Kommentar zum auslaufenden Hilfsprogramm für Griechenland: Das rettende Ithaka ist noch fern
Griechenland ist aus dem Hilfsprogramm der Europäischen Union entlassen worden. Zu horrenden Kosten. Aber was wäre die Alternative gewesen?
Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hat sich am Dienstag von der Insel Ithaka aus an die griechische Nation gewandt, um den Abschluss der EU-Hilfsprogramme zu würdigen. Symbolisch gesehen war der Heimatort des göttlichen Dulders Odysseus denkbar schlecht gewählt; denn die Odyssee ist für die GriechInnen noch nicht zu Ende, und es stehen noch einige Stürme bevor.
Man wird weiterhin Vorgaben zu den Haushaltszielen erfüllen müssen. Die hohen Primärüberschüsse, die aus dem Staatshaushalt erzielt werden sollen, werden von den meisten ExpertInnen als unrealistische Vorgaben eingeschätzt und schnüren das Land wie eine Zwangsjacke ein. Und es bleibt die strengste Aufsichtsinstanz überhaupt: die Finanzmärkte. Die wollen nicht in die Freudenreden einstimmen und bleiben skeptisch. Entsprechend ist die Ausgabe zweier griechischer Staatsanleihen auf den Herbst verschoben worden. Der Staat müsste gegenwärtig auf eine Zehnjahresanleihe 4,2 Prozent Zinsen zahlen, und das Athener Finanzministerium will den Gang an die Märkte erst riskieren, wenn der Zinssatz unter 3,5 Prozent gefallen ist.
Die finanzielle Stabilisierung wurde mit horrenden sozialen Kosten erkauft. Bei den Institutionen der EU ist allerdings nur wenig Selbstkritik auszumachen. Einzig der französische Vizepräsident der Europäischen Zentralbank (EZB), Benoît Cœuré, räumte kürzlich ein, man habe Griechenland ein zu drastisches Sparprogramm aufgezwungen. Das habe nicht nur die Rezession verschärft, sondern auch die Falschen belastet, nämlich die einfachen SteuerzahlerInnen und ArbeiterInnen.
Ökonomisch gesehen besteht der grösste Erfolg der jetzigen Abschlussvereinbarungen darin, dass die Schuldenrückzahlung um weitere zehn Jahre hinausgeschoben werden konnte. Das ermöglicht eine etwas entspanntere Finanzplanung. Aber der langfristige Schuldendienst ist nicht, wie von Frankreich vorgeschlagen, an die Wirtschaftsentwicklung gekoppelt worden – das lehnten die Zuchtmeister aus Berlin ab.
Und die Verheerungen sind unübersehbar: Noch immer beträgt die Arbeitslosigkeit 20 Prozent, und 35 Prozent der Bevölkerung sind von Armut und sozialer Exklusion bedroht. Der gesetzliche Mindestlohn liegt bei 3,39 Euro und wird real oft noch unterschritten. Das Gesundheitswesen hat stark gelitten.
Dagegen betont Tsipras die wiedergewonnene Selbstbestimmung und den Stolz auf die eigene Verantwortung. Er kann auf einige institutionelle Reformen hinweisen, etwa dass die Rentenkassen vereinheitlicht oder das Statistische Amt und die staatliche Einnahmenverwaltung gegenüber klientelistischen Einflussnahmen unabhängig gemacht wurden.
Doch seine Popularität ist im Keller. In den gegenwärtigen Meinungsumfragen liegt die konservative Nea Dimokratia unter dem Demagogen Kyriakos Mitsotakis deutlich in Führung. Aber was wäre die Alternative gewesen? Das linke Projekt einer sozial gerechten Krisenpolitik, die der Gesellschaft zugleich einen neuen Reformgeist einhaucht, war unter den erstickenden Auflagen von aussen nicht zu realisieren. Heute muss sich die Syriza-Regierung darauf beschränken, in einer Phase ökonomischer Konsolidierung einige sozialpolitische Korrekturen durchzusetzen.
Selbst diese sind jederzeit gefährdet. Auf den 1. Januar 2019 sollte die Regierung eine weitere Rentenkürzung vornehmen. Nun wird versucht, diese zumindest hinauszuzögern. Tsipras gleicht in solchen Anstrengungen dem zum ewigen Steinerollen verdammten Sisyphos. Eine realistische Linke, die in diesen Zeiten ohnehin zur Melancholie verdammt ist, könnte dem ewigen Malocher immerhin ein wenig Respekt entgegenbringen.
Die schmerzhafteste Langzeitfolge der achtjährigen Umschuldungsprogramme ist die Auswanderung der jungen, qualifizierten Leute, die einen langfristigen Aufschwung der griechischen Wirtschaft tragen könnten. Diese Leute sind anders als die früheren «Arbeitsemigranten», die später zurückkehrten, um in Griechenland ein Geschäft aufzumachen oder zumindest ihre Renteneinkommen aus Deutschland oder der Schweiz in die lokale Wirtschaft einzuspeisen. Die heutigen MigrantInnen werden erst zurückkommen, wenn sie vergleichbare Einkommen für ihre beruflichen Qualifikationen erzielen können. Und wenn der Klientelstaat abgebaut ist, der die Karrieren von qualifizierten Leuten blockiert. Bis beides geschafft ist, bis die ausgewanderten Söhne und Töchter wieder nach Ithaka zurückkehren, wird es noch einige Zeit dauern.
Niels Kadritzke schreibt einen regelmässigen Griechenlandblog für «Le Monde diplomatique»: www.monde-diplomatique.de/blog-nachdenken-ueber-griechenland.