Flüchtlingspolitik: Den Horizont erweitern

Nr. 35 –

Schiffe, die Menschen aus Seenot retten, finden keinen Hafen. Politiker, die auf Kosten der Schwächsten um Stimmen buhlen, zwingen Erschöpfte, auf See auszuharren. Mutige Kapitäne, die handeln, während Staaten nichts tun, stehen vor Gericht. Weil sie Geflüchtete in Sicherheit bringen. Was dieser Tage auf dem Mittelmeer aufgeführt wird, ist ein Schauspiel der Barbarei. Der neuste Akt: das Gezerre um ein Schiff der italienischen Küstenwache. Zehn Tage lag die «Diciotti» bei Sizilien vor Anker, bis die katholische Kirche, Albanien und Irland anboten, die Gestrandeten aufzunehmen. Gegen Italiens Innenminister ermittelt nun die Justiz wegen Freiheitsberaubung.

Während vor den Häfen Europas die Humanität in den Fluten versinkt, geht in der Schweiz leise eine Ära zu Ende: In diesem Jahr haben so wenige Menschen um Asyl nachgesucht wie schon lange nicht mehr. Kantone wie private Anbieter schliessen reihenweise Unterkünfte. HelferInnen und Angestellte verlieren ihre Jobs, weil die Unterstützung nicht mehr gebraucht wird. Die Glücklosen dort auf den Schiffen, wir hier vor den leeren Unterkünften, in denen sich staubige Matratzen stapeln. Nebeneinander und zur gleichen Zeit, jedoch weit voneinander entfernt. Wie lässt sich diese Diskrepanz beseitigen? Fünf Vorschläge, die den Horizont erweitern könnten.

Auf dem Höhepunkt des Syrienkriegs, als die Länder an den Aussengrenzen der EU am Rand ihrer Möglichkeiten waren, Berichte über Verbrechen in Libyen zirkulierten, beschloss der Bundesrat Kontingente für Flüchtende. Die Zahlen indes waren mehr als knausrig. Und von den versprochenen 3500 reisten bisher lediglich 2713 ein. Einst forderte sogar BDP-Präsident Martin Landolt die Aufnahme von 50 000 Menschen, heute ist dieser Wunsch nur noch das Echo einer längst vergangenen Zeit. Dass SP-Justizministerin Simonetta Sommaruga zumindest die versprochenen Kontingente ausschöpft, wäre nicht zu viel verlangt. Oder besser noch: Sie würde neue anbieten.

Doch gefordert ist nicht nur der Bund, handeln können auch die Städte. Mehrere deutsche Bürgermeister haben zuletzt angeboten, Flüchtende von den Schiffen zu übernehmen. In Spanien gingen Zehntausende von Menschen auf die Strasse, weil sie mehr Geflüchtete willkommen heissen wollen. Von Zürich bis Biel, von Lausanne bis Aarau werden derzeit parlamentarische Vorstösse eingereicht: mit der Forderung, sich doch unter die solidarischen Städte zu reihen. Wie wäre es da, wenn eine mutige Stadtpräsidentin vor die Kameras träte und vom Bund forderte, Menschen in Not Schutz zu gewähren? Geld und Platz sind schliesslich genug vorhanden.

Das Dublin-System sorgt in Europa von jeher für eine unfaire Verteilung. Auch die Schweiz versprach, Abhilfe zu schaffen, und übernahm 900 Geflüchtete aus Italien. Als ob nichts wäre, wurden im gleichen Zeitraum mehr als dreimal so viele dorthin zurückgeschafft. Wenn sich das Dublin-System schon nicht abschaffen lässt: Zumindest könnte der Bund die Rückführungen temporär stoppen. Vorgemacht hat es ein anderer Nachbarstaat. 2015 setzte Deutschland das zynische System für Menschen aus Syrien vorübergehend aus.

Schliesslich könnte der Fokus von den Aussengrenzen auch ins Landesinnere rücken. Denn zur Festung Europa gehören auch die Zivilschutzbunker. Sans-Papiers, Personen in der Nothilfe, vorläufig Aufgenommene: Eine Bildungs- und Arbeitsoffensive würde ihnen Beschäftigung bieten und somit ein würdiges Leben ermöglichen. Und wie wäre es, allen, die schon lange da sind, und erst recht denen, die hier geboren sind, langfristig Bleiberecht zu gewähren?

Mindestens 1549 Personen sind in diesem Jahr im Mittelmeer ertrunken. Doch gegen das Sterben regt sich Widerstand. Entstanden ist die Seebrückenbewegung, deren Mitglieder als Warnung Orange tragen: die Farbe von Rettungswesten. Die Leute fordern etwas Simples. Etwas, das bis vor kurzem noch selbstverständlich schien und die dringlichste Forderung wäre: Menschen vor dem Ertrinken zu retten.

«Seebrücke – Schafft sichere Häfen»: Demo am Samstag, 1. September 2018, um 14 Uhr auf dem Helvetiaplatz in Zürich.