département Hautes-Alpes entschieden, dass der Fall dreier junger AktivistInnen ebenfalls vom Verfassungsgericht geprüft werden müsse. Die «drei von Briançon» sind angeklagt, an einer Demonstration mit MigrantInnen, die von Italien nach Frankreich führte, teilgenommen und damit «Fluchthilfe» geleistet zu haben.

Doch das Urteil des Verfassungsgerichts ist nur ein kleiner Lichtblick. Das Sterben an den Grenzen Europas geht weiter. Allein im Juni ertranken laut der Internationalen Organisation für Migration 629 Menschen im Mittelmeer. Die neue, stramm rechte Regierung Italiens blockiert die Schiffe der zivilen Seenotrettung. Währenddessen fordert der deutsche Innenminister Horst Seehofer strafrechtliche Konsequenzen für Rettungscrews.

Es war ohnehin schon zynisch, dass die europäische Politik das Retten von Menschenleben an freiwillige UnterstützerInnen ausgelagert hat. Wenn dann genau diese HelferInnen auch noch kriminalisiert werden, wähnt man sich tatsächlich am Ende jeglicher humanitären Geschwisterlichkeit.

Merièm Strupler