WM-Mania: Renten: Sozialpolitisches Zusammenspiel

Nr. 27 –

Wer in Russland am 1. Juli die Abendnachrichten der wichtigsten staatlichen Fernsehsender verfolgte, durfte sich ungetrübt dem Sieg der russischen über die spanische Fussballnationalmannschaft hingeben. Dass am selben Tag landesweit in 45 Städten Tausende lautstark gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters protestiert hatten, war den WortführerInnen keine Silbe wert. Ohnehin waren die WM-Austragungsstätten von den Protesten ausgenommen: Starke Einschnitte in das Versammlungsrecht machen dort kurzfristig angekündigte Aktionen unmöglich. Politik und Sport existieren in getrennten Welten und ergänzen sich doch auf wundersame Weise.

Pünktlich zum WM-Auftakt, als Russland aus dem Heimspiel gegen Saudi-Arabien als Sieger hervorging, kündigte Premierminister Dmitri Medwedew eine Rentenreform an. Diese Symbolik spricht Bände. Mitte Juli geht der entsprechende Gesetzesentwurf in die erste Lesung, die Verabschiedung wird für den Herbst erwartet. Dabei soll die Altersgrenze für Frauen von 55 auf 63 Jahre und für Männer von 60 auf 65 Jahre angehoben werden. Angesichts des unterfinanzierten Rentenfonds sei das unumgänglich, so die Argumentation der Regierung. Doch Alternativen – etwa ein Defizitausgleich durch die Anhebung der vor einigen Jahren gesenkten Gewinnsteuer oder die Einforderung nicht geleisteter Beitragszahlungen – stehen gar nicht erst zur Debatte.

Dabei sind nach Schätzungen der russischen Akademie für Volkswirtschaft vierzig Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in der Schattenwirtschaft beschäftigt. Zudem geht ein knappes Viertel der 43 Millionen RentnerInnen einer geregelten Lohnarbeit nach, da die geringe Durchschnittsrente von umgerechnet etwas über 200 Franken nur ein höchst bescheidenes Auskommen bietet. Bezeichnend ist überdies, dass durch Frührentenmodelle privilegierte Angehörige der Sicherheitsapparate von der geplanten Reform ausgenommen sind.

Hinter der Massenmobilisierung gegen die Rentenreform steht eine breite Koalition: der grosse Gewerkschaftsverband FNPR, die kleinere Konföderation der Arbeit KTR, alle im Parlament vertretenen Parteien ausser der Regierungspartei Einiges Russland – und auch der nationalistische Antikorruptionspolitiker Alexei Nawalny. Das im russischen Kontext seltene Zusammenspiel politischer und sozialer Forderungen birgt für den Kreml die Gefahr, dass die Opposition über ihre übliche Klientel hinaus an Popularität gewinnt – russische Fussballerfolge hin oder her.