Von oben herab: Now that they’re gone

Nr. 1 –

Stefan Gärtner über plausible Briten und Britinnen

Also die Geschichte beginnt damit, dass in Grossbritannien eine Mutation des Coronavirus auffällig wird, woraufhin die Schweiz den Flugverkehr zwischen beiden Ländern stoppt und Briten und Britinnen, die etwa zum Skifahren im Land sind, in Quarantäne steckt. Nach der ersten Quarantänenacht sollen dann 200 britische Gäste aus Verbier geflohen sein; die Nachricht geht um die Welt; und dann ist die Nachricht plötzlich, die Nachricht sei falsch, jedenfalls weiss niemand, wo denn 200 Leute einfach so abbleiben können über Nacht. «Den Plausibilitätstest besteht die These des Exodus nicht», schreibt schadenfroh die «NZZ am Sonntag». «Aus Sicht von Polizei und Tourismusdirektor gab es ihn nicht. (…) Bisher habe sich keiner über unbezahlte Rechnungen beklagt. Ähnlich tönt es bei drei Skischulen. Eine Skilehrerin erzählt von einem Briten, der sich abgemeldet habe.»

Die Zeitungen, schrieb schon Schopenhauer, seien eine Lügenveranstaltung, aber der hatte ja auch nicht immer recht, etwa was «die Weiber» betrifft. Zwar sind 200 Briten und Britinnen nicht abgängig, aber anwesend scheinen sie ja auch nicht zu sein, andernfalls die NZZ keinen Plausibilitätstest hätte anstellen müssen. Waren sie vielleicht gar nie da? Denn (Plausibilitätstest!): Was machen Briten (m/w), wenn sie damit rechnen müssen, dass im Urlaub keine Beiz offen hat? Doch wohl gar nicht erst losfahren!

Gelegenheit, mich an einen Schweizer Kumpel von früher zu erinnern, der weder Ruedi noch Widmer hiess und stets sehr abfällig über Angehörige des als exzentrisch geltenden Inselvolks sprach: Dies seien allesamt Dummköpfe und Säuferinnen, sonnen- und hirnverbrannter Abschaum aus der Krachmacherstrasse, gerade im Auslandsurlaub. Er hat dann trotzdem in London einen Doktor gemacht und ist heute in der Schweiz Gymnasiallehrer, wenn auch nicht für Englisch, das wäre ja sonderbar, wiewohl er es natürlich tadellos spricht. Ich stelle mir vor, wie M. reagieren würde, erführe er, dass die ehrwürdige BBC, die laut einem lokalen Skilehrer namens Griffiths die Ente losgeschickt haben soll («Der öffentlich-rechtliche Sender zeichne das Bild von Britinnen und Briten, die wegen des Brexits durch halb Europa gejagt würden», zitiert nach NZZ), für ein plötzliches Plus von 200 Personen verantwortlich zeichnet! So wie Banken aus dem Nichts Geld hervorzaubern, indem sie Kredite vergeben, gibt es jetzt Menschen, die es vorher nicht gab. Sie heissen vermutlich Steve, Judy, Kevin oder Melissa, lieben warmes Bier und Orangenmarmelade und überlegen sich jetzt, was sie mit ihrer überraschenden Existenz anfangen sollen.

Sie könnten in die Virenforschung gehen, da wird ja auch in Zukunft jede Hand gebraucht, oder die britische Zollabfertigung beschleunigen, jetzt, wo es wieder einer bedarf. In meinem Wohnort, von 1714 bis 1837 in Personalunion mit dem englischen Königshaus verbunden, fehlen Strassenreinigungskräfte und auch solche, die, mit der Statur britischer Dartmeister, Leute darauf hinweisen, dass es unangenehm werden kann, wenn sie ihre Köter alles vollscheissen lassen. Sie (die Neuen, nicht die Köter!) könnten sich in der Londoner Savile Row einen Anzug schneidern lassen, M. besuchen und sich, bei Earl Grey und Gurkensandwich, so gesittet benehmen, dass M. sein Generalurteil revidiert, oder bei Ruedi vorbeisehen und mit jemandem sprechen, der sich wirklich mit englischer Popmusik auskennt. Oder sie könnten nach Verbier fahren, alles richtig machen – und sich wieder zum Verschwinden bringen. «200 Briten bleiben in Schweizer Skiort unauffällig», das gibt es nicht; also als Tatsache vielleicht, aber nicht als Schlagzeile.

Mit dem Schnee in Verbier ist es ja vermutlich eh bald vorbei; denn der verschwindet zwar nicht über Nacht, ist aber dafür wirklich weg. Und zwar für immer.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.