WM-Mania: Fussball und Politik: Das sowjetische Derby

Nr. 24 –

Die Rivalität der grossen Moskauer Fussballmannschaften Spartak, Dynamo und ZSKA ist legendär. Sie nährt sich noch heute von den Erinnerungen an den Stalinismus – und Entwicklungen in den Frühzeiten der Sowjetunion.

Am 4. September 1956 lockte der Klassiker Dynamo Moskau gegen Spartak Moskau gut 100 000 Menschen in das nagelneue Lenin-Stadion im Stadtteil Luschniki. Die Begegnung der beiden Anwärter um die sowjetische Meisterschaft, die Spartak schliesslich für sich entscheiden sollte, endete 1:1. Das Ereignis war intensiver, als dieses Ergebnis vermuten lässt. Die Polizeimannschaft Dynamo traf auf das populärste Team der Stadt. Auf Tribünen und Zugängen kam es zu Handgemengen. Einige ZuschauerInnen wurden zum Teil schwer verletzt. In der zweiten Hälfte warfen Fans Flaschen aufs Spielfeld. Verschiedene Spartak-Spieler, darunter die Stars Igor Netto, Sergei Salnikow und Nikita Simonjan, stachelten das Publikum mit den Armen an. Nach dem Schlusspfiff kam es inner- und ausserhalb des Stadions zu Schlägereien.

Das war keine Ausnahme. In den ersten Jahren nach dem Tod des Diktators Josef Stalin hatten sowjetische Behörden Fussballereignisse häufig nicht im Griff. Das lag auch in der sowjetischen Geschichte begründet. Die Bevölkerung hatte von den zwanziger bis in die fünfziger Jahre massiv Gewalt erfahren. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte es Jahre gedauert, bis die Bolschewiki unter Lenin den blutigen russischen Bürgerkrieg für sich entscheiden konnten. Nach Lenins Tod folgte Stalins Revolution von oben. Er liess die Landwirtschaft gewaltsam kollektivieren. Millionen vermeintliche wie tatsächliche GegnerInnen seiner Herrschaft verschwanden in Zwangsarbeitslagern. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs war die Sowjetunion zudem durch den von der Geheimpolizei organisierten Grossen Terror geschwächt, der sich gegen FunktionsträgerInnen in der Kommunistischen Partei, dem Staat und dem Militär richtete. Der verlustreiche Sieg im Zweiten Weltkrieg brachte Hoffnung auf einen Neuanfang. Doch es folgten weitere Verhaftungswellen und Kampagnen, ehe der Diktator im März 1953 starb.

Was nach Stalins Tod ein Neuanfang sein sollte, endete zunächst im Chaos. Sowjetische Behörden wollten nun stärker auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen. Im neuen Lenin-Stadion wurde zunächst sogar Alkohol ausgeschenkt. Die Verwaltung nahm aber bald wieder Abstand davon. Auch die sowjetische Polizei – die Miliz – griff in den folgenden Jahren verstärkt in den Stadien ein. Denn der Vorfall vom 4. September 1956 war nur einer von vielen: Am selben Spieltag stürmten bei der Partie zwischen Dynamo Kiew und Torpedo Moskau Teile eines empörten Kiewer Publikums den Platz. 1954 kam es im georgischen Tiflis zu einer Stadionkatastrophe mit mindestens zwanzig Toten. 1955 war es zu Stadionunruhen im armenischen Eriwan gekommen.

Freiheits- und Opfermythos

Diese Häufung von Zuschauergewalt war ein Erbe des Stalinismus. 1956 versuchte sich der Erste Parteisekretär Nikita Chruschtschow an einer verhaltenen Abgrenzung zu seinem Vorgänger, indem er den Terror und Personenkult Stalins in einer Geheimrede kritisierte. Das Hauptstadt-Derby zwischen Dynamo und Spartak Moskau steht in diesem Spannungsfeld: Während sich die AnhängerInnen Dynamos an vermeintlich unpolitischen sowjetischen Siegen im In- und Ausland erfreuten, begannen Fans von Spartak, Identität aus einem eigenen Freiheits- und Opfermythos zu schöpfen, der sich aus der Geschichte der Mannschaft im Stalinismus ableitete.

Das Team, das 1935 den Namen Spartak annahm, entstand 1921 als «Moskauer Sportkreis» im ArbeiterInnenbezirk Krasnaja Presnja. Anders als die meisten anderen neu gegründeten Sportorganisationen der frühen Sowjetjahre gelang es der Klubleitung, durch geschickte Lobbyarbeit der Auflösung zu entgehen. Die wechselnde Zugehörigkeit, unter anderem zu verschiedenen Gewerkschaften, machte die Mannschaft in der ganzen Stadt populär. Mitte der dreissiger Jahre sicherte sich Nikolai Starostin, Mitgründer Spartaks, die Unterstützung des Vorsitzenden des Komsomol, Aleksandr Kosarew. Der Komsomol, die Jugendorganisation der Kommunistischen Partei, war in der Sowjetunion sehr einflussreich. Sowjetische Medien propagierten die Erschaffung eines neuen sowjetischen Menschen. Die Jugend und damit die Jugendorganisation waren hierfür der Schlüssel. Spartak spielte zu diesem Zeitpunkt sein Spiel also nicht gegen die herrschende Ordnung.

Spartak, von den Fans bald «Mannschaft des Volkes» genannt, schien Mitte der dreissiger Jahre politisch etabliert. Die Organisation soll pro Spiel rund tausend Karten an politische Kader, unter anderem an Mitglieder des Zentralkomitees und des Moskauer Stadtsowjets, ausgegeben haben. 1937 siegte die Mannschaft unter grossem Medienrummel gegen eine baskische Auswahl, die durch die Sowjetunion tourte, um für Unterstützung für die republikanische Seite im Spanischen Bürgerkrieg zu werben. Spartak-Gründer Starostins Vision war es, populären Zuschauersport und Entertainment zu bieten, wie er es bei internationalen Begegnungen gesehen hatte. Das stand den Idealen der von der Geheimpolizei gegründeten Dynamo-Sportorganisation diametral entgegen: Deren Leitung sah im Sport ein Vehikel, um den neuen, wehrtüchtigen «Sowjetmenschen» zu erschaffen.

Die Rivalität beider Mannschaften begann auf dem Platz, nahm aber ausserhalb der Stadien zunehmend bedrohliche Züge an. 1938 wandte sich der stalinistische Terror gegen Komsomolchef Aleksandr Kosarew. Er wurde im November 1938 verhaftet und exekutiert. Weitere einflussreiche Personen aus dem Umfeld Spartaks verschwanden. Seit 1937 standen Nikolai Starostin und seine drei Brüder unter Polizeibeobachtung. Sie hatten nun jederzeit mit ihrer Verhaftung zu rechnen. Spartak befand sich in jener Situation, auf die sich die Fans seitdem berufen. Ein erster Versuch, Starostin zu verhaften, scheiterte 1939. Der zweite Versuch 1942 gelang. Es ging hier nicht nur um sportliche Dominanz. Die in der Urteilsbegründung 1943 angeführten Korruptionsvorwürfe waren (wie der Historiker Robert Edelman nach intensiver Quellenarbeit in seiner Studie zu Spartak aufzeigt) wohl nicht einfach aus der Luft gegriffen.

Nach zwei Jahren Haft, mehrjährigem Lageraufenthalt in Sibirien und Verbannung in Kasachstan kehrte Nikolai Starostin erst 1954 nach Moskau zurück, um die Geschäfte Spartak Moskaus erneut zu lenken. Beim Moskauer Derby 1956 reaktivierte allein Starostins Rückkehr die alte Gegnerschaft zwischen Dynamo und Spartak. Viele Spartak-Fans begannen, ihre Mannschaft als unabhängig und frei und bisweilen auch als Opfer des Stalinismus zu mythologisieren: als Mannschaft, die der Vertreterin «des Regimes», Dynamo, die Stirn geboten habe.

Jubeln in flüchtiger Einheit

Anhänger von Dynamo und auch der Armeemannschaft ZDKA (die 1960 in ZSKA umbenannt wurde) sahen dies indes etwas anders. Beide Mannschaften hatten in der Nachkriegszeit ihrerseits an Popularität gewonnen, als ein anderer Moskauer Zweikampf den sowjetischen Fussball in Bann hielt: Armee gegen Innenministerium. 1948 etwa stand Dynamo vor dem letzten Spieltag mit einem Punkt Vorsprung vor ZSKA an der Spitze, als die Mannschaften am 24. September aufeinandertrafen. Spielstand und virtuelle Tabelle wechselten bei dieser packenden Partie ständig. Erst kurz vor Ende der Begegnung gelang dem Armeeteam der Siegtreffer zum 3 : 2. Vor Ort hielt die Mehrzahl des Publikums zu ZDKA, da ehemalige Offiziere und Soldaten in grosser Zahl auf den Rängen waren.

Internationale Begegnungen erhöhten jedoch auch die Popularität von Dynamo Moskau. Sowjetische Fussballfans lauschten 1945 dem Radiokommentar des berühmten Kriegs- und Fussballberichterstatters Wadim Sinjawski, der über Dynamo Moskaus Gastauftritt im dichten englischen Nebel bei Arsenal London berichtete, den die sowjetischen Gäste mit 4 : 3 für sich entscheiden konnten. Durch internationale Erfolge wie diesen verlängerten sich für Fans von ZDKA und Dynamo Kriegspatriotismus und Siegeseuphorie in die friedliche Populärkultur der Nachkriegszeit hinein. Sie bestanden auf den unpolitischen Charakter des Fussballs und betonten im Fall Dynamos die vermeintlich rein «formale» Beziehung der Mannschaft zum Innenministerium. So konnten sie sich mit einer Mannschaft identifizieren, deren Dachorganisation im Stalinismus Verbrechen begangen hatte, mit denen kaum jemand in Verbindung gebracht werden wollte.

Dynamo vs. Spartak im Hinterhof

Auch die Entwicklung des Dynamo-Torhüters Lew Jaschin zu einer Identifikationsfigur ist eine Folge der Öffnung des sowjetischen Sports und der schnellen Erfolge des Fussballs Moskauer Prägung auf internationalem Parkett. Er leitet sich aus der Anerkennung ab, die Jaschin bei ausländischen Auftritten der Nationalmannschaft oder Dynamo Moskaus erfuhr. Gerade Spiele der sowjetischen Nationalmannschaft luden nun ein, in flüchtiger Einheit zu jubeln.

Die grossen Kontrahenten Spartak und Dynamo trafen im Stadion nur wenige Male im Jahr aufeinander. Auf den Höfen Moskaus und in den Gedankenwelten sowjetischer Jugendlicher begegneten sie sich in den fünfziger Jahren täglich. Prügeleien im Stadion reproduzierten den Gegensatz aus Dynamo und Spartak, doch mehr noch galt dies für das Gekicke von Kindern und Jugendlichen in den kleinen Freiräumen der Moskauer Höfe. Die sowjetische Sportpresse schwieg sich zu dieser Rivalität aus. Zu sehr widersprach sie der von der Propaganda proklamierten Vorstellung einmütiger sowjetischer Massen. In der relativen sozialen Abgeschlossenheit Moskauer Milieus reproduzierte sich die Gegnerschaft davon unbenommen. Trotz Pressezensur und omnipräsenter Propaganda gab es einen harten Kern der sowjetischen Fussballkultur, der für Moskauer Jugendliche jeglicher Couleur ohne Einschränkung galt: dass Spartak gegen Dynamo war und Dynamo gegen Spartak.

Manfred Zeller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. 2015 erschien im Stuttgarter ibidem-Verlag sein Buch «Das sowjetische Fieber. Fussballfans im poststalinistischen Vielvölkerreich».