Flüchtlingspolitik: Die utopische Kraft der Städte

Nr. 27 –

Während sich die europäischen Staaten immer weiter gegen Geflüchtete abschotten, wollen viele Städte Menschen direkt aufnehmen. Wird es konkret, stehen sie jedoch schnell vor hohen Hürden.

Die Stadt springt ein, wenn der Staat sich weigert: Einfahrt der «Aquarius» in Valencia mit 629 geretteten Flüchtlingen an Bord. Foto: Alamy

Ausgerechnet im Namen von Horst Seehofer verbreitete ein Berliner Kollektiv kürzlich eine zündende Idee: Deutschland werde eine «Seebrücke» einrichten und bis Ende 2019 alle Menschen aufnehmen, die im Mittelmeer in Seenot geraten sind. Freiwillig. «Unser christliches Menschenbild fordert uns auf, dort zu helfen, wo Hilfe nötig ist», wird der falsche Seehofer auf einer falschen Website des Innenministeriums zitiert, «mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.» Dass es sich bei der erfreulichen Nachricht um Satire handelt, wird schnell klar. Denn eine solch humanistische Position vertritt im politischen Mainstream Europas längst niemand mehr, schon gar nicht Horst Seehofer.

Stattdessen hat sich der Migrationsdiskurs innert weniger Jahre drastisch verschoben. Als «Menschenfleisch» bezeichnete etwa der neue italienische Innenminister Matteo Salvini Flüchtende auf dem Mittelmeer. Bei rhetorischen Verschärfungen allein bleibt es dabei längst nicht mehr: Diverse Mittelmeerstaaten verwehrten zivilen Rettungsschiffen zuletzt die Einfahrt in ihre Häfen, während andere Schiffe ihre Ankerplätze gar nicht erst verlassen dürfen. Seit die Seenotrettung in den nordafrikanischen Küstengewässern stillsteht, ist auch die Zahl der Ertrunkenen dramatisch angestiegen: Gemäss der Internationalen Organisation für Migration (IOM) haben allein seit Anfang Juni mehr als 700 Menschen ihre Flucht nicht überlebt. Während die WortführerInnen der europäischen Abschottungspolitik dieses Drama schulterzuckend in Kauf nehmen, muss sich der Kapitän eines Rettungsschiffs für sein humanitäres Handeln vor einem maltesischen Gericht rechtfertigen. «Was ist das für eine Welt, in der stärker gegen das Retten als gegen das Sterben vorgegangen wird?», fragte er am vergangenen Montag in Valletta.

Letztes Wort beim Ministerium

Mit ihrem medialen Störmanöver entlarven die Berliner AktivistInnen den Zynismus der Staaten – und verschaffen einer Haltung Gehör, die im rechten Getöse längst unterzugehen droht: der Forderung nach legalen Fluchtrouten. Vor allem dort, wo Migration seit jeher ein Teil der Lebensrealität ist – in den Städten –, lebt das Ansinnen jedoch fort, wird auch stets eine progressive Migrationspolitik formuliert. Entsprechend sind es auch die Städte, die sich vermehrt gegen die Migrationspolitik der Nationalstaaten auflehnen. «Angesichts der Blockade innerhalb der EU positionieren sich die europäischen Städte migrationspolitisch immer stärker», sagt die Juristin Helene Heuser vom deutschen Netzwerk Flüchtlingsforschung.

Die Intervention der Städte lässt sich an mehreren Beispielen aufzeigen. Als Matteo Salvini dem Rettungsschiff Aquarius mit 629 Personen an Bord kürzlich die Einfahrt in italienische Häfen untersagte, erklärten die BürgermeisterInnen mehrerer Städte – darunter jene Palermos und Neapels –, das Schiff einlaufen lassen zu wollen. Weil in den meisten europäischen Ländern allerdings das Innenministerium in solchen Fragen das letzte Wort hat und auch Salvini sein Veto einlegte, musste die «Aquarius» Tausende Kilometer weit ins spanische Valencia fahren. Die Stadt hatte von der neuen spanischen Regierung grünes Licht für die Aufnahme der Geflüchteten erhalten.

Wenige Tage später wurde auch der «Lifeline» und damit 234 Flüchtenden die Einfahrt in Italien und auf Malta verwehrt, worauf mehrere europäische Städte und deutsche Bundesländer ihre Unterstützung anboten: Berlin und Kiel etwa, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Dass daraus wenig mehr als eine solidarische Geste wurde, liegt an Horst Seehofer, der die Aufnahme verhinderte.

Das Beispiel Berlins, dem weitere Bundesländer folgten, sieht Katina Schubert als «wichtiges Signal gegen die Hartherzigkeit der deutschen Regierung». Die Berliner Landesvorsitzende der Linkspartei spricht deshalb von einem «Dominoeffekt». Es gehe vor allem darum, Druck aufzubauen und den Diskurs wieder nach links zu verschieben: «den Preis der Unmenschlichkeit in die Höhe zu treiben». Mithilfe ihrer Stiftung will die Linkspartei nun europaweit ein Netz aus solidarischen Städten aufbauen. Daraus soll dann eine wirkmächtige Opposition entstehen. Abklärungen dafür liefen gerade, so Schubert. Dass dies eher eine Mittelfristperspektive bleibt, weiss auch sie. «Natürlich braucht es jetzt Ad-hoc-Lösungen», gibt die Abgeordnete zu.

«Kommunaler Ungehorsam»

Weiter fortgeschritten ist die Debatte derweil in Barcelona. Die Stadt nahm deutlich mehr Geflüchtete auf, als die Regierung ihr zugewiesen hatte. Und nach einem Tauziehen zwischen Italien und Malta lief am Mittwoch das Schiff Open Arms mit sechzig Geflüchteten im Hafen der Mittelmeerstadt ein. «Unsere Bürgermeisterin erhielt dafür innert weniger Tage die Erlaubnis», sagt Stadtrat Ignasi Calbó, der das Flüchtlingsprogramm von Barcelona koordiniert. Wie Bürgermeisterin Ada Colau gehört er der linken basisdemokratischen Plattform Barcelona En Comú an, die vor drei Jahren die Gemeindewahlen gewann. «Eine ganze Reihe links regierter Städte haben Druck auf die Regierung ausgeübt, damit die Rettungsschiffe anlegen dürfen», so Calbó.

Weil die Ankünfte in Südspanien stark zugenommen hätten, sei Flucht und Migration gerade ein grosses Thema im Land. Auf staatlicher Ebene fehle es jedoch an Geld und Infrastruktur. «Und vor allem mangelt es an einer kohärenten Politik», kritisiert der Lokalpolitiker. Um dem entgegenzutreten, arbeite man in Barcelona eng mit den sozialen Bewegungen zusammen. Und man tausche sich mit anderen Städten aus: mit New York, Amsterdam oder Neapel. «Gerade jetzt ist Vernetzung wichtig», sagt Calbó. «Wenn die EU keine gemeinsame Politik macht, dann machen wir es eben als Städte. Wenn wir nicht kooperieren, dann macht es niemand.»

Auch Juristin Helene Heuser beobachtet eine immer engere Vernetzung zwischen den Städten. Bei Netzwerken wie Eurocities oder der Initiative Global Parliament of Mayors des kürzlich verstorbenen US-Politologen Benjamin Barber sei Migration zwar nur ein Thema von vielen, andere Verbünde seien hingegen speziell dafür gegründet worden: Solidarity City etwa oder die weniger radikale Initiative Solidarity Cities, an der auch die Stadt Zürich teilnimmt. «Je deutlicher sich die Städte äussern, desto mehr fallen sie auch auf nationalstaatlicher oder sogar auf EU-Ebene ins Gewicht», sagt Heuser.

Viele der Initiativen haben die gesellschaftliche Teilhabe von Geflüchteten zum Ziel; auch die Diskussion um Urban Citizenship – also Stadtbürgerschaften für alle, die an einem Ort leben – hat in Europa vielerorts Fahrt aufgenommen. Geht es hingegen um legale Wege nach Europa, stehen auch die rebellischen Städte schnell vor hohen Hürden, wie das Beispiel Italien zeigt. Die NGOs «können es vergessen, in einem italienischen Hafen anzulanden», hatte Innenminister Salvini verkündet. Aber kann die Regierung einfach über den Willen der Städte hinweg deren Häfen abriegeln?

Weil es zur Frage der Autonomie von Gemeinden in Sachen Migrationspolitik keine Präzedenzfälle gebe, sei die Rechtslage alles andere als klar, sagt Heuser. «Die Städte könnten durchaus ihre juristischen Spielräume ausloten.» Im Fall der Seenotrettung brechen Staaten internationales Recht, wenn sie die Schiffe nicht einlaufen lassen – und nicht die Städte, die Gerettete aufnehmen möchten. Auch mit den immer neuen Verschärfungen verletzen viele EU-Staaten die Rechte von Geflüchteten. In letzter Instanz könnten Städte deshalb mit den verbrieften Menschenrechten argumentieren.

«Kommunen könnten noch aufmüpfiger werden und sich offen über die Gesetze hinwegsetzen», findet Heuser. «Kommunaler Ungehorsam» nennt die Wissenschaftlerin eine solche Praxis. Sie glaubt, die aktuelle Blockade in der EU könnte zum Erweckungserlebnis für die Städte werden – und dazu beitragen, dass sie eine «Ethik der Gastfreundschaft» entwickeln, wie der französische Philosoph Jacques Derrida es einmal ausgedrückt habe.

Ein wegweisendes Treffen

Bisher sind praktisch alle Initiativen und Zusammenschlüsse der Städte mehr Utopie denn Realität. Der wohl konkreteste Vorschlag – wenn auch nur auf dem Papier – kam bislang von der deutschen Politologin Gesine Schwan: Sie schlägt einen «EU-Fonds» vor, in den die Länder Geld einzahlen, um das sich dann wiederum die Städte bewerben können. Diese finanzielle Unterstützung soll «Anreize schaffen» – und das Nein der Regierungen umgehen. Ob das funktionieren kann, will die ehemalige SPD-Bundespräsidentschaftskandidatin in einem Pilotprojekt testen.

Während die einen weiterhin nationalen Egoismen folgen und die Abschottung vorantreiben, sind andere längst aktiv geworden. Vor wenigen Wochen lud ein Netzwerk aus AktivistInnen Leoluca Orlando, den Bürgermeister von Palermo, zu einer Konferenz mit Organisationen aus ganz Europa ein. Ende Juli soll in Neapel – diesmal auf Einladung des dortigen Bürgermeisters – das Folgetreffen stattfinden: mit Palermo und Barcelona, zudem wahrscheinlich Berlin und Bari. Antworten weiterer europäischer Städte – darunter auch einige in der Schweiz – stehen noch aus.

«Das ist ein wirklich guter Anfang», sagt der Aktivist Davide Carnemolla, Mitglied des Netzwerks Welcome to Europe (W2EU) in Italien. «Ich hoffe, dass die Städte in dieser desolaten Situation zu Push-Faktoren werden: zu einer starken Stimme all jener, die mit der tödlichen Politik der Staaten nicht einverstanden sind.» Entstehen soll bei dem Treffen eine schlagkräftige Allianz, die in der Lage ist, Druck auf die Nationalstaaten auszuüben. «Damit die Städte ihre Häfen öffnen und Geflüchtete willkommen heissen können», hofft Carnemolla.

Dass sich auch Schweizer Städte solidarisch zeigen und anbieten, Geflüchtete von den Rettungsschiffen aufzunehmen, ist bisher nicht bekannt. Man plane dazu keine speziellen Massnahmen, heisst es etwa aus dem Departement der Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch. Von der Konferenz in Neapel habe man keine Kenntnis.